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In diesem Jahr feiern wir, dass vor 100 Jahren Insulin entdeckt wurde. Die Diabetes-Schulung gibt es sogar noch länger: über die wechselvolle Geschichte einer unverzichtbaren Therapiemaßnahme des Diabetes.
Die Diabetes-Schulung basiert auf der Erkenntnis, dass bei einer chronischen Erkrankung wie Diabetes die Betroffenen selbst mit ihrem Verhalten entscheidend den Verlauf der Erkrankung prägen. Dazu müssen sie genügend Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten haben, die ihnen in einer Diabetes-Schulung vermittelt werden.
Diabetes gibt es seit Menschengedenken, darauf deuten erste Überlieferungen wie Schriftrollen aus dem alten Ägypten aus der Zeit um 1550 v. Chr. hin. Und genauso alt sind Empfehlungen an Menschen mit Diabetes, wie sie sich mit der Erkrankung verhalten sollen: die Vorläufer der heutigen Diabetes-Schulung.
Bis in die Neuzeit kannte man weder die Ursache des Diabetes und die verschiedenen Typen noch medikamentöse Therapiemöglichkeiten. Also bestanden die Behandlungsoptionen vor allem in einer Veränderung der Ernährung und ausreichender Bewegung. Vom griechischen Arzt Aretaios von Kappadokien (ca. 81 bis 138 n. Chr.) stammt der Name „Diabetes“ (siehe folgenden Kasten) – er erkannte schon früh, dass der Ausbruch des Typ-2-Diabetes mit der Lebensweise zusammenhängt. Seine Therapievorschläge an Betroffene: Milchkuren, reiner Wein, Backobst und Abführmittel.
Paracelsus (1493 oder 1494 bis 1541 n. Chr.), der als Modernisierer der mittelalterlichen Medizin galt, sah die Ursache des Diabetes im Vorhandensein von Salzen, die die Niere vergiften und die Zusammensetzung des Blutes bei Personen mit Diabetes verändern. Seine Empfehlung: Hungerkuren und Entschlackung. Ein berühmter Satz von ihm ist gerade heute aktuell: „Der Mensch ist, was er isst.“
Ähnliche Vorschläge zur Gewichtsreduktion und maßvollen Ernährung sind von dem englischen Arzt Thomas Willis (1621 bis 1675) überliefert, der als Erster über den honigartigen Geschmack des Urins von Menschen mit Diabetes berichtete, weshalb er der Bezeichnung Diabetes den Zusatz „mellitus“ gab. Als Diabetestherapie propagierte er eine Hunger- und Milchdiät sowie dickflüssige Speisen wie Reis und Stärkeschleim, um der „Auflösung des Blutes“ entgegenzuwirken.
Bizarre Ratschläge an Diabetespatienten gab es reichlich: wie den eines berühmten Arztes aus dem 17. Jahrhundert, der empfahl, regelmäßig Gelée aus Vipernfleisch, zerbrochene rote Koralle, süße Mandeln und frische Blüten von blinden Brennnesseln zu sich zu nehmen.
Im 19. Jahrhundert gab es immer mehr medizinische Erkenntnisse über den Ursprung des Diabetes. Und es wurde zunehmend deutlich, dass der Diabetes kein einheitliches Krankheitsbild ist. 1895 gründeten die Ärzte Prof. Dr. Carl von Noorden und Dr. Eduard Lampé im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen die erste Diabetesklinik Europas, in der Patienten mit Diabetes bereits über den richtigen Umgang mit Diabetes unterrichtet wurden.
In der „Privatklinik für Zuckerkranke und diätetische Kuren“ kamen Menschen aus ganz Europa vor allem wegen der Haferkuren zur Behandlung ihres Diabetes: Carl von Noorden revolutionierte damit Anfang des 20. Jahrhunderts die diätetische Diabetesbehandlung. Von ihm stammt auch der Begriff „Weißbroteinheit (WBE)“ – ein Vorläufer der heutigen BE (Broteinheit) bzw. KE (Kohlenhydrateinheit). Die WBE sollte es Patienten erleichtern, den Kohlenhydratgehalt der Mahlzeiten selbstständig zu bestimmen.
