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Wer in den sozialen Medien in Diabetes-Gruppen unterwegs ist oder den entsprechenden Hashtags folgt, der kennt diese Beiträge: Posts, in denen jemand nach dem Quartalsbesuch beim Diadoc seinen aktuellen HbA1c-Wert mitteilt, gefolgt von unzähligen Kommentaren. Ist der Wert eher hoch, sind es entweder mehr oder weniger zartfühlende Mahnungen vor Folgeerkrankungen oder solidarische Beileidsbekundungen wie: „Mein letzter Wert war auch so hoch, jetzt habe ich den Zucker zum Glück wieder besser im Griff – du schaffst das, Kopf hoch!“ Je niedriger das HbA1c, desto häufiger schreiben die Kommentarschreiber Sätze wie: „Hauptsache nicht mit Hypos erkauft!“ oder „Bei einem HbA1c von 5,6% wäre ich permanent unterzuckert!“
Dabei ist das HbA1c nur ein grober Anhaltspunkt dafür, ob wir in den vergangenen zwei bis drei Monaten in Sachen Diabetes einen guten Job gemacht haben oder nicht. Denn schließlich sagt der Anteil verzuckerter roter Blutfarbstoffe nur etwas darüber aus, welchen durchschnittlichen Blutzuckerwert man in letzter Zeit hatte – nicht aber, welche Schwankungsbreite die Werte hatten. Ein HbA1c von 7,0 Prozent etwa entspricht einem durchschnittlichen Blutzuckerwert von 147 mg/dl (8,2 mmol/l). Das ist nur dann ein erfreuliches Ergebnis, wenn die Werte nie allzu stark von diesem Durchschnitt abweichen. Schwanken sie allerdings wild zwischen 28 mg/dl (1,6 mmol/l) und 430 mg/dl (23,9 mmol/l) hin und her, ohne jemals in der Mitte Halt zu machen, dann kommt als Durchschnitt möglicherweise ebenfalls ein akzeptables HbA1c heraus – doch damit kann niemand ernstlich zufrieden sein.
Ähnlicher Durchschnittswert, aber die linke Kurve gefällt mir trotzdem viel besser!
Seit immer mehr Menschen mit Diabetes Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) nutzen, ist ein neuer Wert auf den Plan getreten: „Zeit im Zielbereich“ oder auf Englisch „Time in Range“ (TIR). Man findet ihn in den Smartphone-Apps oder Software-Auswertungen aller CGM-Systeme, und er gibt an, wie viel Prozent der Zeit sich die gemessenen Glukosewerte in den vergangenen Tagen, Wochen oder Monaten innerhalb eines zuvor definierten Bereichs befunden haben. Den Zielbereich kann man als Nutzer – ggf. mit Hilfe des Diabetesteams – selbst am CGM-Gerät einstellen. Doch da wird es dann schon wieder kniffelig: Was ist denn ein sinnvoller Glukose-Zielbereich?
Auch dieses Thema wird in den einschlägigen Facebook-Gruppen mittlerweile häufig diskutiert. Und zwar immer dann, wenn ein Gruppenmitglied mal wieder ein Torten- oder Balkendiagramm mit seinem persönlichen Ergebnis postet. Der Verlauf dieser Diskussionen ist ziemlich gut vorhersehbar. Erst teilt jemand ein Bild, aus dem hervorgeht, dass seine Glukosewerte z. B. in den vergangenen zwei Wochen zu 85 Prozent der Zeit im Zielbereich lagen, bezogen auf seinen Zielbereich von 90–160 mg/dl (5,0-8,9 mmol/l). Es dauert meist nicht lang, dann trudeln die ersten Kommentare ein. Glückwünsche, Daumen hoch, aber auch Neid: „Wie schaffst du das bloß? Ich komme nie über 55 Prozent!“ Und dann, so sicher wie das Amen in der Kirche, auch Kommentare à la: „Kunststück, bei dem breit gefassten Zielbereich kann das doch jeder! Mein Zielbereich liegt bei 90-120 mg/dl (5,0-6,7 mmol/l)!“ Ich kann bei solchen Diskussionen nur den Kopf schütteln, denn ich verstehe den Ehrgeiz nicht, seine Glukosewerte auf Biegen und Brechen zwischen so engen Grenzen zu halten. Nicht einmal Stoffwechselgesunde haben durchgehend Glukosewerte in einem solch straffen Zielbereich! Warum sollte man sich selbst das Leben unnötig schwer machen, noch mehr kalkulieren als ohnehin schon, noch engmaschiger kontrollieren, noch rascher korrigieren?
