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Die Meinungen und Aspekte waren vielfältig, das Fazit eindeutig: Bei der ersten digitalen Ausgabe der Diskussionsrunde „Diabetes 2030“ legten die teilnehmenden Expert:innen dar, welchen Brennglaseffekt das Corona-Virus hat und wie Menschen mit Diabetes in Pandemie-Zeiten gut und sicher versorgt werden können.
Normalerweise findet die vom Unternehmen Novo Nordisk initiierte gesundheitspolitische Vernstaltungsreihe „Diabetes 2030“ einmal im Jahr als Podiumsdiskussion in der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin statt. Doch derzeit ist aufgrund der Corona-Virus-Pandemie bekanntermaßen alles anders – und so wurde das Event dieses Jahr ohne anwesendes Publikum per Live-Stream aus der dänischen Vertretung in der Bundeshauptstadt übertragen – der Titel: „Nach dem Corona-Schock: Diabetestherapie zwischen COVID-19 und Regelversorgung“.
Denn eine zuverlässige und effiziente Versorgung von Menschen mit Diabetes in Deutschland ist zentral – während und außerhalb von Pandemie-Zeiten. „In diesem Jahr hat Corona die Versorgungssituation erheblich verschärft“, resümierte Prof. Dr. Diethelm Tschöpe. „Diabetes und Herzerkrankungen, das sind die zwei Seiten der Medaille“, erklärte der Klinikdirektor im Bad Oeynhausener Herz- und Diabeteszentrum NRW und Vorsitzender der Stiftung Der herzkranke Diabetiker und macht gleich zu Anfang der Veranstaltung deutlich, wo eines der Hauptprobleme in der aktuellen Situation liegt:
Kommt zu einem bestehenden Diabetes eine Herzerkrankung hinzu, dann ist das Risiko für schwere und komplizierte Krankheitsverläufe bei einer COVID-19-Infektion erhöht [1]. „Corona kann einen Menschen mit Diabetes zu einem Intensivpatienten machen“, betonte Prof. Tschöpe und forderte: „Diesen Prozess gilt es zu unterbrechen.“ Wichtig sei es, noch genauer als sonst hinzuschauen, wobei eine gute Blutzuckereinstellung eine zentrale Rolle spiele. „Sie ist ein wesentlicher Parameter, um schwere Verläufe zu verhindern und Patienten in einer angemessenen Weise durch eine Corona-Infektion zu leiten.“
Für Bastian Hauck, Gründer der Online-Community #dedoc° und selbst Mensch mit Typ-1-Diabetes, geht die Risikodiskussion allerdings über das potenzielle Risiko für schwere Verläufe hinaus: So trage ihm zufolge die Einstufung als Risikopatient:innen in der öffentlichen Wahrnehmung maßgeblich dazu bei, dass die Patienten:innen nicht zum Arzt gingen, Vorsorgetermine nicht wahrnähmen, Rezepte nicht abholten und auch Diagnosen erst gar nicht gestellt würden. „Das hat dann ganz konkrete gesundheitliche Auswirkungen für den Einzelnen, und ich frage mich: Welches Risiko ist höher?“
Auch psychosoziale Belastungen, wie z. B. eine verstärkte Selbstisolation aus Angst vor Ansteckung, dürften nicht vergessen werden. Ihm fehle in der Diskussion daher die Betrachtung der gesamten Lebenssituation der Patienten, unabhängig von einer etwaigen medizinischen Akutversorgung. „Meiner Meinung nach müssen wir viel früher ansetzen“, erklärte Hauck. Die Patienten müssten in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden, um auch in der Pandemie verantwortungsvoll mit sich und ihrer Erkrankung umgehen zu können. „Damit würden wir in der Grundgesamtheit mehr Menschen helfen.“
Auch Thomas Bodmer, Vorstandsmitglied der gesetzlichen Krankenkasse DAK-Gesundheit, weiß, wie sich ausbleibende Arzt- und Vorsorgetermine konkret auswirken. Die Folgen seien sehr besorgniserregend. Er forderte nachdrücklich: „Unsere Aufgabe ist es, dass sich diese Entwicklung nicht verselbstständigt.“ Aktuelle Zahlen der DAK sprächen eine deutliche Sprache: „Im zweiten Quartal lagen wir bei rund 25 Prozent weniger Diabetes-Diagnosen im Vergleich zum Vorjahr, im dritten Quartal schon bei über 40 Prozent.“ Hinzu kämen mehr Notfälle im Bereich der Diabetesentgleisungen und damit verbunden, statistisch hochgerechnet, ein zehnfach höheres Amputationsrisiko.
