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Auch im Alter muss ein Typ-2-Diabetes so behandelt sein, dass keine akuten Komplikationen auftreten. Vor allem aber geht es bei Therapieentscheidungen oft um die Lebensqualität. Was zu beachten ist, erfahren Sie in dieser Folge des Diabetes-Kurses von Dr. Gerhard-W. Schmeisl.
Wenn Menschen zur Behandlung ihres Typ-2-Diabetes Medikamente brauchen, stehen heute verschiedene Gruppen von Medikamenten zur Verfügung. Nach den Empfehlungen der europäischen und der amerikanischen Diabetes-Gesellschaften und auch der europäischen Gesellschaft für Kardiologie stehen neuerdings der Patient selbst und seine Begleiterkrankungen im Vordergrund. Sollte dies nicht schon immer so sein?! Gerade bei älteren und alten (geriatrischen) Menschen mit Diabetes ist diese Sichtweise von entscheidender Bedeutung.
Marianne H., 79 Jahre alt, „umsorgt“ seit Jahren ihren 3 Jahre älteren Mann Johannes, der immer mehr „durcheinander“ wirkt und seine Diabetes-Medikamente und Herz-Tabletten zeitweise vergisst. Als dieser bei einem der ärztlichen Hausbesuche von seinem Hausarzt erfährt, dass er bestimmte Diabetes-Tabletten wegen einer sich rasch verschlechternden Nierenfunktion nicht mehr nehmen dürfe, macht sich seine Frau Marianne Sorgen, denn der letzte HbA1c-Wert lag schon bei 8,7 % und gelegentliche Zuckerwerte beim Arzt in der Praxis lagen bei 190 bis 230 mg/dl (10,6 bis 12,8 mmol/l) nüchtern.
Der Hausarzt kommt zunächst fast zögerlich mit dem Vorschlag einer Insulintherapie: Marianne hatte schon vor Wochen darüber nachgedacht. Jahrelang hatte sie ihrer eigenen Mutter Insulin gespritzt. Ihrem Mann ginge es damit sicherlich auch besser und ihr wahrscheinlich auch.
Einige Wochen später – sie spritzte ihrem Mann täglich 12 Einheiten eines langwirkenden Insulins gegen 20 Uhr – war der HbA1c-Wert schon auf 8,3 % gesunken und der Blutzuckerwert beim Hausarzt in der Praxis lag nüchtern bei 145 mg/dl (8,1 mmol/l)! Ihr Mann gab an, dass er sich auch schon besser fühlte.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie ist die Mehrzahl der Menschen, die in der Geriatrie betreut werden, über 80 Jahre. Etwa jeder vierte Mensch über 80 Jahre in Deutschland hat einen Diabetes – in geriatrischen Einrichtungen sogar jeder zweite. Mit zunehmendem Alter und/oder Begleiterkrankungen besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für akute Erkrankungen wie Harnwegsinfekte bzw. Stoffwechselentgleisungen wie Unterzuckerung und Überzuckerung. Außerdem steigt das Risiko für eine Nierenschwäche.
Einschränkungen gibt es natürlich auch, wenn zusätzlich
vorliegen. Deshalb sind die Therapieziele immer individuell gemeinsam zwischen Arzt und Betroffenen bzw. deren Angehörigen festzulegen.
… auch bezeichnet als geriatrische Syndrome, die bei der medikamentösen Therapie berücksichtigt werden müssen:
Im Alter steht ein guter HbA1c-Wert nicht mehr unbedingt im Vordergrund, entscheidend ist die Lebensqualität. Diese lässt sich erreichen durch eine relativ gute Blutzuckereinstellung und gut eingestellten Blutdruck und Blutfette. Auch eine Herzschwäche (Herzinsuffizienz), die u. a. zu Luftnot oder Wasser in den Beinen führen kann, muss gut behandelt sein.
Die Basistherapie des Typ-2-Diabetes besteht auch im Alter in einer guten, ausgewogenen Ernährung und, soweit möglich, regelmäßiger Bewegung. Dabei gilt: ausloten, was noch möglich, aber auch, was noch sinnvoll ist. Die Lebensqualität und das Verhindern von Komplikationen sollten im Vordergrund stehen.
