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Sind die Glukosewerte morgens zu hoch, kommt schnell die Vermutung auf, dass man nachts den Kühlschrank geplündert hat … Dabei gibt es einige Gründe, warum die Werte morgens höher sind als erwartet. Das Gute dabei: Kennt man die Ursache, kann man zusammen mit dem Diabetesteam die Therapie anpassen – für einen guten Start in den Tag.
Auch heute noch wird der Diabetes mellitus oft zufällig anhand erhöhter Blutzuckerwerte im Nüchtern-Zustand entdeckt, z.B. während eines Aufenthalts im Krankenhaus.
Dr. med. Gerhard-W. Schmeisl (Bad Kissingen) ist Internist sowie Facharzt für Diabetologie, Angiologie und Sozialmedizin und hat jahrzehntelange praktische Erfahrung in der Behandlung und Schulung von Menschen mit Diabetes in Praxis und Klinik. Er schreibt in der Rubrik Diabetes-Kurs über die Diabetes-Therapie und alles, was sonst noch mit dem Diabetes zusammenhängt.
Im “Routine-Labor”, also bei einer Untersuchung beim Hausarzt, wird ein leicht erhöhter Blutzuckerwert oft gar nicht wahrgenommen bzw. ist schwierig zu bewerten, da häufig die Blutabnahme erfolgt, wenn der Patient bereits etwas gegessen hat. Dann heißt es: “Sie haben ja schon etwas gefrühstückt, sicher ist deshalb der Blutzucker erhöht.” Selten folgt dann zum sicheren Ausschluss eines Diabetes eine erneute Untersuchung des Blutzuckers durch eine Blutentnahme wirklich im Nüchtern-Zustand.
Der Blutzuckerwert eines Menschen ohne Diabetes sollte nüchtern weniger als 100 mg/dl (5,6 mmol/l) betragen. Liegt er zwischen 100 und 125 mg/dl (5,6 und 6,9 mmol/l), spricht man von einem abnorm erhöhten Nüchtern-Glukosewert. Liegt der Wert bei 126 mg/dl (7,0 mmol/l) oder darüber, liegt ein Diabetes vor.
Ist der Diabetes bereits bekannt, stellen erhöhte Nüchtern-Blutzuckerwerte nach wie vor ein Problem dar. Meist findet man aber eine Ursache, die die erhöhten Werte erklärt. Diese können sich zwischen Menschen mit Typ-1- und Menschen mit Typ-2-Diabetes unterscheiden.
Petra M., 75 Jahre alt, weiß seit fünf Jahren von ihrem Typ-2-Diabetes. Zufällig waren erhöhte Nüchtern-Blutzuckerwerte während einer Hüft-Operation im Krankenhaus aufgefallen. Vorher war sie allerdings über Monate oft schlapp, musste ständig Wasser lassen und war auch schon wegen extrem juckender Veränderungen an der Haut beim Hautarzt. Ein Termin beim Augenarzt wegen Sehverschlechterung stand auch an.
Die Kontrolle des Stoffwechsels erfolgt seit der Diagnose alle drei Monate anhand des HbA1c-Werts. Jetzt fühlt sie sich wieder oft schlapp und müde, weshalb der Arzttermin vorgezogen wurde. Ihre Enkelin hatte zuvor mit einem geliehenen Blutzucker-Messgerät einen Nüchtern-Blutzucker von 215 mg/dl (11,9 mmol/l) gemessen. Petra M. hatte wohl immer wieder spätabends noch ein “Betthupferl” in Form einer halben Tafel Schokolade genossen.
Jede Aktivität erfordert bei Menschen mit Typ-1-Diabetes, die Insulindosierung entsprechend anzupassen. Dies gilt auch für Aktivitäten und Mahlzeiten am Abend, die sich auf den Glukoseverlauf in der Nacht auswirken und möglicherweise auch auf die Werte am folgenden Morgen. Passt die Versorgung mit Insulin nicht zur Abendmahlzeit und/oder nicht zum nächtlichen Bedarf, zeigt sich dies in den Glukosewerten der darauffolgenden Stunden.
Ist der Glukosewert am Morgen hoch, kann ein hoher Wert bereits vor dem Schlafengehen die Ursache sein. Hierfür gibt es z. B. folgende Gründe:
Insbesondere die Ernährung am Vorabend hat einen extremen Einfluss auf den Glukoseverlauf in der Nacht. Es ist ein Unterschied, ob die Abend-Mahlzeit aus einer Pizza besteht mit reichlich Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß oder ob ein gemischter Salat gegessen wird, möglicherweise in Kombination mit wenig oder mäßig Alkohol. Das Essen darf auch nicht getrennt von abendlichen Aktivitäten gesehen werden.
Insbesondere längere körperliche Aktivität kann die Zuckerspeicher aus der Muskulatur und der Leber entleeren. Diese werden in der Nacht wieder aufgefüllt (Muskel-Auffüll-Effekt), wodurch die Glukose-Konzentration im Blut sinkt. Dies kann zu nächtlichen Unterzuckerungen führen, insbesondere dann, wenn die abendliche Insulindosis nicht reduziert wurde – und dann zu einer Gegenregulation mit entsprechend erhöhten Glukosewerten am Morgen.
