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100 Billionen Mikroorganismen leben im Dickdarm jedes Menschen – Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten. Die Summe aller Mikroorganismen, die im menschlichen Verdauungstrakt, vor allem im Dickdarm, leben, bildet das Darmmikrobiom. Diese Mikroorganismen sind lebensnotwendiger Teil des menschlichen Stoffwechsels. Joshua Lederberg, ein US-Molekularbiologe und Genetiker, hat 2008 den Begriff “Mikrobiom” geprägt.
Das Darmmikrobiom ist die Summe aller Mikroorganismen, die im menschlichen Verdauungstrakt, vor allem im Dickdarm, leben. Sie sind lebensnotwendiger Teil des menschlichen Stoffwechsels; manche Forscher sehen in dieser Lebensgemeinschaft sogar ein “eigenständiges Organ” mit einem Gewicht von 1,5 bis 2 kg. Über 90 Prozent unserer Dickdarmbewohner sind Bakterien. Sie leben im Schleim auf den Epithelzellen – im Prinzip den “inneren Hautzellen” des Darmes und bilden einen sehr aktiven Biofilm.
Bakterien können Substanzen bilden und sich teilen. Dafür benötigen sie Baupläne, die auf den Genen gespeichert sind. Jede menschliche Körperzelle enthält im Zellkern die Chromosomen mit den Genen, die jeden Menschen zu einem Individuum machen. Jeder Mensch besitzt etwa 22 000 Gene, die ihn so machen, wie er ist. Die Bakterien, die im Dickdarm jedes Menschen leben, besitzen insgesamt 5 bis 8 Mio. Gene und somit eine riesige Menge von Bauplänen für vielerlei Substanzen, die sie damit produzieren können.
Jetzt werden Sie sich vielleicht fragen: Bakterien in meinem Dickdarm? Machen die mich nicht krank? Unter normalen Umständen leben wir mit unseren Dickdarmbakterien in Symbiose: Durch unsere Nahrungszufuhr ernähren wir die Bakterien im Dickdarm. Im Gegenzug helfen sie uns, am Leben zu bleiben.
Man weiß heute, dass im Dickdarm der Menschen etwa 1.000 verschiedene Bakterienarten vorkommen können. Jeder Mensch hat mindestens 160 verschiedene Bakterienarten in seinem Dickdarm beheimatet: Etwa zwei Drittel dieser Arten kommen bei allen Menschen vor; etwa ein Drittel der Arten sind individuell verschieden. Durch eine normale Stuhluntersuchung, wie sie im Rahmen der Routinediagnostik durchgeführt wird, kann diese Bakterien-Vielfalt nicht differenziert werden.
Es ist aber heute mit Hilfe einer molekularbiologischen Analyse möglich, die Bakterien-Gene im Stuhl und damit die individuelle Bakterienbesiedlung im Dickdarm zu bestimmen. Da dies ein noch sehr aufwändiges Verfahren ist, steht es nur im Rahmen von Studien zur Verfügung. Es können heute aber nicht nur die Bakterien-Gene im Stuhl analysiert werden, sondern auch die etwa 2 000 verschiedenen Substanzen, die von den Bakterien im Dickdarm gebildet werden (“Fingerabdruck” der Bioaktivität der Dickdarm-Bakterien).
Durch diese Diagnostik konnte man feststellen, dass bei allen Menschen Bakterien aus drei Gattungen vorkommen: Bacteroides, Prevotella, Ruminococcus. Je nachdem, welche dieser 3 Bakterienfamilien überwiegt, kann die Menschheit bezüglich ihrer Bakterienzusammensetzung in drei unterschiedliche “Enterotypen” eingeteilt werden.
Die Bakterien im Dickdarm besiedeln die komplette Oberfläche des Dickdarms (wie ein tropischer Regenwald) und lassen somit keinen Platz für krankmachende (pathogene) Keime. Manche unserer Dickdarm-Bakterien bilden Substanzen, die pathogene Keime binden können und somit verhindern, dass sie durch die Darmschleimhaut in die Blutbahn eindringen können. Die so neutralisierten Krankheitserreger werden mit dem Stuhl ausgeschieden.
