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Birgit Behrendt ist im frühen Kindesalter an Diabetes erkrankt. Sie berichtet, wie die Therapie vor einem halben Jahrhundert aussah und sie das Beste daraus gemacht hat.
Mit Feuerwerk und Silvesterraketen erblickte ich am 31. Dezember 1955 in Jena das Licht der Welt, zusammen mit meinem Zwillingsbruder. Die ganze Welt feierte, und fürsorgliche Eltern gaben uns beiden Liebe und Geborgenheit. Am Stadtrand von Greifswald lebten wir gut vier Jahre glücklich in einem Haus, umgeben von einem großen Garten.
1960 änderte sich das Leben schlagartig. Es begann mit einem Dauerlauf zwischen Trinken und Toilette, außerdem war ich dauernd schlapp und müde und verlor stark an Gewicht. Lange rätselten die Ärzte, warum es mir so schlecht ging – bis ein engagierter Arzt tatsächlich meinen Urin kostete und wohl einen sirupsüßen Geschmack wahrnahm.
Die insulinproduzierenden Zellen meiner Bauchspeicheldrüse hatten beschlossen, ihre Arbeit einzustellen! Lange war ich im Krankenhaus – dann ging es für die Grundeinstellung des Blutzuckers in ein Diabeteskinderheim. Ab jetzt lief das Leben nach einem strengen Zeitplan ab – für Spritzen und Essen. Lebensmittel mit Zucker waren für mich nun tabu.
Anfang der 1960er Jahre bot die Therapie des Diabetes nicht die Flexibilität wie heute, auch die verfügbaren Insulinarten erlaubten das nicht. Also musste ich jedes Jahr für vier Wochen wieder in das Kinderheim in Garz – mir graute jedes Mal davor.
Den muffigen Geruch des Hauseingangs habe ich noch heute in der Nase, und viele Erlebnisse dort haben mich bis heute geprägt. Das Haus war von Stacheldraht umzäunt und der Tagesablauf fast militärisch organisiert. Eine hochgewachsene, knochige, ältere Dame erwies sich als Herrscherin dieses Reiches über uns “Süßen” und über drei weitere Betreuerinnen.
Zu den Spritzzeiten mussten wir uns in einer Schlange anstellen. An einer großen Tafel waren unsere Namen mit den dazugehörigen Insulineinheiten angeschrieben – eine Schwester drückte uns nacheinander das Insulin in Arm, Bein oder Po. Nach dem Frühstück fand die Arbeitstherapie statt: Gartenarbeit, Haus- und Zimmerputz.
Das Essen bekamen wir in einem großen Saal. Hier hatte jeder seinen festen Platz, an dem die von Ärzten festgesetzten Essensmengen standen. Manchmal war vom Brot eine kleine Ecke abgeschnitten, damit die Grammzahl stimmte. Essen zu tauschen, war streng verboten – das wurde streng überwacht.
In der ersten Zeit gab es zum Frühstück Schmalzstullen, weil man glaubte, dass das Schmalz Insulin bindet. Man dachte außerdem, dass Diabetiker besonders schlau seien, da man zum Denken ja Energie (Zucker) benötigte. Wir mussten Tests schreiben, bei denen sich herausstellte, dass dies nicht stimmte.
Ich war immer froh, wenn die Zeit in Garz um war und ich wieder nach Hause durfte. Trotzdem war die Betreuung von Diabetikern in der DDR sehr gut und flächendeckend organisiert. Es gab Schulungen für Eltern und Erkrankte, und es wurde viel Wert darauf gelegt, dass Betroffene sich mit dem Krankheitsbild und -verlauf auskannten.
Meine Eltern hielten zu Hause die Ess- und Spritzzeiten sowie die Essmengen akribisch ein und kochten oft für mich das Mittagessen separat. Mein Vater passte auf, wie das Wetter werden würde, um die Insulindosis anzupassen: Konnte ich mich draußen bewegen oder würde ich bei Regen meine Zeit drinnen mit Malen oder Lesen verbringen?
Das Spritzen lernte ich, als ich etwa 6 Jahre alt war – es tat mir sehr weh. In der damaligen Zeit in der DDR waren die Spritzen oft undicht, die Kanülen mit Widerhaken versehen; an den Spritzstellen bekam ich so mit der Zeit dicke Beulen. Zu Hause wurden die Blutzuckerwerte nur alle vier Wochen in den Diabeteszentralen gemessen und in Gesprächen ausgewertet was eine optimale Blutzuckereinstellung kaum möglich machte.
Als Jugendliche führten mich die jährlichen Einstellungen nach Karlsburg zu den Erwachsenen, wo ich mit dem Buch Von Aceton bis Zucker über meine Zukunftsaussichten aufgeklärt wurde: Blindheit, Nierenschäden, amputierte Gliedmaßen! Bald stellten sich bei mir die ersten Spätschäden an Augen und Nieren ein. Den Rest gab mir dann die Aussage eines jungen Arztes: Meine Lebenserwartung betrüge nur noch etwa 5 Jahre!
Das zu verkraften, war nicht einfach und hat meine Lebenseinstellung sehr beeinflusst. Ich wollte niemand sein, auf den man Rücksicht nehmen muss. Ich entwickelte Galgenhumor und versuchte, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen. Damit ging es nicht nur mir besser, sondern auch meinem Umfeld; sogar die Blutzuckerwerte sind mit dieser Lebenseinstellung besser geworden.
Von 1976 bis 1980 absolvierte ich in Wismar mein Studium zum Wirtschaftsingenieur und genoss das Studentenleben – egal wie lange es dauern würde. Und meine Blutzuckerwerte waren super. Heute mit 58 Jahren behandele ich meinen Diabetes mit einer Insulinpumpe, bin glücklich und lebensfroh, Die 5-Jahres-Frist ist lange überschritten!
Ein Spruch von Gerhardt Katsch, der in Garz in großer Schrift an der Wand steht, ist mir in Erinnerung geblieben: “Ein Diabetiker ist nicht krank, sondern bedingt gesund.” Er hatte Recht!
von Birgit Behrendt
Kontakt:
E-Mail: chrissi.sn@t-online.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2014; 63 (8) Seite 48-49
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