Nach der Entdeckung des Insulins war von Noorden übrigens auch einer der ersten Ärzte in Deutschland, die Insulin zur Behandlung des Typ-1-Diabetes einsetzten, welches damals ebenfalls in Frankfurt vom Unternehmen Hoechst hergestellt wurde.
Im Jahr 1898 eröffnete der auf Diabetes spezialisierte amerikanische Arzt Elliott P. Joslin (1869 bis 1962) in Boston/USA eine Diabetespraxis, aus der später das weltberühmte Joslin Diabetes Center hervorging. Prof. Joslin war aufgrund der Erkrankung seiner Tante und Mutter persönlich motiviert, sich mit der Krankheit Diabetes auseinanderzusetzen und erkannte in der eigenen Familie die Zusammenhänge von Ernährung und Muskelarbeit. In der Praxis erfolgte schon damals eine Unterweisung der Patienten.
Drei Jahre vor Entdeckung der Insulins, 1918, schrieb Joslin das Buch „Diabetic Manual – for the Doctor and Patient“, in dem er detailliert beschrieb, was Menschen mit Diabetes selbst tun können, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen. Es war das erste Schulungsbuch für Patienten, welches, kontinuierlich überarbeitet, auch heute noch vom Joslin Diabetes Center unter dem Titel „The Joslin Guide to Diabetes“ erscheint.
Nach Entdeckung des Insulins durch Banting, Collins und Best verfasste Prof. Elliot P. Joslin 1924 den weltweit ersten Behandlungsleitfaden zur Anwendung der Insulintherapie, in dem auch die Unterweisung des Patienten – heute würde man Schulung dazu sagen – gefordert wurde. Legendär ist sein Ausspruch, „Insulin ist nichts für die Dummen, sondern für die Gescheiten“ – mit dem Zusatz, dies gelte sowohl für den Patienten, der geschult werden müsse, als auch gleichermaßen für den Arzt, der auch eine Unterweisung im Umgang mit der Insulintherapie benötige. In all seinen Publikationen forderte er schon zu der damaligen Zeit, dass die Patientenschulung ein unerlässlicher Teil der Behandlung sein müsse.
Allerdings waren damals nur wenige Ärzte von der Notwendigkeit einer Diabetes-Schulung überzeugt. Die Mehrheit vertrat die Auffassung, dass ein Patient sich nicht in medizinische Sachverhalte einmischen und sich strikt an die Anweisungen des Arztes halten sollte. Beispielhaft formulierte dies der deutsche Arzt Dr. Rehder (Altona) 1935 in seinem Buch „Anleitung des Zuckerkranken“: „Nehmen Sie Ihrem Arzt nicht übel, dass er Ihnen Beschränkungen auferlegt. Ihr Vertrauen verdient nicht der duldsamste, sondern der strengste Arzt! Niemals darf der Zuckerkranke den Arzt beliebig wechseln!“
Und der deutsche Diabetologe Prof. Dr. Ferdinand Bertram schrieb 1939 in dem Buch „Die Zuckerkrankheit“: „Die Schulung zur Selbstkontrolle ist verwerflich und im hohen Maße gefährlich“. Andersdenkende Ärzte wie der Breslauer Kinderarzt Karl Stolte (1881 bis 1951), der seinen Patienten eine bedarfsgerechte Insulintherapie bei freier Kost empfahl, konnten sich nicht durchsetzen.