Bakterien, die in unserem Dickdarm leben, können Vitamine bilden (z. B. Vitamin B6, Vitamin B12, Vitamin K, Biotin, Coenzym F). Diese Vitamine werden dann über die Dickdarmschleimhaut aufgenommen. Da diese Vitamine für uns lebenswichtig sind, könnten wir ohne unsere Dickdarmbakterien nicht überleben.
Die Dickdarmbakterien beeinflussen unser Immunsystem: Ein normal funktionierendes Immunsystem kann eigene Körperzellen von fremden Zellen oder möglichen Krankheitserregern unterscheiden und diese durch geeignete Maßnahmen bekämpfen (eigene Zellen bleiben unangetastet). Wenn das Immunsystem gestört ist und eigene Körperzellen angreift, dann können Autoimmunerkrankungen auftreten wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Allergien, Asthma bronchiale, Schuppenflechte.
Firmicutes-Bakterien können Ballaststoffe, die mit dem Nahrungsbrei im Dickdarm ankommen, besser abbauen. Ballaststoffe sind komplexe Kohlenhydrate, die durch die im menschlichen Dünndarm vorhandenen Verdauungsenzyme nicht abgebaut werden können und so in den Dickdarm gelangen. Die von den Firmicutes-Bakterien abgebauten Kohlenhydrate können von der Dickdarmschleimhaut aufgenommen werden und dienen somit als zusätzlicher Kalorienlieferant.
Menschen, die eine aktive Firmicutes-Besiedlung in ihrem Dickdarm haben, nehmen so pro Tag etwa 150 kcal mehr auf. Menschen, die eine weniger aktive Firmicutes-Besiedlung haben, scheiden diese Ballaststoffe weitestgehend unverdaut mit dem Stuhl aus.
Dickdarmbakterien beeinflussen die Wirkungen und die Nebenwirkungen von Medikamenten: Manche oral zugeführten Medikamente werden erst durch den Einfluss der Bakterien im Dickdarm zu wirksamen Medikamenten. Andere Medikamente werden durch die Aktivität der Dickdarmbakterien in ihrer Wirkung abgeschwächt oder verstärkt.
Sie kennen das vielleicht: Sie sind abends zur Ruhe gekommen, und plötzlich überfällt Sie ein Heißhungergefühl auf z. B. Schokolade oder Chips. Und Sie haben keine Chance, sich dem Heißhunger zu entziehen. Sie werden jetzt fragen: Was hat dies mit dem Darmmikrobiom zu tun? Man weiß heute, dass es eine Darmmikrobiom-Gehirn-Achse gibt. Das Darmmikrobiom kann auf verschiedenen Wegen Einfluss auf unser Gehirn nehmen:
Es gibt inzwischen viele Hinweise, dass über diese Darmmikrobiom-Gehirn-Achse psychische und neurologische Erkrankungen wie Chronisches Erschöpfungssyndrom, Depression oder Morbus Parkinson beeinflusst werden können. Es gibt auch Hinweise dafür, dass bestimmte Bakterienarten im Dickdarm über diese Achse das oben beschriebene Heißhungergefühl auslösen können.
Man weiß, dass schon während der Schwangerschaft sich das mütterliche Mikrobiom über das Blut und die Plazenta auf das ungeborene Kind überträgt. Während der Schwangerschaft verändert sich die Zusammensetzung des Darmmikrobioms der Mutter und somit auch die Bakterienbesiedlung des kindlichen Dickdarms in der Gebärmutter. Bei der Geburt überträgt die Mutter ihre Bakterien in starkem Umfang auf das Kind: Bei einer vaginalen Entbindung erhält das Kind Bakterien aus der Scheiden- und Darmflora der Mutter.
Bei einem Kaiserschnitt erhält das Kind Bakterien der mütterlichen Bakterienbesiedlung auf der Haut. Somit ist die Art der Geburt entscheidend für die erste Zusammensetzung des kindlichen Darmmikrobioms.
Die weitere Entwicklung und Ausbildung des kindlichen Darmmikrobioms ist abhängig von der Ernährung des Kindes: Wenn das Kind gestillt wird, dann werden weitere mütterliche Bakterien auf das Kind übertragen. Man weiß heute, dass in den ersten Tagen nach der Geburt die Muttermilch weniger zur Ernährung des Kindes dient. Die in der Muttermilch enthaltenen Zuckermoleküle haben in dieser frühen Lebensphase einen entscheidenden Einfluss auf die bakterielle Besiedlung des kindlichen Dickdarms.
