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Die Therapie mit Insulinen ist für Menschen mit Typ-1-Diabetes überlebenswichtig und für immer mehr Typ-2-Diabetiker eine wichtige Therapieoption. Wie wirken Insuline, welche Ansätze für Verbesserungen gibt es, was kommt womöglich bald auf den Markt?
Der Diabetes mellitus ist zu einer weltweit verbreiteten Massenerkrankung geworden. In Deutschland werden Millionen Menschen aufgrund des Diabetes therapiert. Da die Rate der Neuerkrankungen (Inzidenz) weltweit steigt, ist eine optimierte Therapie eine der größten Herausforderungen und das Ziel der aktuellen Diabetesforschung. Die Therapie mit Insulinen ist für Menschen mit Typ-1-Diabetes überlebenswichtig und für eine zunehmende Zahl an Typ-2-Diabetikern eine wichtige Therapieoption.
Bei gesunden Menschen wird das Insulin von den Betazellen der Langerhansschen Inseln in der Bauchspeicheldrüse produziert und abhängig vom Blutzucker alle 3 drei bis 6 Minuten in die Blutbahn abgegeben. Unterschieden wird hierbei zwischen einer basalen und einer prandialen, also durch die Nahrungsaufnahme bedingten, Freisetzung von Insulin; die basale Freisetzung dient der Kontrolle des Nüchternblutzuckers, während die prandiale Insulinfreisetzung schädliche Blutzuckerspitzen nach einer Mahlzeit abdämpft.
Beim gesunden Menschen ermöglicht das Zusammenspiel von basaler und prandialer Insulinausschüttung eine Stabilisierung des Blutzuckers innerhalb der Grenzen von 60 bis 160 mg/dl (3,3 bis 8,9 mmol/l). Die Feinregulation des Blutzuckerspiegels wird durch das vegetative Nervensystem bestimmt: So wirkt der Parasympathikus fördernd und der Sympathikus hemmend auf die Insulinausschüttung. Ebenso führen Hormone aus Magen und Darm (wie Gastrin, Sekretin, GIP und GLP-1), die beim Verdauungsvorgang ausgeschüttet werden, zu einer Modifikation der Insulinabgabe durch die Betazellen.
Bei Typ-1-Diabetikern werden die insulinproduzierenden Betazellen zerstört durch ein Zusammenspiel von erblicher Veranlagung, äußeren Faktoren und einer Fehlsteuerung des Immunsystems. Dies führt zu einem absoluten Insulinmangel und hat zur Folge, dass der Betroffene auf extern zugeführtes Insulin angewiesen ist.
Auch wenn die aktuelle Forschung nach neuen Verabreichungsmöglichkeiten für Insuline sucht, werden Insuline heutzutage regelhaft in das Unterhautfettgewebe (subkutan) injiziert und von den Blutkapillaren in die Blutbahn aufgenommen; dieser Vorgang wird Resorption genannt und kann zum Teil deutlich variieren – abhängig von dem Injektionsort, der lokalen Durchblutung, der körperlichen Aktivität und weiteren gesundheitlichen Faktoren.
Die Folgen dieser Variierung sind schwankende Blutzuckerspiegel und Unterzuckerungen, die das Wohl der Patienten gefährden; darüber hinaus steigt das Risiko, Folgeerkrankungen zu entwickeln wie Netzhaut-, Nieren- oder Nervenschädigungen. Ein entscheidender Nachteil ist jedoch, dass die Aufnahme des Insulins aus dem Unterhautfettgewebe unabhängig von den Veränderungen des Blutzuckerspiegels stattfindet und hierdurch unerwünschte Blutzuckerschwankungen unumgänglich sind.
Grundsätzlich werden zwei verschiedene Insulinarten unterschieden: Die Verzögerungsinsuline decken den basalen Grundbedarf an Insulin ab, während die Mahlzeiteninsuline (prandiale Insuline) übermäßige Blutzuckeranstiege nach dem Essen vermeiden sollen.
Ein Ziel der Diabetesforschung ist es, bei der subkutanen Verabreichung von Insulin dessen natürliche Freisetzung in die Blutbahn des Körpers zu imitieren. Von dem idealen Insulin wünscht man sich bei den Basalinsulinen eine möglichst lange und stabile Wirkdauer; die Mahlzeiteninsuline sollen schnell ihren Wirkspiegel erreichen und die Blutzuckerspitzen abfangen. Bei beiden Insulinarten soll die Insulinaufnahme aus dem Unterhautfettgewebe möglichst von Tag zu Tag gleich sein, damit gefährliche Blutzuckerschwankungen ausbleiben.