Dieser Punkt sei auch aus gesundheitsökonomischer Perspektive zentral, wie Dr. Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, deutlich machte: „Teuer ist nicht der Diabetes an sich, teuer sind die Folgeerkrankungen. Das wird in einer Situation, in der die Routineversorgung möglicherweise unzureichend ist, zu einem zentralen Thema.“ Hier sei die Krise ein Kristallisationspunkt und böte gleichzeitig die Chance, gesundheitsökonomisch die Weichen zu stellen.
Den Einbrüchen in der Diabetesversorgung durch das Fernbleiben der Patient:innen während der ersten Pandemie-Welle sei man auf Seiten der Diabetesberater:innen mit verhältnismäßig schnellen und unbürokratischen Lösungen begegnet, erklärt Dr. Gottlobe Fabisch, Geschäftsführerin des Verbandes der Diabetes Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD). „DMP-Schulungen (Disease Management Programm) sind allein in der letzten Märzwoche 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 53 Prozent zurückgegangen“, berichtete sie.
„Wir haben schon gleich zu Beginn die Initiative ergriffen und sind an die Kassenärztlichen Vereinigungen herangetreten, um Patienten per Video schulen zu dürfen“ [2, 3], so Dr. Fabisch. Sie findet, es seien in der Pandemie digitale Lösungen in kurzer Zeit auf den Weg gebracht worden und hofft, dass es nun gelinge, diese Kreativität in ein neues Normal mitzunehmen und sinnvolle Lösungen strukturell zu verankern. „Wir fordern, dass Patientenschulungen per Video auch über die Pandemie hinaus als Ergänzung zur Präsenzschulung bundesweit durch qualifizierte Schulungskräfte angeboten werden können.“
Dass auf digitalem Gebiet schon eine ganze Menge passiert ist, weiß Hauck aus eigener Erfahrung und verwies u.a. auf die digitalen Angebote von diabetes.DE: „Es gibt bereits viele tolle Konzepte, die Menschen erreichen und motivieren.“ Allerdings gibt es laut Prof. Dr. Monika Kellerer, auf dem Gebiet der telemedizinischen Behandlung noch viel Nachholbedarf, und zwar in mehrfacher Hinsicht: So müsse sie einerseits in der Versorgungsrealität reibungslos umgesetzt, andererseits aber auch bezahlt werden, betonte die Präsidentin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).
Das Fazit nach eineinhalb Stunden intensiver Diskussion: COVID-19 hat auch in der Diabetesversorgung zahlreiche gute Entwicklungen katalysiert, die es jetzt gilt, langfristig strukturell festzuschreiben. Allerdings gäbe es auch noch Einiges zu tun, darin waren sich die Experten einig. „Wir müssen an der Front kämpfen, wo Veränderungen einen Transmissionsriemen bekommen“, hob Prof. Tschöpe hervor und verwies hier vor allem auf die Entscheidungsebene von Fachgesellschaften, Ärztekammern und Politik. Für Prof. Kellerer ist die nationale Diabetesstrategie eine Chance: „Die Ansätze dort sind sinnvoll, wenn Sie konkretisiert und umgesetzt werden.“
Um langfristig die Versorgung der Menschen mit Diabetes in Deutschland zu verbessern, sei ein konzertiertes Vorgehen wichtig – weg von einer Zersplitterung und Zerfaserung der Kräfte hin zu einer Gleichgesinnung. „Das ist der Hebel, mit dem wir etwas erreichen können“, so Prof. Tschöpe. Diabetes 2030 als Dialogplattform komme hierbei eine besondere Bedeutung zu, erklärt Prof. Wasem: „Sie ist ein möglicher Träger unserer Botschaften in die Politik hinein.“
Quelle: Novo Nordisk | Redaktion
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