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Warum machen viele Menschen mit Diabetes heute immer noch so vieles falsch bei der Insulininjektion? Dr. Gerhard-W. Schmeisl hat in unserer Rubrik Diabetes-Kurs die Antwort und sagt, wie man es richtig macht – je nachdem, welche Insulin-Art zu spritzen ist.
Petra M. ist eigentlich wegen orthopädischer Probleme (Wirbelsäulenbeschwerden mit Schulterschmerzen) aus Thüringen zur Reha in unsere Klinik gekommen. Da sie auch Typ-1-Diabetes seit 21 Jahren hat, wird sie mir, Internist/Diabetologe, vorgestellt. Petra M. ist 160 cm groß, wiegt 50 kg und spritzt etwa 84 E (!) Insulin täglich.
Als ich dies von ihr zum ersten Mal hörte, staunte ich und bat sie gleich, mir doch einmal Bauch und Oberschenkel zu zeigen – um zu sehen, wohin sie spritzt und welche Kanülenlängen sie verwendet! Sie wunderte sich über meine Frage und zeigte mir, dass sie diese „kurzen Nadeln“ (8 mm) verwendete, bis vor einem Jahr sogar 12-mm-Kanülen sowohl am Oberschenkel als auch am Bauch. Sie wechsle ihre Kanülen grundsätzlich alle zwei Tage.
Rechts und links unterhalb des Nabels sah man fast faustgroße „Lipohypertrophien“, in die sie regelmäßig (abwechselnd!) spritzte – seit Jahrzehnten. Am Oberschenkel sah man schon mit dem bloßen Auge rechts und links kleine Vorwölbungen. Der letzte HbA1c-Wert lag bei 9,4 Prozent – wegen häufiger Hypoglykämien, aber auch sehr hoher Blutzuckerwerte war sie nun bei uns.
Schon am Abend reduzierte ich ihre Basalinsulindosis von 40 E auf 20 E und ließ sie mit 4-mm-Kanülen in eine Flankenregion spritzen. Am kommenden Tag wurde auch das Mahlzeiteninsulin auf fast die Hälfte reduziert – und sie staunte, dass die Blutzuckerwerte trotzdem schon besser und gleichmäßiger waren!
Jahrzehntelang hat man sich, wenn es um die Insulintherapie des Typ-1- und Typ-2-Diabetes ging, hauptsächlich darum gekümmert, wie das Insulin wirkt, wie lange es wirkt, teils noch, an welcher Stelle das Insulin injiziert werden soll, damit es besser und gleichmäßiger wirkt. Aber relativ wenig hat man sich um die Injektion selbst Gedanken gemacht: Viele Studien in den letzten Jahren zeigten, dass die Art der Injektion wesentlich dafür ist, dass das Insulin auch tatsächlich so wirkt, wie man es erwartet.
In Deutschland spritzen etwa 2,5 Mio. Menschen täglich Insulin – zum Teil mehrfach. Von diesen sind 500.000 bis 600.000 Typ-1-Diabetiker, davon ca. 25.000 Kinder und Jugendliche. Die Mehrzahl aller Menschen, die täglich Insulin injizieren, sind Typ-2-Diabetiker und viele von ihnen über 60 Jahre alt. Auch von den Typ-1-Diabetikern sind schätzungsweise 180.000 Menschen bereits älter – etwa 100.000 davon sogar sehr alt – mit der besonderen Notwendigkeit einer korrekten Insulininjektion!
Viele von diesen Patienten werden Tag für Tag von Arzthelferinnen, Kranken- oder Altenpflegern sowie Helfern im Sozialdienst gespritzt. Auch für diese ist ganz wichtig, dass sie wissen, was bei der Insulininjektion eigentlich geschieht und wie sie korrekt durchgeführt wird, um das erwartete Ergebnis zu erreichen. So können sie bei den alten Menschen vor allem schwere Unterzuckerungen durch eine korrekte Insulininjektion meist vermeiden.
Bei der Injektion am Oberschenkel gelangt z. B. mit einer 12- oder 8-mm-Kanüle und wegen des häufig fehlenden Fettgewebes das Insulin oft direkt in den Muskel. Dieser wird viel besser durchblutet als das Unterhautfettgewebe, und deshalb verursacht eine Injektion in den Muskel eine viel schnellere Wirkung des Insulins als gewünscht –mit der Gefahr einer schweren Unterzuckerung!