HbA1c-Zielwerte bei älteren Menschen mit Diabetes … | ||
Zustand | angestrebter HbA1c-Wert | Besonderheiten |
ältere Patienten ohne weitere Erkrankungen und ohne altersspezifische Krankheitsbilder („funktionell unabhängig“) | bis 7,5 % bzw. 58 mmol/mol | wenn schwere Unterzuckerungen aufgetreten sind, eher über 7,5 % bzw. 58 mmol/mol |
hilfsbedürftige geriatrische Patienten mit leichten Behinderungen („funktionell leicht abhängig“) | bis 8,0 % bzw. 64 mmol/mol | wenn schon schwere Unterzuckerungen aufgetreten sind, eher 8,0 – 8,5 % bzw. 64 – 69 mmol/mol |
hilflose geriatrische Patienten mit schweren funktionellen Einschränkungen („funktionell stark abhängig“) | bis 8,5 % bzw. 69 mmol/mol | einfaches Therapieschema durchführen |
modifiziert nach: A. Zeyfang et al.: DDG-Praxisempfehlung Diabetes mellitus im Alter. Diabetologie und Stoffwechsel 2020; 15 (Supplement 1): S112 – S119 |
Die medikamentöse Therapie orientiert sich entsprechend den aktuellen Leitlinien zum einen am Verhindern von Unterzuckerungen, vor allem schweren, und starken Entgleisungen „nach oben“. Wichtig sind aber auch die Reduktion von Herz-Kreislauf-Komplikationen wie der Herzinsuffizienz mit häufigen Krankenhauseinweisungen und das Verhindern eines Schlaganfalls und eines Herzinfarkts.
Folgende Medikamente zur Behandlung eines Typ-2-Diabetes gibt es und sind auch bei alten Menschen notwendig bzw. sinnvoll:
Metformin ist immer noch eins der ersten Medikamente, die zur Behandlung des Typ-2-Diabetes verwendet werden. Metformin hilft übergewichtigen Menschen beim Abnehmen – was im hohen Alter aber auch schädlich sein kann – und senkt den Blutzucker. Es sorgt dafür, dass die Leber weniger Zucker produziert, der Darm Zucker langsamer aufnimmt und der Körper auf Insulin besser reagiert, also die Insulinempfindlichkeit steigt. Darüber hinaus kann es helfen, die Blutfette zu senken.
Metformin kann aber auch Nebenwirkungen haben. Dazu gehören vor allem Übelkeit, Durchfall und Bauchgrimmen, was man meist bei Beginn der Therapie hat, wenn die Dosis zu schnell erhöht wird. Vorsicht ist geboten bei einer bekannten Nierenschwäche, bei schwerer Herzschwäche und anderen ausgeprägten Organschäden u. a. an Leber und Lunge.
Bei Einnahme einer hohen Dosis Metformin über Jahre und Jahrzehnte kann es zu einer Blutarmut (Anämie) kommen, die sich durch Müdigkeit und Schlappheit bemerkbar machen kann. Ursache dafür ist ein Vitamin-B12-Mangel, der außerdem führen kann zu Nervenschäden und psychischen Beschwerden, Gedächtnisstörungen, Missempfindungen, Muskelschwäche, Empfindungsstörungen und Rissen in Mundwinkeln (Rhagaden), Zunge und Mundschleimhaut.
DPP-4-Hemmer sind Medikamente, die das Enzym Dipeptidylpeptidase-4 (DPP-4) hemmen. DPP-4 baut im Körper das Darmhormon Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1) ab. Wenn das Enzym DPP-4 nun gehemmt wird, wird weniger GLP-1 abgebaut und die Konzentration von GLP-1 im Blut steigt – und GLP-1 senkt den Blutzucker.
Seltene Nebenwirkungen der DPP-4-Hemmer sind Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis), Gelenkbeschwerden, auch Nasen-Rachen-Entzündungen sind zu finden. Diese Medikamente sind nicht geeignet bei einer fortgeschrittenen Leber- oder Nierenerkrankung.
Bei Gesunden und bei normalen Glukosewerten wird kein Zucker mit dem Urin ausgeschieden. Das funktioniert, indem in den Nieren die Natrium-Glukose-Cotransporter 2 (SGLT-2) den Zucker, den die Nieren bereits aus dem Blut herausfiltriert haben, wieder ins Blut zurückholen. Die SGLT-2-Hemmer bremsen nun diesen Vorgang, sodass nicht mehr so viel Zucker ins Blut zurückgeholt und der Zucker über den Urin ausgeschieden wird. Dies senkt den Blutzucker. Gleichzeitig senken diese Medikamente den Blutdruck.