Dabei klingt die Ansicht von Stolte aus der Perspektive von heute nur vernünftig: „Zuckerkranke Menschen darf man nicht behandeln wie Versuchstiere, die Tag für Tag eine genau auf das Gramm vorgeschriebene Nahrungsmenge erhalten.“ 1972 schrieb Dr. W. Kloppe im Diabetes-Journal: „Langjährige Patienten glauben manchmal, sie bräuchten eine regelmäßige Kontrolle nicht; sie seien doch wie sie sagen, schon halbe Fachleute geworden. Eine solche Auffassung ist kurzsichtig und kann schlimme Folgen nach sich ziehen.“
Von der Sinnhaftigkeit der Diabetes-Schulung überzeugt wurden viele Ärzte vor allem durch die Arbeiten der Arbeitsgruppe Leona V. Miller und Jack Goldstein in Los Angeles sowie des Arztes Dr. Paul Davidson aus Atlanta. Beide Arbeitsgruppen hatten fast zeitgleich Ende der 1960er-Jahre strukturierte Schulungsprogramme für Diabetiker in ihren Krankenhäusern eingeführt – mit messbarem Erfolg: In beiden Krankenhäusern sank nach Einführung der Schulungsmaßnahmen für Diabetiker die Zahl diabetischer Akut- und Spätkomplikationen drastisch.
Menschen mit Diabetes mussten seltener ins Krankenhaus – und wenn, dann mit deutlich kürzerem Aufenthalt. Auch am Arbeitsplatz fehlten sie weniger. Die geschulten Diabetiker hatten zudem deutlich weniger schwere Über- und Unterzuckerungen, verbrauchten weniger Insulin und Medikamente. Ferner ging die Zahl der sehr teuren Amputationen an den unteren Extremitäten zurück. So konnte in beiden Zentren nachgewiesen werden, dass die Einführung strukturierter Schulungs- und Therapieprogramme auch mit einer deutlichen Kostenersparnis einherging.
Bis heute ist in mehreren hundert Studien nachgewiesen, dass die Diabetes-Schulung sehr wirksam ist und folgende Effekte erreicht werden können:
Bis in die 1980er-Jahre war die Schulung von Patienten in Deutschland nicht üblich. Wenn sie in Ansätzen angeboten wurde, bestand sie in der Regel in Anleitungen oder Empfehlungen an Patienten, wie diese die ärztlichen Anweisungen in den Alltag übertragen sollten. Der entscheidende Impuls, die Patienten-Schulung auch in Deutschland zu etablieren, kam von dem Schweizer Diabetologen Prof. Dr. Jean-Philippe Assal, der in Genf eine Schulungsstation gründete.
In „Diabetes-Instruktions-Kursen“ regte er den Austausch und das Gespräch von Menschen mit Diabetes an und gab Patienten nützliche Tipps im Umgang mit ihrer Erkrankung. Das Schweizer Modell wurde von der Düsseldorfer Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Michael Berger und Dr. Viktor Jörgens aufgegriffen, die 1983 ein erstes strukturiertes, fünftägiges Schulungs- und Behandlungsprogramm für Menschen mit Typ-1-Diabetes im Krankenhaus umsetzte.
Im selben Jahr wurde von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) der „Ausschuss Laienarbeit“ gegründet, welcher 1991 in „Ausschuss für Schulung und Weiterbildung“ umbenannt wurde und jetzt „Ausschuss für Qualitätssicherung, Schulung und Weiterbildung“ heißt. Er hatte sich das Ziel gesetzt, die Diabetes-Schulung zu fördern und weiterzuentwickeln. Von dem Ausschuss gingen entscheidende Impulse zur Umsetzung der Schulung aus.
Ein wichtiger Meilenstein war der Beschluss, für Krankenpflegekräfte und Ernährungsberater/innen die Weiterbildung zum/zur „Diabetesberater/in DDG“ zu schaffen, um die Diabetes-Schulung zu fördern und dem gestiegenen personellen Bedarf an qualifiziertem Schulungspersonal gerecht zu werden. Der erste Kurs zum/r „Diabetesberater/in DDG“ fand 1983 unter Leitung von Prof. Berger an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf statt: Mittlerweile wurden ca. 5.050 Diabetesberater/innen und 8.600 „Diabetesassistenten/innen DDG“ ausgebildet.