Das beste Insulin nützt nichts, wenn es nicht den Vorgaben entsprechend als langsames (Basalinsulin, Langzeit-Analoginsulin) oder schnellwirkendes Insulin (Normalinsulin, Kurzzeit-Analoginsulin) im Unterhautfettgewebe ins Blut aufgenommen wird. Formal gesehen wird das Insulin an die falsche Stelle injiziert: nämlich in die Haut gespritzt. Eigentlich müsste es ins Gebiet der Pfortader der Leber injiziert werden. Doch dies ist natürlich nicht möglich, da die Pfortader im Inneren des Bauchraumes liegt.
Falsch, aber häufig ist das Spritzen hinein in Fettgeschwülste („Lipohypertrophien“), diese sind oft Lieblingsstellen der Betroffenen. Falsch ist auch unregelmäßiger Kanülenwechsel –diese sind Einmalartikel! Durch solche Fehler kann die Insulinaufnahme aus der Haut ins Blut von Tag zu Tag oder sogar von Injektion zu Injektion extrem variieren – ein gleichmäßiges Blutzuckerprofil wird so manchmal unmöglich.
Deshalb sollten vor jeder Änderung des Insulins (oder Insulinschemas) immer zuerst die Injektionsstellen an Bauch und Oberschenkeln nach entsprechenden Hautveränderungen untersucht, kürzere Kanülen stets nur einmal verwendet, sowie Injektionen in Lipohypertrophien vermieden werden – das sind zwei einfache Schritte, die oft schon zu deutlich besseren Blutzuckereinstellungen führen. Gleichzeitig werden so Blutergüsse vermieden sowie Schmerzen und Hauteinblutungen etc. Ein Rotationsschema, das auf die Haut aufgelegt werden kann, erleichtert das regelmäßige Wechseln des Injektionsortes!
Dem Vermeiden, in den Muskel zu injizieren (mit z. B. 12-mm-Kanülen am Oberschenkel oder Oberarm!), kommt insbesondere auch bei Verwendung der modernen Analoginsuline eine wichtige Bedeutung zu.
Insulin detemir (Handelsname: Levemir) darf auf keinen Fall in den Muskel gespritzt werden – es wirkt sonst wie ein Kurzzeit-Analoginsulin sehr schnell mit der Gefahr einer Unterzuckerung! Und es fehlt dann natürlich der Langzeiteffekt – den man eigentlich erwartet, denn man hat es ja als Basalinsulin gespritzt.
2011 wurde das erste Mal ein Leitfaden des VDBD, des Verbands der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland, nach jahrelangen intensiven Vorbereitungen vorgestellt (siehe Abb. 5 und 6). Der Leitfaden sollte dazu beitragen, eine Insulininjektion sicher und effektiv standardisiert möglich zu machen. Bis dahin wurden die Fallstricke und Probleme bei der Insulininjektion weitgehend unterschätzt, oft sträflich vernachlässigt.
Durch Computertomographie- und Ultraschall-Untersuchungen der letzten Jahrzehnte hatte man festgestellt, dass die Kutis (Lederhaut und Oberhaut) eines Menschen in der Regel nur maximal 1,2 mm dick ist. Andererseits ist bei nahezu jedem Menschen auf der Erde das darunterliegende Unterhautfettgewebe je nach Gewicht und Statur zwischen wenigen Millimetern und mehreren Zentimetern dick. Dort verlaufen jedoch die hauptsächlichen Gefäße, die das Insulin weitertransportieren sollen.
Diese Studien haben dazu geführt, dass man erkannte, dass vor allem die früher verwendeten sehr langen Kanülen mit 12 und 13 mm (aber auch schon Kanülen mit 10 oder 8 mm Länge) dazu führten, dass das Insulin nicht in das Unterhautfettgewebe injiziert wurde, sondern in vielen Fällen in den Muskel. Darüber hinaus verwenden auch heute noch viele Patienten ihre Kanülen nicht nur einmal, sondern mehrfach täglich.
Durch das mehrfache Benutzen einer Kanüle entstehen bei der zweiten Injektion oft Verletzungen im Muskel und auch im Unterhautfettgewebe. Dies führte und führt immer noch zu unerklärlichen Blutzuckerschwankungen – und wie schon gesagt zum Entstehen von Fettgeschwülsten. Die unerklärlichen Blutzuckerschwankungen und auch die Lipohypertrophien wurden im Rahmen einer deutschen Studie vorgestellt; diese wurde 2009 im Fachmagazin Diabetes, Stoffwechsel und Herz veröffentlicht.
