Dass die Betreuung und Versorgung von Kindern mit Typ-1-Diabetes aufwendiger ist als bisher von Pflegekassen eingeordnet, wurde Ende letzten Jahres durch ein Urteil anerkannt.
Maria Vogel hat drei Kinder. Ihr ältester Sohn ist acht Jahre alt. Mit fünf wurde bei ihm Typ-1-Diabetes festgestellt. Seither kämpfen die Eltern um eine Höherstufung des Pflegegrads, der bei der Begutachtung auf Stufe 1 festgelegt wurde. „Wir Eltern sind rund um die Uhr im Einsatz“, beschreibt Vogel die Anforderungen:
„Wir begleiten unseren Sohn, wenn er eingeladen ist, planen und überwachen seine Mahlzeiten, nehmen Arztbesuche mit ihm wahr. Ständig sind wir erreichbar, falls er in der Schule oder unterwegs Schwierigkeiten bekommt, zum Beispiel wegen einer Unterzuckerung. Mehrmals pro Woche stehen wir nachts auf, um Traubenzucker zu geben oder die Insulindosis zu korrigieren …“
Bedarfe ganzheitlich betrachten
Die Bedarfe ihrer Kinder fanden viele Eltern im Pflegegutachten bisher nicht gut abgebildet: „Kinder mit Typ-1-Diabetes bekamen in den Modulen 4 und 5 quasi keine Punkte“, sagt Maria Vogel. In diesen zwei der insgesamt sechs Module, in denen die Pflegebedarfe einer Person ausgelotet werden sollen, geht es um die „Selbstversorgung“ der Betroffenen (Modul 4) und den „Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen“ (Modul 5).
„So landeten viele Kinder bei der Antragstellung bei etwa 15 Punkten und wurden im Pflegegrad 1 eingestuft“, weiß Maria Vogel. Hoffnung macht ihr jetzt ein Urteil des Bundessozialgerichts. Im Dezember letzten Jahres urteilte es, dass das enge Verständnis der Begutachtungsregeln nicht den weiter gefassten gesetzlichen Vorgaben entspricht. Denn die fordern eine ganzheitliche Betrachtung der zu pflegenden Person und ihrer Bedürfnisse.
Ängste zählen
Psychische Problemlagen beispielsweise, die durch die Grunderkrankung bedingt sind, sind dem Urteil zufolge bei der Einstufung in einen Pflegegrad zu berücksichtigen. Viele Pflegekassen berücksichtigten bisher zum Beispiel nicht, dass Ängste des Kindes beim Setzen der Kanüle für die Insulinpumpe die Prozedur erheblich erschweren und verlängern können. „Wir brauchen regelmäßig eine dreiviertel Stunde, manchmal kann es auch zwei Stunden dauern“, schildert Maria Vogel.
Das aktuelle Urteil des Bundessozialgerichts stellt nun klar: Es ist nicht erforderlich, dass die Ängste des Kindes auf eine eigenständige (psychische) Erkrankung zurückzuführen sind. Der Mehraufwand der Pflegenden – meistens der Eltern –, der entsteht, weil das Kind sich wehrt, weil es beruhigt und überredet werden muss, ist bei der Festlegung des Pflegegrads für ein Kind mit Typ-1-Diabetes zu berücksichtigen. Das gibt Punkte in Modul 3.
Ernährung überwachen
Auch der erhebliche Aufwand, den Pflegende oft betreiben, damit Kinder unter Insulintherapie die erforderlichen Mengen und Arten an Nahrung zu sich nehmen, soll laut dem Urteil nun beachtet werden. Im Modul 4 („Selbstversorgung“) soll es Punkte geben dafür, dass Pflegende beispielsweise überwachen müssen, ob ein Kind eine zugeteilte Portion auch aufisst.
Dass sie krankheitsbedingte Essvorschriften durchsetzen und das Kind zum Beispiel zu bestimmten Zeiten zum Essen anleiten müssen, gehört zur Therapiebewältigung und wird nun als Pflegebedarf in Modul 5 berücksichtigt. „Schon allein, wenn das Wiegen und Ausrechnen der Kohlenhydratmenge jetzt als Aufwand zählt, entspricht das eher dem tatsächlichen Zeitaufwand, den wir Eltern haben“, sagt Maria Vogel.
Aufwand anerkennen
Dem Einsatz der Eltern trägt unter anderem das Pflegegeld Rechnung, das Eltern eines erkrankten Kindes ab dem Pflegegrad 2 zusteht. „Bisher zahlen wir für die Inklusion unseres Kindes“, sagt Vogel. Ob in Form von Eintrittskosten für die begleitenden Eltern, wenn das Kind eingeladen ist, oder den Kosten für das ständig am Körper zu tragende Mobiltelefon, das häufiger mal kaputt geht und ersetzt werden muss – die Eltern zahlen.
„Und natürlich würde es uns helfen, Verhinderungspflege oder auch bestimmte Reha-Maßnahmen in Anspruch nehmen zu können. Außerdem wird es einfacher, die Individual-Begleitung für das Kind durchzusetzen“, schildert Vogel, die selbst auch beruflich Kinder mit Diabetes in Kita und Schule begleitet.
Teilhabe vollständig umsetzen
Glukosewerte entgleisen, erst recht und häufiger bei Kindern als bei Erwachsenen. „Das passiert aufgrund des Tagesverlaufs, eines Wachstumsschubs, eines sich anbahnenden Infekts, vor Stress – oder auch ohne klar erkennbaren Grund“, erklärt Maria Vogel. Und Menschen sind individuell unterschiedlich. „Diabetes ist nicht gleich Diabetes. Und mit Kindern ist es sowieso immer anders.“ Genau auf diese individuellen und kindlichen Eigenheiten nimmt das Urteil nun Rücksicht.
„Der DDB begrüßt diese Entscheidung sehr“, sagt Vorsitzende Sandra Schneller. „Wir sehen darin endlich eine einheitliche Regelung zum Wohle der Versorgung sehr junger Patienten und deren Angehöriger.“ Bisher wird der Therapieaufwand – von Ängsten im Umgang mit der Therapie bis hin zum Lesen, Schreiben und Rechnen, das die Kinder erst lernen müssen, – von den Pflegekassen und im Umfeld der Familien meist völlig unterschätzt.
„Das Urteil macht aber auch klar, dass die Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes von 2017 immer noch nicht vollständig umgesetzt werden“, ergänzt sie. „Daraus entstehen sehr viele Unsicherheiten und Unwägbarkeiten zum Leid der Familien mit betroffenen Kindern.“ Dabei sind sie allein durch die Krankheit schon enorm belastet. „Das wird sich nun zum Besseren wenden“, hofft Sandra Schneller.
Beitrag erstellt mit freundlicher Unterstützung von Maria Vogel, Inhaberin des Unternehmens SchuBiL
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2025; 73 (6) Seite 60