Die verlängerte Wirkdauer der Basalinsuline wird durch Verzögerungssubstanzen wie Protamin, Surfen oder Zink ermöglicht, die an das Insulin gekoppelt werden. Durch die Bindung an das Eiweiß Protamin entstehen NPH-Insuline (Protaphane, Huminsulin Basal, Insuman Basal etc.), die eine Wirkdauer von 8 bis 12 Stunden erreichen. Surfen- und zinkverzögerte Insuline werden aufgrund ihrer Nebenwirkungsprofile und der sehr stark schwankenden Aufnahme aus dem Unterhautfettgewebe nur noch sehr selten eingesetzt.
Eine weitere Möglichkeit, die Wirkdauer eines Insulins zu verlängern, wird erreicht, indem man die Anordnung der Amniosäuren, aus denen Insulin besteht, abwandelt; man verändert die Primärstruktur: Diese Insuline werden als Analoginsuline oder Insulinanaloga bezeichnet und sind durch eine veränderte Aufnahme aus dem Unterhautfettgewebe charakterisiert.
Das erste Insulinanalogon mit langer Wirkdauer, Insulin glargin (Markenname: Lantus), hat im Juni 2000 seine Zulassung von der Europäischen Kommission erhalten. Da es in saurer Formulierung (pH-Wert 4) vorliegt, darf es nicht mit anderen Insulinarten gemischt werden. Die Injektion erfolgt täglich, nach ca. 3 Tagen hat sich ein stabiler Spiegel im Blut ohne Schwankungen eingestellt. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber den NPH-Insulinen ist auch die verringerte Rate an Unterzuckerungen. In vielen Studien wurde die Sicherheit dieser Insulinformulierung belegt.
Ein weiteres, in Deutschland verfügbares, langwirkendes Insulinanalogon ist Insulin detemir (Markenname: Levemir). Auch damit konnte im Vergleich zu den NPH-Insulinen ein verringertes Risiko für Unterzuckerungen (Hypoglykämien) festgestellt werden.
Die ersten Insuline hatten eine geringe Konzentration von U 40, d.h. 40 Einheiten Insulin pro Milliliter Flüssigkeit. Seit der Umstellung auf U 100-Insuline in den 1980er Jahren ist bekannt, dass die Insulinkonzentration in der Injektionsflüssigkeit die Resorptionsgeschwindigkeitim subkutanen Gewebe entscheidend beeinflusst; die erhöhte Konzentration eines Insulins verzögert die Aufnahme und verlängert dessen Wirkung. Dieses Prinzip macht man sich zunutze bei Insulin glargin in 3-fach erhöhter Konzentration: dem Insulin glargin U 300 mit Handelsnamen Toujeo.
Im Juni 2014 wurde eine Metaanalyse (Auswertung von mehreren Studien gemeinsam) von drei Phase-3-Studien (EDITION I – III) durchgeführt. Im Ergebnis zeigt sich Insulin U 300 bezüglich der Blutzuckerkontrolle dem Insulin U 100 gleichwertig; ein spürbarer Vorteil ist jedoch, dass Insulin U 300 ein flacheres Wirkprofil und eine verlängerte Wirkung hat. Dies ermöglicht eine konstantere Basalversorgung des Körpers mit Insulin, die dem physiologischen Ideal, also der Wirkung von Insulin bei Gesunden, etwas näherkommt. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass ca. ein Viertel weniger nächtliche Hypoglykämien unter der Therapie mit Toujeo auftreten.
Bei dem Basalinsulin Insulin degludec (Handelsname: Tresiba) wird basierend auf einem gering veränderten Humaninsulinmolekül eine langkettige Fettsäure angehängt. Wird das Insulin nun in das Unterhautfettgewebe verabreicht, bilden sich Multi-Hexamere: In einem Hexamer hängen jeweils sechs Insulinmoleküle zusammen und von diesen Hexameren hängen wiederum mehrere zusammen. Aus diesen Depots wird das Insulin langsam und sehr gleichmäßig freigesetzt; dadurch ergibt sich ein flaches und stabiles Wirkprofil mit einer Wirkdauer von mehr als 42 Stunden.