Als besonders wichtiger Meilenstein zur Etablierung der Patienten-Schulung in Deutschland erwies sich das Programm für nicht insulinbehandelte Typ-2-Diabetiker von der Arbeitsgruppe von Prof. Berger: Dieses wurde ab 1991 für diabetologische Praxen eine abrechnungsfähige Leistung, mit der sowohl die Schulungsleistung durch Diabetesberater/innen als auch die Schulungsunterlagen für Patient/innen durch die Krankenkassen erstattet wurden.
Wie früher in der Schule waren die ersten Schulungsprogramme eher „Unterweisungsprogramme“ von Ärzten, wie sich Patienten mit Diabetes am besten zu verhalten hätten, um die empfohlene Therapie umzusetzen. Allerdings zeigte sich in Studien, dass diese Form der Schulung nicht sehr erfolgreich ist. Moderne Schulungskonzepte versuchen daher, Sie als Patienten aktiv in die Schulung einzubeziehen.
Gemeinsam werden in der Schulung zwischen Ihnen und dem Diabetesteam Behandlungsziele erarbeitet – und neben dem Vermitteln von Wissen und Fertigkeiten Hilfestellungen zur Verhaltensänderung und zur Umsetzung in den Alltag angeboten. „Hilfe zur Selbsthilfe“ – „Empowerment“ oder „Selbstmanagement“ – nennt man heute die Behandlungsphilosophie einer modernen Schulung. Ab Mitte der 1990er-Jahre setzte sich diese neue Form der Schulung weltweit durch.
Seit 2002 gibt es in Deutschland für bestimmte chronische Erkrankungen wie auch Diabetes die „Disease-Management-Programme“ oder kurz „DMPs“. Sicher sind auch viele Diabetes-Journal-Leserinnen und -Leser darin eingeschrieben. Die DMPs haben das Ziel, dass sowohl Sie als Patient als auch der DMP-Arzt sehr systematisch und engmaschig die Behandlung Ihres Diabetes verfolgen. In regelmäßigen Terminen wird mehrmals im Jahr gemeinsam festgestellt, ob Ihre angestrebten Behandlungsziele erreicht wurden, was auch schriftlich dokumentiert und ausgewertet wird.
Mit 4.384.702 Menschen im DMP Typ-2-Diabetes und 239.117 Menschen im DMP Typ-1-Diabetes sind Stand 30. Juni 2020 bundesweit mittlerweile die meisten Menschen mit Diabetes in DMPs eingeschrieben. In den DMP-Vereinbarungen ist festgehalten, dass teilnehmende Versicherte mit Diabetes das Recht – aber auch die Pflicht – einer Teilnahme an einem strukturierten Schulungs- und Behandlungsprogramm haben.
Mit der Corona-Pandemie wurde es für Sie als Patient wegen der Hygienevorschriften immer schwieriger, eine Gruppenschulung zu besuchen: Viele Menschen mit Diabetes mieden den Besuch einer Schulung auf Grund einer möglichen Ansteckungsgefahr. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte deshalb schon 2019 den Vertragspartnern der DMPs erlaubt, die Schulung auch per Video durchzuführen. In fast allen Regionen Deutschlands ist dies mittlerweile möglich, sehr viele Praxen bieten mittlerweile Videoschulungen regelmäßig an.
„Es ist viel passiert“, könnte man in Abwandlung eines Titelsongs einer bekannten täglichen Soap die Entwicklung der Schulung kommentieren. Die Schulung ist eine der ältesten und zugleich mit am besten untersuchten Behandlungsmaßnahmen des Diabetes. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die Diabetes-Schulung Ihnen hilft, besser mit Ihrer Erkrankung zurechtzukommen. Nutzen Sie diese Chance!
Autor:
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Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (6) Seite 18-21
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