Und obwohl dies jetzt schon wieder 7 Jahre her ist und auch entsprechende Empfehlungen veröffentlicht wurden, gibt es immer noch zahlreiche Patienten, die in Lipohypertrophien hineinspritzen und auch längere Kanülen verwenden – und diese zum Teil bis zu 8-mal benutzen. Verletzungen der Haut werden so riskiert, des Unterhautfettgewebes und auch der Muskeln! Auch manche Hautblutungen, Blutergüsse und Schmerzen sind darauf zurückzuführen.
Heute gibt es glücklicherweise mehrere Unternehmen, die sehr aufwendig konstruierte, sehr kurze, feine Kanülen herstellen und den Patienten so eine schonende, bessere und sichere Insulininjektion ermöglichen. Aber Achtung: Wenn statt in Lipohypertrophien jetzt in neue Stellen gespritzt wird, bitte sofort die Insulindosis reduzieren: um 20 bis 30 Prozent, eventuell auch mehr – sonst besteht die Gefahr, dass Unterzuckerungen auftreten!
Eine aktuelle Studie von Grassi zeigt: Regelmäßige Schulung, Kontrolle der Injektion selbst und ein Wechseln der Injektionsareale sowie das Verwenden der Kanülen als Einmalartikel – dies kann zu einer deutlichen Blutzuckerverbesserung führen. Durch eine gezielte individuelle Schulung der Betroffenen konnte eine deutliche Besserung der HbA1c-Werte, der Nüchtern-Blutzuckerwerte und auch eine Reduktion der täglichen Insulindosis erreicht werden. In dieser Studie wurden nur noch 4-mm-Kanülen verwendet ohne Bildung einer Hautfalte – sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen und Jugendlichen.
Das Fazit: Um eine optimale Insulininjektion sowohl bei Typ-1- als auch bei Typ-2-Diabetikern zu gewährleisten, sollten alle Betroffenen regelmäßig bezüglich der Insulininjektion geschult werden. Die Insulininjektion selbst sollte gelegentlich überprüft und auch die entsprechenden Spritzareale im Bauch und Oberschenkel sollten von den Betroffenen selbst wie auch von den Betreuenden untersucht werden. Entsprechend den aktuellen Empfehlungen des VDBD sollten nur noch 4- bis 6-mm-Kanülen und diese als Einmalartikel verwendet werden.
Das heißt: Die Kanüle wird nach jeder Injektion wieder sofort vom Pen entfernt. Menschen, die bereits bis heute und erfolgreich 8-mm-Kanülen verwenden, können diese aber ruhig weiterverwenden, aber je nach Injektionsort nur unter Bildung einer Hautfalte, da die Injektion sonst häufig in die Muskulatur erfolgt und damit die Wirkung nicht der erwarteten Wirkung entspricht (Unterzuckerungen häufig), außerdem Verletzungen des Muskels entstehen können.
Dass Lipohypertrophien und unerklärliche Blutzuckerschwankungen vermieden werden können, zeigen sowohl frühere als auch aktuelle Studien. Sie bestätigen allerdings auch, dass viele Menschen aus Gewohnheit oder auch aus Unachtsamkeit und Unwissenheit immer noch mehrfach ihre Kanülen verwenden und sich auch regelmäßig in die Fettgeschwülste Insulin injizieren. So kann man kaum eine gute Insulintherapie zum Vermeiden von Folgeerkrankungen erreichen, so kann man aber auch kaum Unterzuckerungen vermeiden.
Das regelmäßige Überprüfen der Spritztechnik durch die Betroffenen selbst, die Betreuenden oder das Pflegepersonal ist daher dringend angeraten und unabdingbar für eine erfolgreiche Insulintherapie.
von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist/Angiologe/Diabetologe/Sozialmedizin, Chefarzt Deegenbergklinik
sowie Chefarzt Diabetologie Klinik Saale (DRV-Bund)
Deegenbergklinik, Burgstraße 21,
97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 21-0, E-Mail: schmeisl@deegenberg.de
Klinik Saale, Pfaffstraße 10,
97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 5-01
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2016; 65 (9) Seite 32
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