Beginn mit Verzögerungs-­Insulin zur Nacht bei Typ-2-Diabetes

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Beginn mit Verzögerungs-­Insulin zur Nacht bei Typ-2-Diabetes

Medizinische Leitlinien sollen Ärztinnen und Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe helfen, Entscheidungen im Praxis-Alltag zu treffen. Für Patientinnen und Patienten gibt es spezielle Patientenleitlinien, damit auch sie von diesen wissenschaftlich gesicherten Informationen profitieren können.

Wann und wie sollte man mit der Insulin-­Behandlung bei Menschen mit Typ-2-Diabetes beginnen? Seit es den Blutzucker senkende Tabletten gibt, hat man Insulin immer erst eingesetzt, wenn trotz der Gabe der verschiedenen verfügbaren Medikamente der Blutzucker nicht zufriedenstellend gesenkt werden konnte. Dabei wurden bis zu zwei, manchmal drei verschiedene Medikamente eingesetzt.

Wenn man sich dann zur Insulin-Behandlung entschloss, begann man mit Misch-Insulin vor dem Frühstück. Wenn dies nicht ausreichte, kam noch Insulin am Abend hinzu. Eine andere Form, mit der Insulin-Behandlung zu beginnen, ist die Gabe von Normal-Insulin vor den Hauptmahlzeiten, das bei Bedarf mit der Gabe von Verzögerungs-Insulin vor dem Schlafengehen ergänzt wurde.

Beginn mit Verzögerungs-Insulin zur Nacht

Eine dritte Möglichkeit, bei Menschen mit Typ-2-Diabetes mit der Insulin-Behandlung zu beginnen, ist es, zunächst nur Verzögerungs-­Insulin vor dem Schlafengehen zu spritzen. Ist der Insulin-Bedarf noch sehr gering, kann dies ausreichen, um den Blutzucker-­Spiegel in den gewünschten Bereich zu bringen. Wenn die Insulin-­Bildung in der Bauchspeicheldrüse weiter zurückgeht, wird Verzögerungs-Insulin auch am Tag nötig. In dieser Form wird die Insulin-­Behandlung jetzt häufiger begonnen. Das liegt daran, dass neuere Studien gezeigt haben, wie erfolgreich dieses Vorgehen über mehrere Jahre sein kann.

Die GRADE-Studie

Dem Diabetes-Forscher Prof. Dr. David Nathan in Boston ist es zu verdanken, dass die US-amerikanische Regierung eine große Studie finanzierte. Die Frage war: Was tun, wenn Metformin allein nicht mehr ausreicht?
Untersucht wurden die Wirkstoffe Glimepirid, Insulin glargin (ein Verzögerungs-Insulin), Linagliptin und Liraglutid bei 5000 Menschen mit Typ-2-Diabetes, die bereits mit Metformin behandelt wurden. Am häufigsten und für die längste Zeit gelang es mit einer kleinen Dosis von Insulin glargin, den HbA1c-Wert unter 7,5 % zu halten. Die Behandlung mit Insulin vor dem Schlafengehen führte bei sachgerechter Schulung und Dosierung nicht häufiger zu Unterzuckerungen als die Behandlung mit dem Sulfonylharnstoff Glimepirid.

Bisher versuchte man fast ausschließlich, zunächst zum Metformin ein weiteres Medikament zu geben. Nun hat die GRADE-Studie gezeigt: Auch die Gabe einer geringen Dosis Verzögerungs-Insulin zur Nacht schon zu einem früheren Zeitpunkt ist eine sehr wirksame und sichere Behandlung.

Auch deutsche Studie zeigte gute ­Erfolge

Das Team von Dr. Bernardo Mertes vom Car­dio­angio­logischen Centrum Bethanien in Frankfurt am Main und Mitarbeiter der Universität Jena veröffentlichten eine Untersuchung von 272 Menschen mit Typ-2-Diabetes mit einer Beobachtungszeit bis zu 10 Jahren. Bei allen wurde die Insulin-Behandlung mit Verzögerungs-Insulin zur Nacht begonnen. Als Verzögerungs-Insulin wurde in dieser Studie ausschließlich NPH-Insulin eingesetzt, bei der GRADE-Studie benutzte man ausschließlich Insulin glargin; NPH steht für Neutrales Protamin Hagedorn und ist ein Verzögerungs-Stoff.

Die Ergebnisse waren gleich: Recht lange Zeit ließ sich allein mit Verzögerungs-Insulin vor dem Schlafengehen zusätzlich zu Metformin eine zufriedenstellende Einstellung erreichen. Zu schweren Unterzuckerungen kam es nicht, auch nicht zu einer Gewichts-Zunahme, die Patienten nahmen sogar ein wenig ab. Im Lauf der Zeit reichte wie bei der GRADE-Studie eine geringe Dosis Verzögerungs-Insulin zur Nacht nicht mehr aus und auch tagsüber wurde Insulin nötig.

