2 Minuten
Manchmal frage ich mich, ob wir manchen Menschen nicht zu viel zumuten oder abverlangen. Der Alltag zeigt immer wieder, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten sehr unterschiedlich sind.
Neulich zum Beispiel war ich zu Besuch bei einem Verwandten, der einen Doktortitel hat, aber nicht in der Medizin. Dieser Doktortitel steht seit Urzeiten, er ist bereits in einem sehr hohen Lebensalter, auch in seinem Eintrag im Telefonbuch. Sein Telefon klingelte, eine ältere Dame war am anderen Ende der Leitung. Sie begann sofort, von chronischen körperlichen Beschwerden zu berichten, und bat um einen Termin, um ärztliche Hilfe zu bekommen. Verwirrt ob dieses Ansinnens gab mein Verwandter ihr die Information, dass er kein Arzt sei – die Dame beharrte aber darauf. Ich übernahm daraufhin den Hörer, um zu klären, wie diese Annahme zustande gekommen war. Die Antwort: Im Telefonbuch stünde doch der Doktor, dann müsse er doch Arzt sein … Nach Tipps meinerseits, wie sie tatsächlich an ärztliche Hilfe gelangen könnte, dankte sie und wir beendeten freundlich das Gespräch.
Dieses Ereignis ist nur ein Erlebnis, das mir wieder einmal gezeigt hat: Jemand, der eine höhere Bildung hat, darf nie davon ausgehen, dass andere Menschen mit geringerer Bildung und möglicherweise geringeren Fähigkeiten alles so verstehen, wie ich es verstehe. Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit, aber der Alltag zeigt, dass wir es uns immer wieder vor Augen führen müssen. Denn wenn ich an Behörden-Deutsch denke, fällt es selbst mir manchmal schwer, alles in diesen Dokumenten zu verstehen.
Die unterschiedlichen Fähigkeiten haben natürlich auch Einfluss darauf, wie Menschen mit ihrer Gesundheit umgehen. Wenn ich mir die verfügbaren Schulungs-Programme für Menschen mit Diabetes ansehe, sind sie inzwischen sehr interaktiv, sie regen zum Mitmachen an. Aber sie enthalten immer noch viel Text und – gerade bei Schulungen für komplexe Insulin-Therapien – viele Rechen-Formeln. Wer zum Beispiel in der Schule nie den Dreisatz verstanden hat, wird auch hier nicht weiterkommen. Ich denke, wir müssen im Sinne der Inklusion unser akademisches Niveau verlassen und uns bei allem, was wir für andere tun, wirklich in die Menschen hineindenken, die eben weniger können. Das würde allen weiterhelfen!
von Jana Einser
Das Team für den guten Schluss: Dr. Hans Langer arbeitet als Arzt in einer Diabetesklinik, Jana Einser hat schon seit Kindertagen Typ-1-Diabetes und Alex Adabei hat viele Bekannte und Verwandte mit Typ-2-Diabetes. Sie schreiben abwechselnd für diese Kolumne.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (10) Seite 82
Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
Beliebte Themen
Ernährung
Aus der Community
Push-Benachrichtigungen