Zusammen mit dem Zucker scheiden die Nieren mehr Wasser aus, die Urinmenge steigt. Der Wasserverlust kann allerdings zu einem Blutdruckabfall mit Schwindel usw. führen, was gerade bei Älteren nicht ungefährlich ist. Aber auch Gewicht geht verloren, denn jedes Gramm Zucker, das ausgeschieden wird, enthält 4 Kilokalorien.
Mögliche Nebenwirkungen der SGLT-2-Hemmer sind bei Frauen Scheideninfektionen durch Pilze, besonders wenn sie dazu neigen. Bei Männern kann es zu Entzündungen der Penis-Eichel kommen.
Die wichtigste Wirkung der Sulfonylharnstoffe ist die Stimulation der Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse, in denen Insulin produziert wird. Die Stimulation erfolgt unabhängig von den Blutzuckerwerten. Dadurch kann es zu Unterzuckerungen (Hypoglykämien) kommen, was gerade für ältere Menschen gefährlich sein kann. Meist kommt es auch zu einer Gewichtszunahme, weshalb es für übergewichtige Patienten nicht geeignet ist. Außerdem wirkt es nur, solange der Körper selbst noch Insulin produziert, also am Anfang eines Typ-2-Diabetes.
Ist eigentlich der Beginn einer Insulintherapie notwendig, der Betroffene dies aber ablehnt, kann ein Therapieversuch mit niedriger Dosis sinnvoll sein. Auch hier ist unbedingt die Gefahr von Unterzuckerungen zu beachten. Bei schweren Störungen der Nieren- oder Leberfunktion dürfen Sulfonylharnstoffe nicht eingenommen werden.
Glinide stimulieren die körpereigene Insulinproduktion und senken so den Blutzucker. Unterzuckerungen sind wie bei Sulfonylharnstoffen möglich, ebenso eine Gewichtszunahme. Diese Medikamente spielen in Deutschland kaum noch eine Rolle. Nateglinid darf von den gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr erstattet werden und Repaglinid nur noch, wenn eine leichte Niereninsuffizienz vorliegt und keine anderen Diabetes-Medikamente einschließlich Insulin in Frage kommen.
GLP-1-Rezeptoragonisten werden auch als GLP-1-Analoga, GLP-1-Mimetika und Inkretin-Analoga bezeichnet. Sie werden im Dünndarm produziert und haben viele positive Wirkungen bei Menschen mit Diabetes, vor allem bei Übergewichtigen:
Die meisten GLP-1-Rezeptoragonisten müssen wie Insulin ins Unterhautfettgewebe gespritzt werden: Exenatid 2-mal täglich, Liraglutid 1-mal täglich, Dulaglutid und Semaglutid 1-mal pro Woche. Der GLP-1-Rezeptoragonist Semaglutid kann seit April 2020 auch als Tablette eingenommen werden. Die GLP-1-Rezeptoragonisten sind nach aktueller Leitlinie bei Menschen mit massivem Übergewicht und einem hohen Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen Mittel der ersten Wahl.
Insulin ist für jeden Menschen mit Diabetes auch im höheren Alter in bestimmten Situationen sinnvoll bzw. notwendig. Solche Situationen sind z. B. akute fieberhafte Erkrankungen und Operationen. Die Insulintherapie wird in einem eigenen Artikel in einer späteren Ausgabe besprochen.
Die medikamentöse Therapie von Menschen mit Diabetes im Alter muss davon abhängig gemacht werden, was sie noch können und was wegen der Nierenfunktion noch möglich oder erlaubt ist, um sie nicht zu gefährden, insbesondere durch schwere Unterzuckerungen. Eine bessere Blutzuckereinstellung durch adäquate Medikamente verhindert Akut-und Folgekomplikationen und bringt mehr Lebensqualität mit weniger Herz-Kreislauf-Komplikationen mit sich. Sinnvoll ist, was nicht gefährdet und mittelfristig hilft – vor allem in Bezug auf die Lebensqualität.
von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (11) Seite 32-35
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