Welche Vorteile gibt es?

Die Insulin-Therapie mit einer abendlichen Gabe von Verzögerungs-Insulin zu beginnen, hat gegenüber einer Insulin-Therapie tagsüber eine Reihe von Vorteilen: Es kann kaum zu Unterzuckerungen kommen, wenn die Dosis des Insulins richtig gewählt wurde. Anders als bei Gabe von Verzögerungs-Insulin tagsüber können die Betroffenen essen, wann sie möchten, und Mahlzeiten auch ganz weglassen. Eine Gewichts-Zunahme ist deshalb kaum zu befürchten. Auch führt mehr Bewegung kaum zu Unterzuckerungen, ein Spaziergang am Nachmittag macht keine Probleme. Ein Vorteil ist auch, dass diese Behandlung etwas länger wirksam bleibt als die Gabe von Tabletten, die den Blutzucker-Spiegel senken.

Patienten entscheiden mit

Neue Leitlinien empfehlen eine „partizipative Entscheidungsfindung“. Das bedeutet, dass den Betroffenen alle Vor- und Nachteile einer Behandlungs-­Möglich­keit im Einzelnen verständlich erklärt werden und dass dann die Patienten an der Entscheidung „partizipieren“, also einen bestimmenden Anteil daran haben.

Bei der Behandlung des Typ-1-Dia­be­tes gibt es zum zweifelsfrei Lebens-rettenden Insulin keine Alternative. Bei Typ-2-Diabetes ist das viel komplizierter. Es gibt verschiedene Behand­lungs-­Möglich­keiten, bis im Lauf der Jahre eine Insulin-Behandlung unvermeidbar wird. Bei der Entscheidung, welche Behandlung zunächst gewählt wird, spielen auch die Wünsche der Betroffenen eine sehr große Rolle.

In der Studie von Mertes entschieden sich 373 von 1240 Menschen mit Typ-2-Diabetes, zur Nacht Verzögerungs-Insulin zu spritzen, nachdem die alleinige Gabe von Metformin nicht mehr ausgereicht hatte. Die Insulin-­Gabe kommt besonders für Menschen in Betracht, bei denen eher ein Insulin-Mangel im Vordergrund steht. Menschen mit erheblichem Übergewicht, die noch viel eigenes Insulin haben, wird man eher zu einer Behandlung mit Liraglutid raten. Und denjenigen, bei denen erhebliche Herz- oder Nieren-Erkrankungen bestehen, wird man Medikamente nahelegen, die in solchen Fällen Erfolge gezeigt haben.

Was ist bei der Insulin-Dosierung zu beachten?

Die Empfehlungen, mit wie vielen Einheiten Insulin man beginnen sollte, sind unterschiedlich. In der Studie von Mertes wurde mit 8 Einheiten Verzögerungs-Insulin vor dem Schlafengehen begonnen. Die Patienten erlernten die Blutzucker-Selbstkontrolle und testeten den Blutzucker zu Beginn dieser Behandlung zwei Nächte lang vor dem Schlafengehen, um 2 und 5 Uhr nachts und um 7 Uhr morgens, um die Wirkung des gespritzten Verzögerungs-Insulins zu beurteilen. Dies muss später auch dann geschehen, wenn die Insulin-Dosis erhöht werden sollte, um nächtliche Unterzuckerungen zu verhindern. In einer weiteren Untersuchung wurde bei über 1000 Patienten durch Messen der nächtlichen Blutzucker-Werte die Startdosis von NPH-Insulin zur Nacht ermittelt, die erforderlich und sicher war. Optimal waren 0,1 Einheiten pro Kilogramm (kg) Körpergewicht, also zum Beispiel 8 Einheiten bei einem 80 kg schweren Patienten.

Behandlung einfach und wirksam

Später sind Blutzucker-Selbstmessungen nur selten nötig. Auch das genaue Abschätzen des Kohlenhydrat-Gehalts der Nahrung ist unter dieser Behandlung nicht notwendig. Allerdings wird man dazu raten, weniger Kohlenhydrat-haltige „Sättigungsbeilagen“ wie Kartoffeln, Reis und Nudeln und weniger Süßigkeiten zu essen. Diese für die Patienten sehr einfache und wirksame Behandlung lässt sich im Mittel über vier Jahre fortführen, bis auch tagsüber Insulin notwendig wird.

Im Kirchheim-Verlag wird dieses Jahr das Buch „Bedarfsgerechte Insulinbehandlung bei Typ-2-Diabetes“ erscheinen, das diese Form der Insulin-Behandlung bei Typ-2-Diabetes genau erklärt und auch darstellt, wie die Behandlung weitergeführt wird, wenn die alleinige Gabe von Verzögerungs-Insulin zur Nacht nicht mehr ausreicht.