Neben der im Vergleich zu Lantus deutlich verlängerten Wirkung konnte die BEGIN-Studie belegen, dass bei Typ-1- und auch bei Typ-2-Diabetikern weniger Unterzuckerungen nachtsauftraten als bei Insulin glargin. Eine belgische Studie hat gezeigt, dass selbst bei unregelmäßig verabreichten Tagesdosen sich die Blutzuckerkontrolle nicht verschlechtert hat. Diese Flexibilität der Therapie gibt dem Insulin den Spitznamen “Sonntags-Ausschlaf-Insulin”. Aufgrund der höheren Kosten im Vergleich zu Humaninsulin steht dieses Insulin seit Ende September in Deutschland nicht mehr zur Verfügung.
Ein alternativer Weg, um ein möglichst konstantes und langwirkendes Basalinsulin zu erhalten, wird mit der Pegylierung erreicht: An das bekannte Insulin lispro (Markennamen: Humalog, Liprolog) werden Polyethylenglykole (PEGs) geknüpft, die die Aufnahme des Insulins aus dem Unterhautfettgewebe deutlich verzögern. Ein weiterer Effekt der Pegylierung ist die im Vergleich zu Muskel- und Fettzellen verbesserte Aufnahme des Insulins in die Leber, deren blutzuckerkontrollierende Wirkung so stärker wird.
Ermöglicht wird eine Wirkdauer von mehr als 36 Stunden mit einem flachen, konstanten Wirkspiegel und mit einer im Vergleich zu Lantus verbesserten Tagesvariabilität. So konnten Studien der Phase 3 an Typ-1- und Typ-2-Diabetikern eine gute blutzuckersenkende Wirkung und eine Verbesserung des HbA1c-Wertes mit einer deutlichen Reduktion der nächtlichen Hypoglykämien aufzeigen. Dieses Insulin befindet sich derzeit noch in umfangreichen klinischen Tests.
In tierexperimentellen Studien wurde eine neue Generation von Insulinen getestet, die nur dann in die Kontrolle des Blutzuckerspiegels eingreifen, wenn der Zuckerspiegel im Blut ansteigt. Möglich wird dies, indem das Insulin an ein spezielles Eiweiß gebunden wird. Steigt die Konzentration des Zuckers im Blut an, z. B. durch eine Mahlzeit, löst sich das Insulin vom Eiweiß und kann umgehend an den Zielzellen wirken. Das Risiko für Unterzuckerungen wird durch diesen Vorgang nahezu ausgeschlossen.
Ein Traum für alle Diabetiker und Therapeuten würde sich erfüllen. Aktuelle Studien am Menschen mit den Smart-Insulinen haben begonnen.
Bei den Langzeitinsulinen ist eine möglichst lange und konstante Wirkung gewünscht; Mahlzeiteninsuline sollen hingegen schnell wirksam werden und somit der natürlichen Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse nach einer Mahlzeit nahekommen. Auch bei den kurzwirksamen Insulinanaloga wurde die Primärstruktur des Insulins verändert, um eine rasche Aufnahme aus dem Unterhautfettgewebe und damit eine kurze Wirkdauer zu ermöglichen.
Ein weiterer Fortschritt gegenüber herkömmlichen Insulinen ist, dass Zwischenmahlzeiten wegfallen können, da Insulinüberhänge deutlich seltener sind. Aktuell sind folgende schnelle Analoginsuline verfügbar: Insulin lispro (Humalog, Liprolog), Insulin aspart (NovoRapid) und Insulin glulisin (Apidra).
Der Wunsch hier: Der Zucker soll nach einer Mahlzeit zügig in die verbrauchenden Zellen der Leber, der Muskulatur und des Fettgewebes transportiert werden und dem Körper als Energielieferant zur Verfügung stehen. Darüber hinaus soll die Insulinwirkung nach einer Mahlzeit möglichst zügig abklingen, um Unterzuckerungen zu vermeiden.
Der notwendige Zerfall der Hexamere beim Analoginsulin verzögert dessen Wirkung – daher wird beim Insulin “Viaject” durch den Zusatz von Zitronensäure und EDTA eine schnellere Spaltung der Hexamere vollzogen. Der entscheidende Vorteil ist, dass diese Einzelmoleküle deutlich schneller in die Blutbahn aufgenommen werden.
Aktuell befindet sich das Insulin in der klinischen Erprobung: Im Vergleich zu herkömmlichen Insulinen ermöglicht es einen schnelleren Wirkeintritt und eine schnellere Aufnahme aus dem Unterhautfettgewebe. Insulinüberhänge und das Risiko für Unterzuckerungen werden reduziert.