Zum Glück haben sich vor einer Weile einmal ein paar internationale Diabetesexperten zusammengesetzt und darüber diskutiert, wie man CGM-Daten standardisiert auswerten kann und welchen Zielbereich man Menschen mit Typ-1-Diabetes, die zunehmend CGM-Systeme nutzen, als Ergänzung oder gar Ablösung für das gute alte HbA1c ans Herz legen sollte. Schließlich waren auch Diabetologen bislang noch eher unschlüssig, welche Schlüsse sie aus den umfangreichen CGM-Daten ziehen sollen: Mit was für einem Kurvenverlauf sollte man zufrieden sein, bei welchen Verläufen sollten sie stutzig werden?
Beim ATTD-Kongress in Wien im Februar 2018 wurde dann ein internationales Konsenspapier dazu verabschiedet. Und das sollten sich meiner Meinung nach ganz besonders auch die Leute mal zu Gemüte führen, die sich in den sozialen Medien mit absurd eng gesteckten Zielbereichen brüsten oder tolle Ergebnisse anderer schlechtreden, nur weil sie einen großzügigeren Zielbereich abgesteckt haben. Ganz allgemein empfehlen die Experten nämlich, einen Zielbereich von 70-180 mg/dl (3,9-10,0 mmol/l) einzustellen. Je nach Alter, Begleiterkrankungen und persönlichem Ehrgeiz kann dieser Zielbereich natürlich auch enger gefasst werden, damit meinen die Experten dann 70-140 mg/dl (3,9-7,8 mmol/l). Doch aus dem Konsens geht klar hervor: Wenn die Glukosewerte sich überwiegend (also mindestens 70 Prozent der Zeit) in diesem Bereich bewegen, dann ist der Diabetologe zufrieden.
Mich hat dieses Konsenspapier enorm beruhigt. Meinen Zielbereich, den ich zuvor auf 80-160 mg/dl (4,4-8,9 mmol/l) eingestellt hatte, habe ich seither auf 70-180 mg/dl (3,9-10,0 mmol/l) angepasst. Denn zum einen habe ich wenig Lust, mir strengere und damit deutlich arbeitsaufwändigere Ziele zu setzen, als die Creme de la Creme internationaler Experten es für notwendig erachtet. Ich verbringe ohnehin schon viel Zeit am Tag damit, über meinen Diabetes sowie die nächsten notwendigen Berechnungen und Therapieschritte nachzudenken. Jede Minute, die ich nicht mit diesem Kram verbringe, ist für mich eine Minute mehr unbeschwerte Lebenszeit. Außerdem ist dieser neue, etwas großzügigere Zielbereich tatsächlich auch der Glukosebereich, außerhalb dessen ich meine Werte in der Regel mit einem Hypohelfer oder mit Insulin korrigiere – zumindest sofern nicht noch ein Bolus wirkt oder ich gleich eine intensive Sporteinheit vor mir habe. Es mag euch vielleicht albern vorkommen, aber wenn ich bei der Auswertung nun sehe, dass meine Glukosewerte statt zuvor etwa 80 Prozent nun in der Regel 90 Prozent der Zeit im Zielbereich sind, dann macht mich das noch einen Tick zufriedener. Und Zufriedenheit ist bekanntlich auch gut für stabile Glukosewerte.
Übrigens: Wer sich eingehender mit der Auswertung von CGM-Profilen und der Einstellung seines persönlichen Zielbereichs befassen möchte, dem kann ich die neue AGP-Fibel aus dem Kirchheim-Verlag empfehlen, wobei AGP für „ambulantes Glukoseprofil“ steht. In dieser Fibel lernt man, was man unter Begriffen wie „Median“, „Interquartil-Bereich“ und „Interdezil-Bereich“ versteht. Klingt komplizierter, als es ist – denn obwohl sich die Fibel vorrangig an Diabetologen bzw. Diabetesberaterinnen richtet, ist die Sprache durchaus auch für Menschen mit Diabetes verständlich. Die AGP-Fibel kann man hier im Online-Shop von Kirchheim bestellen.
Mehr zum Thema “Zeit im Zielbereich” findet ihr auch bei Diabetes-Online.
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