Schwerpunkt „Neue Erkenntnisse bei Diabetes“

Autor:innen:

Dr. med. Viktor Jörgens
Director EASD/EFSD (1987 bis 2015)
E-Mail: Dr-Viktor-Joergens@t-online.de

Dr. Monika Grüßer
European Association for the Study of Diabetes (EASD)
Managing Director and Chief Medical Officer
Rheindorfer Weg 3, 40591 Düsseldorf, Germany
E-Mail: secretariat@easd.org

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (5) Seite 30-31

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  • Hey, brauche Eure Hilfe. Habe den G7 genutzt. Als der über mehrere Monate (Frühjahr/Sommer 2025) massive Probleme (teils Abweichungen von 150 mg/dL, Messfaden schaute oben heraus) machte bin ich zum G6 zurückgegangen. Dessen Produktion wird nun eingestellt. Ich habe solche Panik, wieder den G7 zu nutzen. Habe absolut kein Vertrauen mehr in diesen Sensor. Aber mit meiner TSlim ist nur Dexcom kompatibel. Ich weiß nicht was ich machen soll, ich habe solche Angst.

    • Mit “meinem” Omnipod 5 wird der Dexcom G7 Ende 2026 voraussichtlich der einzige verfügbare Sensor sein.

      So richtig begeistert über die Einstellung des G6 bin ich auch nicht, auch wenn es absehbar war.
      Ich habe einfach die Hoffnung, dass die Qualitätsprobleme beim G7 bis dahin ausgestanden sind.

      Ich warte das Thema noch einige Monate ab.
      Wenn ich Ende 2026 feststelle, dass die Kombination aus meiner Pumpe und dem CGM für mich nicht funktioniert, bin mir sicher, dass meine Diabetes-Ärztin und ich eine gute Lösung für mich finden.

      Hier habe ich aufgeschnappt, dass für die t:slim wohl eine Anbindung des Libre 3 in der Mache ist:
      https://insulinclub.de/index.php?thread/36852-t-slim-mit-libre-3-wann/
      Leider steht keine überprüfbare Quelle dabei. 🤷‍♂️

      Ein weiterer mir wichtiger Gedanke:
      Angst und Panik sind in diesem Zusammenhang vermutlich keine hilfreichen Ratgeber. Hoffentlich schaffst Du es, dem Thema etwas gelassener zu begegnen.
      (Das sagt der Richtige: Ich habe in meinem letzten DiaDoc-Termin auch die Hausaufgabe bekommen, mal zu schauen, was mir gut tut.)

    • @ole-t1: Hey Ole, ganz lieben Dank für Deine Nachricht. Die Produktion des G6 endet laut einem Artikel auf dieser Seite ja zum 1. Juli 2026. Wann der Libre3 mit der TSlim kompatibel sein wird weiß man ja noch nicht. An sich gefällt mir Dexcom auch besser als Libre und die erste Zeit lief der G7 ja auch super bei mir. Ich kann mir schwer vorstellen, dass der G7 von heute auf Morgen nicht mehr bei mir funktioniert? Es gab ja auch das Gerücht das Dexcom eine zeitlang Produktionsprobleme hatte, dass wäre ja eine Erklärung, aber da geht Dexcom natürlich auch nicht mit hausieren.

    • @bloodychaos: Moin, ich benutze den G 7 seit Dezember 2022 (vorher G 6). Seit Dezember 2024 in Kombination mit der t:slim X 2 Ja, es hat immer mal wieder einen Sensor gegeben, der nicht richtig funktioniert hat . Dann wurde ein neuer gesetzt, der Vorfall an Dexcom gemeldet und es gab dann wenige Tage später einen neuen Sensor.
      Wie ole-t1 schon geschrieben hat, erst einmal die Ruhe bewahren und nicht in Panik verfallen. Alle auf dem Markt erhältlichen Sensoren haben Schwankungen in der Genauigkeit ihrer Angaben. Wichtig ist daher zu beurteilen, ob das, was der Sensor anzeigt, überhaupt sein kann.
      Zum Beispiel durch blutiges Nachmessen (dabei bitte dran denken, dass der Gewebezucker, den die Sensoren messen, rd. 20-30 Minuten hinter dem Blutzucker hinterher hinkt).

  • loredana postete ein Update vor 5 Tagen, 9 Stunden

    Die Registrierung mit dem Geburtsjahr war echt sportlich. Wollte es schon fast wieder abbrechen.

  • ambrosia postete ein Update vor 6 Tagen, 7 Stunden

    Ich wünsche allen einen schönen Mittwoch.

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