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Erhöhte Nüchternblutzuckerwerte zählen bei Typ-1- wie bei Typ-2-Diabetikern zu den häufigsten Problemen im Rahmen ihrer Therapie. Es gibt viele Ursachen – und Möglichkeiten, ihnen auf die Spur zu kommen.
Eines vorweg: Blutzuckerschwankungen kommen bei Diabetikern, die Medikamente nehmen, häufig vor. Bei Typ-2-Diabetikern sind hohe Nüchternwerte nicht selten erstes Zeichen eines Insulinmangels in der Nacht bzw. eines Überwiegens des Gegenspielers des Insulins, nämlich des Glukagons; hohe Werte am Morgen sind das Ergebnis – obwohl nichts gegessen wurde.
Typ-1-Diabetiker benötigen immer Insulin: Basalinsulin und Mahlzeiteninsulin aufgrund des absoluten Insulinmangels; Blutzuckerschwankungen sind so natürlich im modernen und vielfältigen Alltag nicht zu vermeiden. Ursächlich kommen in Frage: insgesamt zu wenig Insulin, zu wenig Basalinsulin zur Nacht oder aber auch zu viel Insulin.
Bei Typ-2-Diabetikern hängen die Blutzuckerschwankungen jedoch von der Art der Therapie ab: Solange man Medikamente einnimmt, die selbst keine Unterzuckerung auslösen können, sind zumindest bedenkliche Unterzuckerungen ausgeschlossen; wer jedoch betazellstimulierende Tabletten nimmt (wie Sulfonylharnstoff, z. B. Glibenclamid), ist potentiell gefährdet, auch schwer zu unterzuckern.
Deshalb gelten heute andere Zielwerte für den Blutzuckerlangzeitwert (HbA1c) – vor allem bei älteren Typ-2-Diabetikern (z. B. über 7 Prozent bzw. 53 mmol/mol Hb), da schwere Unterzuckerungen gefährliche Folgen haben können: Herzinfarkt, Schlaganfall und mehr.
Entscheidend für das Verständnis hoher Blutzuckerwerte am Morgen (Nüchternwerte) ist der Vorabend – bzw. was Sie dort gemacht haben …einbezogen Ihr Essen und Trinken! Es macht einen Unterschied, ob man lange vor dem Fernseher sitzt und sich Chips und Soft-Drinks einverleibt – oder ob man abends noch etwas im Garten arbeitet, joggt oder Fahrrad fährt und sich danach eine “Kleinigkeit” genehmigt! Dies gilt für Typ-1- wie für Typ-2-Diabetes.
Alles, was man macht, geht einher mit unterschiedlichem Glukosebedarf und erfordert deshalb bei Typ-1-Diabetikern eine jeweils angepasste Insulingabe.
Noch mehr als bei Typ-2-Diabetikern wirkt sich bei Typ-1-Diabetikern die Abendgestaltung unmittelbar auf den Blutzuckerverlauf in der Nacht und die folgende Morgenwerte aus. Eine nicht angepasste Insulinversorgung zur Abendmahlzeit wie auch nachts in Form eines Basalinsulins hat stets Auswirkungen auf den Blutzuckerverlauf in der Nacht und den folgenden Nüchternwert.
Vor allem die Ernährung am Vorabend wirkt extrem auf den Blutzuckerverlauf in der Nacht: Es ist ein Unterschied, ob man abends eine Pizza bestellt mit reichlich Kalorien, Kohlenydraten, Fett, Eiweiß – oder ob man sich einen gemischten Salat macht. Und wie war das mit dem Alkohol?
Das Essen und die Freizeitgestaltung sollten Sie nie getrennt betrachten: Vor allem längere, stramme Spaziergänge, Joggen oder Fußballspielen am Abend können zur Entleerung der Zuckerspeicher aus der Muskulatur und der Leber führen. In der Nacht werden diese wieder aufgefüllt (Wiederauffüll-Effekt); dies verursacht ein Absinken des Zuckers im Blut – vor allem dann, wenn das Insulin spätabendlich nicht reduziert wurde.
Das Dawn-Phänomen, der Blutzuckeranstieg frühmorgens, ist bedingt durch die Gegenspieler des Insulins, die dafür sorgen, dass wir rasch wieder aktiv werden und uns auf den Tag einstellen: Nebennierenhormone, z. B. Kortisol. Diese sind bei manchen Menschen für extreme Blutzuckeranstiege morgens verantwortlich. Hohe Blutzuckerwerte nachts finden sich auch dann, wenn Menschen nachts Stress haben, häufig verursacht z. B. durch eine Polyneuropathie (Nervenerkrankung) mit starken Schmerzen und unruhigem Schlaf. Stress erhöht den Blutzucker!
Durch tageweises Anpassen des Mahlzeiteninsulins zum Abendessen bzw. Änderung des Korrekturfaktors oder mehr Basalinsulin zur Nacht kann das Problem rasch aus der Welt geschafft werden. Um all die Varianten und ihre Wirkung auf den Zuckerverlauf zu analysieren, sollten Sie systematisch den Blutzucker messen und dokumentieren: Was geht den Schwankungen voran?
Eine einzelne BE/KE zusätzlich, die nicht mit Insulin abgedeckt wurde, kann z. B. Ursache für einen erhöhten Nüchternblutzucker am folgenden Morgen sein. Vor allem dann, wenn die Spätmahlzeit fett- oder eiweißreich war, so dass die Kohlenhydrate über Nacht langsamer aufgeschlüsselt wurden. Also: Möglichst keine fett- oder eiweißreichen Spätmahlzeiten – oder diese müssen mit etwas mehr Verzögerungsinsulin zum Abendessen abgedeckt werden.