Eine weitere neue Technologie nutzt das Prinzip der Gewebeauflockerung durch den Zusatz von “rekombinanter Hyaluronidase” (Enhanze-Technologie). Das natürlich vorkommende Enzym Hyaluronidase führt zu einer kurzfristigen Auflockerung des Unterhautfettgewebes am Ort der Insulininjektion.
Die Folge ist eine schnellere Aufnahme des Insulins in die Blutbahn, so dass die Wirkung schneller erfolgt. Der Hyaluronsäurezusatz, der als Ergänzung zu den bereits am Markt befindlichen schnellen Analoginsulinen und Normalinsulinen eingesetzt werden soll, wurde auf mehreren Kongressen vorgestellt.
Neu ist die Idee eines inhalativen Insulins nicht – bis 2007 gab es ein inhalierbares Insulin in Deutschland. Jedoch wurde die Vermarktung von Exubera eingestellt. Seit Juni 2014 ist ein neues inhalierbares Insulin, Afrezza, auf dem amerikanischen Markt für Typ-1- und Typ-2-Diabetiker zugelassen. Es handelt sich dabei um ein Kombinationsprodukt aus einem Mahlzeiteninsulin in Patronenform und einem Inhalator.
Das Insulinpulver basiert auf der Technosphere-Technologie. Der Transport der Insulinmoleküle in die Lungenbläschen wird von speziellen Kristallen aus Fumaryldiketopiperazin (FDKP) ermöglicht. Da sich das Präparat rasch nach der Inhalation in den Lungenbläschen auflöst und über die Lungenkapillaren in das Blut übertritt, setzt der blutzuckerregulierende Effekt nach ca. 12 bis 15 Minuten ein, bei einer Wirkdauer von bis zu 3 Stunden. Da das Insulin ein Mahlzeiteninsulin ist, müssen insbesondere Typ-1-Diabetiker ein Verzögerungsinsulin zur Abdeckung ihres basalen Bedarfes zusätzlich injizieren.
Studien haben ergeben, dass Afrezza den HbA1c-Wert bei Typ-1-Diabetikern nach 24 Wochen weniger stark senkt als konventionell subkutan injiziertes Insulin. Jedoch erhöht das Präparat vor allem bei Patienten mit Angst oder Abneigung gegen das Spritzen die Patientenzufriedenheit und damit auch den Therapieerfolg.
Neben den inhalativen Insulinen ist die Diabetesforschung aktuell bemüht, ein orales Insulin zu entwickeln. Insbesondere bei Patientengruppen, deren Therapie aufgrund der Abneigung gegen das tägliche Insulinspritzen verbesserungswürdig ist, wäre ein Insulin in Tablettenform wünschenswert. In Studien wird aktuell ein langwirksames orales Insulinanalogon geprüft.
Da die Magensäure jedes Insulin zerstören würde, wird es von einer magensaftresistenten Kapsel (GIPET-Formulierung) umgeben, so dass die Aufnahme über den Dünndarm erfolgen kann. Zudem verspricht man sich Vorteile von dem direkten Transport des Insulins über das Pfortadersystem zur Leber.
2009 hat die amerikanische Zulassungsbehörde (FDA) ein Insulin eingeschränkt zugelassen, welches über die Mundschleimhaut resorbiert wird. Das Insulin Oral-lyn wird mit einem Applikator, der äußerlich einem Asthmaspray ähnelt, in den Mund gesprüht. Da die Mundschleimhaut gut durchblutet ist, beginnt die Insulinwirkung nach 5 Minuten und erreicht ihren maximalen Wirkspiegel nach 30 Minuten. Verfügbar ist Oral-lyn aktuell auch in Kanada, Ecuador, im Libanon und in Indien. Für die Zulassung in Deutschland werden weitere klinische Studien erwartet.
Wohin führen die Wege der Insulintherapie? In den nächsten Jahren werden zahlreiche neue Insuline für die Therapie des Diabetes mellitus zur Verfügung stehen. Es besteht der große Wunsch, sich therapeutisch möglichst nahe an die natürliche Insulinausschüttung der Bauchspeicheldrüse anzunähern, um eine effektive Blutzuckereinstellung für die betroffenen Diabetiker und Diabetikerinnen zu ermöglichen.
von Johannes Jahnke, Prof. Dr. Thomas Forst
Profil Institut für Stoffwechselforschung, Rheinstraße 4C, 55116 Mainz
E-Mail: thomas.forst@profil.com
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (10) Seite 16-23
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