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Ängste vor zu hohen oder zu niedrigen Glukosewerten können nützlich sein, wenn sie dazu führen, bei Schwankungen angemessen zu reagieren. Sie können aber in übersteigerter Form zur Folge haben, dass Sie eine gute Stoffwechseleinstellung nur erschwert erreichen und Ihr Wohlbefinden beeinträchtigt ist. Wie erkennt man dies, wie steuert man gegen?
Viele Menschen mit Diabetes wollen Glukosesensoren nicht mehr missen. Solche Sensoren ermöglichen, den Glukoseverlauf besser im Blick zu behalten und rechtzeitig auf Änderungen zu reagieren. Andererseits: Fühlen Sie sich nicht manchmal durch das häufige Zuckerfeedback gestresst? Kommt es vor, dass Sie beim Anblick des Displays in Angst geraten und überreagieren?
Bei einem beliebigen Sensorwert mit Pfeil nach unten liegt der tatsächliche Blutzuckerwert tiefer, da die Gewebeglukose der Blutglukose quasi hinterherhinkt. Das Gefühl der Sorge ist bei einem kritischen Wert sogar nützlich: Die Sorge aktiviert und veranlasst Sie, eine Unterzuckerung zu verhindern.
Umgekehrt ermöglicht die Angst, bei einem hohen Sensorwert mit Pfeil nach oben innezuhalten, um angemessen zu reagieren. Der Drang zum bedachten Gegensteuern je nach Wert und Pfeilrichtung ist aus diabetologischer Sicht durchaus sinnvoll.
Studien zeigen, dass bei starken Schwankungen Betroffene mehr Zeit in Unter- und Überzuckerungen verbringen. Gleichzeitig können Unterzuckerungen „Folgeunterzuckerungen“ nach sich ziehen. Ebenso erschweren starke Schwankungen die Einstellbarkeit des Diabetes erheblich.
Ängste neigen dazu, sich zu verselbstständigen. Es gibt keine klare Trennlinie, ab welcher Ausprägung Ängste bei Glukoseschwankungen unberechtigt sind. Sie sind jedoch sicherlich übersteigert, wenn die Angst eine gute Blutzuckereinstellung erschwert und Sie in Ihrem Wohlbefinden stark beeinträchtigt.
Das gilt zum Beispiel in folgenden Fällen:
Beim Gebrauch von Sensoren müssen Sie viele Informationen (wie Glukosewert, Richtung des Trendpfeils, aktives Insulin) verrechnen und können dabei leicht den Überblick verlieren. Wissen Sie z. B., um wie viel mg/dl (mmol/l) Ihr Glukosewert bei verschiedenen Pfeilrichtungen und Stärken (1 – 3 Pfeile) pro Minute steigt oder fällt?
Eine Schulung (z. B. mit FLASH oder SPECTRUM), das permanente Üben sowie das Sammeln von Erfahrungen helfen, die Glukosekurven „lesen zu können“, Sicherheit zu gewinnen und Ängste abzubauen.
Um Schwankungen wirksam regulieren zu können, sind genaue Messwerte das A und O. Ungenaue Werte sind ein Nährboden für Unsicherheit und Angst. Dann laufen Sie Gefahr, falsche Therapieentscheidungen zu treffen und die Schwankungen zu vergrößern. Bei Verwendung eines Sensors sollten Sie daher regelmäßig Ihren Blutzucker gegenchecken und überprüfen, wie genau Ihr System misst.
So können Sie bei jedem Sensorwert die tatsächliche Blutzuckerhöhe besser abschätzen. Eine Anleitung zur Ermittlung der Sensorgenauigkeit finden Sie über den Info-Kasten links. Bei Verwendung eines CGM-Systems mit Kalibrierbedarf tragen Sie durch regelmäßiges Kalibrieren dazu bei, Messungenauigkeiten und damit Fehlentscheidungen zu verhindern.
Versuchen Sie, die Ursachen von Schwankungen herauszufinden, um sie möglichst zu beseitigen. Dazu zählen z. B. Hautveränderungen (Lipohypertrophien oder „Lipos“) bei fehlendem Spritzstellenwechsel, Naschen nebenbei, Bolusgaben nach Gefühl oder unpassende BE-/KE-Faktoren und Korrekturregeln.