Bei Verwendung von Normalinsulin(Humaninsulin) zu den Mahlzeiten spätabends besteht außerdem die Gefahr, dass bei höheren Dosen (damit längerer Wirkdauer) und gleichzeitig hoher Insulinempfindlichkeit zwischen Mitternacht und morgens eher eine Unterzuckerungauftritt. Weitere wichtige Ursache für schwere Unterzuckerungen in der Nacht mit Gegenregulation ist zu viel Alkohol, ohne Kohlenhydrate zu essen.
Bei manchen Typ-1-Diabetikern kommt es in der kurzen Zeit von 5 bis 7 Uhr zu einem starken Blutzuckeranstieg, der in diesem speziellen Fall auf eine einfache Weise korrigiert werden kann – in der Regel reichen einige Einheiten (z. B. 2 bis 4 oder 6 Einheiten) kurzwirkendes Normal- oder Analoginsulin aus. Dieser Morgengupf darf dann nicht zu der Basalrate dazugerechnet werden und sollte auch nicht die morgendlichen BE/KE-Faktoren zum Frühstück beeinflussen.
Würde man den morgendlichen Gupf auslassen, käme es zum Beispiel zu einem starken Blutzuckeranstieg vor dem Frühstück, der in der Regel entsprechend korrigiert werden muss – dies kann zur Berechnung eines falschen BE/KE-Faktors am Morgen (mit Gefahr einer Hypoglykämie!) führen.
Durch die fehlende Insulinwirkung bei Typ-2-Diabetes wird die nächtliche Glukagonproduktion nicht mehr unterdrückt, so dass die Leber unkontrolliert und ungehindert über Nacht Zucker ausschütten kann, was zu den erhöhten Nüchternblutzuckerwerten führt. Eine der ersten Maßnahmen bei der Therapie des Typ-2-Diabetes ist daher die abendliche Gabe eines Biguanids in Form von Metformin (Glucophage, Siofor etc.) nach dem Abendessen oder später; vor allem die Zuckerneuproduktion aus der Leber wird so unterdrückt – das führt zu besseren Nüchternblutzuckerwerten.
Falls dies nicht ausreicht, ist die spätabendliche Gabe eines NPH-Basalinsulins gegen 22.30 Uhr oder eines Basal-Analoginsulins (z. B. Levemir) gegen 21 Uhr zu erwägen (oder tageszeitlich unabhängig auch Lantus oder Tresiba).
Manche Typ-2-Diabetiker erhalten auch abends zum Abendessen einen Sulfonylharnstoff (wie Glimepirid) oder auch vor dem Abendessen ein Glinid wie NovoNorm, wodurch es grundsätzlich nach dem Essen und auch nachts noch zu einem Abfall des Blutzuckers kommen kann. Deshalb sollte diese Medikation stets vorsichtig durchgeführt und anhand gelegentlicher nächtlicher Blutzuckermessungen überprüft (oder ganz abgesetzt) werden.
Wenn ein Typ-2-Diabetiker also regelmäßig morgens deutlich erhöhte Blutzuckerwerte hat, ist zunächst wichtig zu klären, ob dies tabletten- oder insulinbedingt ist. Ursache könnte sein eine nächtliche schwere Unterzuckerung mit Gegenregulation und Ausschüttung von Zucker aus der Leber – und dem damit verbundenen deutlichen Anstieg der Blutzuckerwerte am frühen Morgen. Wird dies vermutet, sollte unbedingt geklärt werden, wann der Patient sein Basalinsulin gespritzt hat und wohin (Bauch, Oberschenkel etc.).
Ein NPH-Basalinsulin sollte frühestens zwischen 22 und 23 Uhr gespritzt werden. Wird es schon gegen 18 Uhr z. B. zum Abendessen gespritzt, hat es seine Hauptwirkung bereits gegen 24 Uhr! In dieser Zeit sind wir Menschen besonders insulinempfindlich, so dass hier bereits eine Unterzuckerung mit Gegenregulation aus der Leber ausgelöst werden kann – Folge wäre ein hoher Blutzucker am Morgen.
Bei Tabletteneinnahme von z. B. Glimepirid abends spät wie auch bei einer spätabendlichen Insulingabe kann dieses Problem nur erkannt werden, wenn gelegentlich nachts um 24 oder gegen 2 oder 3 Uhr der Blutzucker getestet wird (z. B. wenn man auf Toilette geht). Wird hier bereits ein niedriger Blutzucker gemessen, so muss am nächsten Abend die Insulindosis reduziert werden, das Insulin darf nicht zu früh gespritzt werden und der Sulfonylharnstoff sollte in der Dosis ebenfalls reduziert oder sogar abgesetzt werden!
Erhöhte Nüchternblutzuckerwerte, die regelmäßig auftreten, sind sowohl in der Therapie des Typ-1- als auch in der Behandlung des Typ-2-Diabetes abklärungsbedürftig. Wegen der unterschiedlichen Behandlungen der Diabetes-Typen und der möglichen Folgen sollten die zuvor genannten Ursachen durch gezielte Blutzuckermessungen geklärt werden.
Typ-1- und Typ-2-Diabetikern könnte die zeitweise Verwendung moderner kontinuierlich messender Zucker-Sensoren (z. B. am Oberarm für 14 Tage, FreeStyle Libre) das Auffinden der eigentlichen Ursache erleichtern – gerade nachts!
von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist/Angiologe/Diabetologe, Chefarzt Deegenbergklinik sowie Chefarzt Diabetologie Klinik Saale (DRV-Bund)
Deegenbergklinik, Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 21-0 sowie Klinik Saale, Pfaffstraße 10, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 5-01
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (7) Seite 34-37
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