Da in dieser Phase auch das Immunsystem für das weitere Leben programmiert wird und die Dickdarmbakterien darauf wahrscheinlich einen bedeutenden Einfluss haben, werden in dieser ersten Ernährungsphase wichtige Weichenstellungen für das weitere Leben vorgenommen. Eine vaginale Entbindung und das mütterliche Stillen sind somit zwei wichtige Faktoren, die die Zusammensetzung des kindlichen Darmmikrobioms bestimmen.
Die Zusammensetzung des Darmmikrobioms wird vor allem durch die Ernährung beeinflusst: Ballaststoffreiche Ernährung sorgt für ein großes Nahrungsangebot für die Bakterien im Dickdarm. Wird die Ernährung umgestellt, wird sich unweigerlich die Zusammensetzung der im Dickdarm vorhandenen Bakterien ändern. Auch Entzündungen oder Medikamente beeinflussen das Darmmikrobiom. Wie sich welche Einflüsse letztlich auswirken, kann noch nicht eindeutig gesagt werden. Um die Zusammenhänge herauszufinden, wird weltweit auf diesem Gebiet intensiv geforscht.
Was sich sicher auf das Darmmikrobiom auswirkt, ist die Einnahme eines Antibiotikums. Ein Antibiotikum soll krankmachende Bakterien abtöten, wirkt aber natürlich auch auf die hilfreichen Bakterien im Dickdarm. Man weiß, dass nach einer antibiotischen Therapie über 5 Tage etwa 30 Prozent der Dickdarmbakterien zerstört sind und mit dem Stuhl ausgeschieden werden. Deshalb muss immer gut überlegt werden, ob eine antibiotische Therapie zur Behandlung einer Erkrankung wirklich erforderlich ist.
Nur wenn ein eindeutiger medizinischer Grund besteht (bakterielle Erkrankung), sollte eine antibiotische Therapie konsequent durchgeführt werden – denn durch jede antibiotische Therapie wird das Darmmikrobiom in seiner Zusammensetzung gestört und muss sich anschließend regenerieren.
Wie gesagt, wirkt sich eine ballaststoffreiche Ernährung auf die Bakterienzusammensetzung im Dickdarm aus. Es gibt Präbiotika – das sind komplexe Kohlenhydrate –, die ähnlich wie Ballaststoffe auf die Bakterien im Dickdarm wirken. Durch diese können derzeit aber noch nicht bestimmte Bakterienarten gezielt gefördert werden.
Probiotika sind Lebensmittel mit lebenden Mikroorganismen; dazu gehören Joghurt oder Kefir, die Milchsäurebakterien und/oder Hefen enthalten. Beim Verzehr dieser Nahrungsmittel wird ein großer Teil der Mikroben bei der Passage durch den Magen und den Dünndarm zerstört; nur ein Bruchteil kommt im Dickdarm an und kann so das Darmmikrobiom beeinflussen. Auch durch den Verzehr von Probiotika kann derzeit die Zusammensetzung des Darmmikrobioms nicht gezielt gesteuert oder beeinflusst werden. Durch eine Stuhltransplantation kann die Dickdarmschleimhaut mit einem gesunden Bakteriengemisch neu besiedelt werden (siehe Seite 26).
Die Bakterien in unserem Dickdarm sind für uns lebensnotwendig: Ohne ein gut und richtig funktionierendes Darmmikrobiom können wir nicht überleben. Bedenken Sie: Mit jeder Nahrungszufuhr beeinflussen Sie diese Zweckgemeinschaft. Pflegen Sie Ihr Ökosystem in Ihrem Dickdarm durch eine ausgewogene, ballaststoffreiche Ernährung.
von Dr. Martin Lederle
Arzt für Innere Medizin, Diabetologe, Ernährungsmedizin, MVZ Ahaus GmbH, Diabetespraxis
Wüllener Straße 101, 48683 Ahaus
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (3) Seite x-x
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