Überprüfen Sie jeweils nur eine Ursache, da das gleichzeitige „Drehen an mehreren Schrauben“ verhindert, die Gründe für Ihre Schwankungen herauszufinden. Besprechen Sie Ihre Erfahrungen mit Ihrem Diabetesteam.
Versuchen Sie, sich für kritische Displayanzeigen (steigende/fallende Trendpfeile und grenzwertige Glukosewerte) Routinen anzueignen und diese einzuüben. So können etwa bei drohenden Unterzuckerungen abgepackte Gummibärchen helfen, die Kohlenhydratmenge zu begrenzen. Damit verhindern Sie Essattacken und starke Glukoseanstiege. Legen Sie mit Ihrem Diabetesteam auch fest, wann Sie nach dem letzten Insulinbolus wieder korrigieren sollten (meist nach ca. 2 – 4 Stunden).
Das Verwenden eines Bolusrechners hilft, die Menge des aktiven Insulins abzuschätzen. Hilfreich sind auch die Empfehlungen einer Expertengruppe zur Dosisanpassung bei unterschiedlichen Glukosehöhen und -trends („Score-Card“, siehe Info-Kasten rechts). Besprechen Sie mit Ihrem Diabetesteam, inwieweit Sie dieses Raster anwenden können.
Vielleicht versetzen Sie manche Glukoseanstiege, z. B. nach einer Mahlzeit, immer wieder in Unruhe. Dahinter steckt häufig die Befürchtung, dass mit jedem erhöhten Wert Folgeerkrankungen ein Stück näherrücken. Wenn Sie dann zu rasch Korrekturinsulin geben („Angstbolus“), kann es zu Wirküberlappungen verschiedener Insulinboli kommen. Ihre Glukosewerte kommen dann nicht mehr zur Ruhe – und Sie auch nicht.
Versuchen Sie daher, auch wenn es schwerfällt, die Angst auszuhalten und festzustellen, dass sich auch ohne Korrektur der Wert wieder normalisiert. Zur Bewältigung der Angst gibt es Methoden wie Atem- oder Entspannungsübungen, Instruktionen an sich selbst, um die Angst auszuhalten (z. B. sich auf eine andere Tätigkeit zu konzentrieren oder erst nach längerer Zeit wieder zu messen). Finden Sie heraus, wie Sie die Angst bei Schwankungen am besten bewältigen können.
Vielleicht haben Sie einmal erlebt, dass bei fallendem Pfeil die Kohlenhydrate nicht ausreichten, um eine Hypoglykämie abzufangen. Seither neigen Sie vielleicht dazu, zu früh mit Kohlenhydraten gegenzusteuern. Der Erfolg einer verhinderten Unterzuckerung wirkt dann jedes Mal wie eine Bestätigung, so dass daraus eine Gewohnheit wird.
Wenn Ihr HbA1c deshalb dauerhaft erhöht ist, sollten Sie aus der Verhaltenslogik ausbrechen. Nur so können Sie die Erfahrung machen, dass Sie es auch bei Werten nahe 100 mg/dl (5,6 mmol/l) schaffen, eine Unterzuckerung erfolgreich abzuwenden.
Ertappen Sie sich manchmal beim Wunsch, eine möglichst gerade Glukoselinie anzustreben – oder neigen zu Perfektionismus? Halten Sie sich vor Augen, dass es auch bei Menschen ohne Diabetes zu Schwankungen und sogar zu leichten Unterzuckerungen kommen kann. Ihr Diabetologe wäre zufrieden, wenn sich 70 Prozent Ihrer Sensorwerte im Bereich von 70 – 180 mg/dl (3,9 – 10,0 mmol/l) befinden. Auch mit den verbleibenden Ausreißern hätten Sie dann immer noch eine gute Diabeteseinstellung.
Gelingt es Ihnen nicht, übersteigerte Ängste bei Glukoseschwankungen zu bewältigen, sollten Sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Es gibt eine Reihe wirksamer psychotherapeutischer Hilfen, mit denen sich übersteigerte Ängste gut behandeln lassen.
von Dr. Berthold Maier
Diplom-Psychologe, Diabetes Zentrum Mergentheim
Theodor-Klotzbücher-Str. 12, 97980 Bad Mergentheim
E-Mail: maier@diabetes-zentrum.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2020; 69 (2) Seite 26-28
5 Minuten
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