Eine weitere Ursache für erhöhte Glukosewerte am Morgen ist das “Dawn-Phänomen”, das “Morgendämmerungs-Phänomen”. Bei diesem frühmorgendlichen Anstieg der Glukosewerte sorgen hormonelle Gegenspieler des Insulins (u. a. Wachstums-Hormon, Kortisol) dafür, dass die Menschen Energie bekommen, um rasch aktiv zu werden. Diese Energie wird in Form von Zucker bereitgestellt. So steigt bei manchen Menschen morgens der Blutzucker extrem.
Bei manchen Menschen mit Typ-1-Diabetes kommt es beim Aufstehen ebenfalls durch den Blutzucker erhöhende Hormone zu einem starken Anstieg der Glukosewerte, auch als “Aufsteh-Phänomen” bekannt. Dieser Anstieg des Glukosewerts lässt sich in der Regel durch wenige Einheiten kurzwirksames Insulin lösen. Dieses Insulin darf nicht in die Dosis des langwirksamen Insulins eingerechnet oder in der Insulinpumpe kein Bestandteil der Basalrate sein, sondern muss beim Aufstehen extra als Bolus gegeben werden. Dieser “Morgen-Gupf” gehört auch nicht zum Insulin für das Frühstück.
Hohe nächtliche Blutzuckerwerte finden sich auch dann, wenn Patienten nachts Stress haben. Ursache für den Stress kann z. B. ein Nervenschaden (Polyneuropathie) mit starken Schmerzen und unruhigem Schlaf sein. Stress erzeugt auch ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, also Atem-Pausen beim Schlafen.
Durch Anpassen der Insulindosis zum Abendessen, eine Änderung des Korrekturfaktors, mehr langwirksames Insulin oder eins mit einer anderen Wirkkurve zur Nacht kann man das Problem erhöhter morgendlicher Glukosewerte oft in den Griff bekommen. Grundlage dafür ist, den Glukoseverlauf im Zusammenhang mit Mahlzeiten und Aktivitäten zu dokumentieren und zu analysieren.
Eine kleine Menge Kohlenhydrate am Abend, z. B. 10 Gramm, für die kein Insulin gegeben wurde, kann auch zu einem erhöhten Nüchtern-Blutzucker führen. Dies gilt besonders, wenn die Spätmahlzeit sehr fett- oder eiweißreich ist, sodass die Kohlenhydrate über Nacht langsamer ins Blut gelangen.
Eine weitere wichtige Ursache für erhöhte Glukosewerte am Morgen können Unterzuckerungen in der Nacht sein. Auf diese reagiert der Körper mit einer Gegenregulation. Abendlicher Alkohol-Konsum bei fehlender Aufnahme von Kohlenhydraten kann ein Grund sein.
Nächtliche Unterzuckerungen mit Gegenregulation können auch auftreten, wenn zum Abendessen höhere Dosen Normalinsulin (kurzwirksames Humaninsulin) gespritzt werden. Da die Wirkdauer mit der Dosis steigt, kann das Insulin noch in der Phase der hohen Insulin-Empfindlichkeit zwischen Mitternacht und morgens wirken – mit der Folge einer Unterzuckerung.
Zum Zeitpunkt der Diagnose des Typ-2-Diabetes haben Menschen mit Typ-2-Diabetes meist schon die Hälfte ihrer Beta-Zellen, die das Insulin im Körper produzieren, verloren. Durch diesen Mangel an Insulin wird die nächtliche Produktion des Insulin-Gegenspielers Glukagon nicht mehr unterdrückt, sodass die Leber ungehindert über Nacht Zucker bilden und ausschütten kann. Das führt zu erhöhten Nüchtern-Blutzuckerwerten.
Eine der ersten Maßnahmen bei der Therapie des Typ-2-Diabetes ist daher die Einnahme des Wirkstoffs Metformin nach dem Abendessen oder auch später. Dieser unterdrückt u. a. die Zucker-Neuproduktion in der Leber. Reicht dies nicht, ist die spätabendliche Gabe eines langwirksamen Insulins, bei modernen Insulinanaloga auch tageszeitlich unabhängig, erforderlich.
Wie bei Menschen mit Typ-1-Diabetes können bestimmte Medikamente (z. B. Sulfonylharnstoffe) und Insulin in unpassender Dosierung oder durch abendliche Aktivitäten auch bei Menschen mit Typ-2-Diabetes in der Nacht zu Unterzuckerungen führen. Diese können ebenfalls Gegenregulationen und damit erhöhte Glukosewerte am Morgen auslösen.
Wenn also ein Mensch mit Typ-2-Diabetes regelmäßig morgens deutlich erhöhte Glukosewerte hat, ist zunächst zu klären, ob dies durch Unterzuckerungen in der Nacht bedingt ist. Dies kann nur durch gelegentliche Kontrollen nachts festgestellt werden. Je nach Ergebnis muss die Medikamenten- oder Insulindosis in Absprache mit dem behandelnden Arzt entsprechend angepasst werden.
Erhöhte Nüchtern-Glukosewerte können ein Hinweis auf einen Diabetes mellitus sein. Ist bereits bekannt, dass ein Diabetes vorliegt, sollte bei wiederholten erhöhten Nüchtern-Glukosewerten eine systematische Suche nach der Ursache erfolgen. Meist ist eine Erklärung zu finden – und die Situation ist zu lösen. Andernfalls kommt es zu anhaltend hohen Glukosewerten, die zu Unzufriedenheit bei den Betroffenen – und den Behandelnden – und zu schlechterer Lebensqualität führen. Außerdem erhöhen sie auch das Risiko für Folgeerkrankungen.
von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2024; 72 (7) Seite 30-33
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