„Hurra, wir leben noch!“

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„Hurra, wir leben noch!“

Wolfgang hat in der Blood-Sugar-Lounge-Gruppe #wirsindviele vor Kurzem folgenden Beitrag gepostet:

Quelle: Screenshot #wirsindviele-Gruppe Blood Sugar Lounge

62 Jahre Typ-1-Diabetes – irre! Da war meine Neugierde sofort geweckt und ich habe mich lange mit dem lebensfrohen Wolfgang unterhalten, der mir von seinem spannenden Leben erzählt hat.

Darf ich vorstellen: Community-Mitglied Wolfgang Schult!

Susanne: Wolfgang, wo bist du zuhause?

Wolfgang: Ich bin gebürtiger Harzer, ein Ossi. Heute lebe ich mit meiner Frau in Greifswald.

Susanne: Du hast mit 15 Jahren Diabetes Typ 1 bekommen. Wie verlief dein Leben seither?

Wolfgang: Ich habe nach der Schule Krankenpfleger gelernt – als einziger Junge zwischen damals 35 Mädchen, danach bin ich zum Arbeiten an ein Krankenhaus nach Magdeburg gegangen. Das war das erste Mal, dass ich von zuhause weg war – und das ist mir nicht gut bekommen, weil keiner mehr auf mich aufgepasst hat und ich mit meinem Diabetes klarkommen musste. Es gab damals das Diabetikerheim in Karlsburg bei Greifswald – das Zentralinstitut für viele sozialistische Länder, das auch international anerkannt war. Dort bin ich damals hingekommen, habe dort dann auch als Krankenpfleger gearbeitet. Ich habe berufsbegleitend an der Fachschule für Gesundheitswesen in Potsdam Betriebswirtschaft im Gesundheitswesen studiert und habe dann im Gesundheitsamt von Greifswald als Verwaltungsleiter angefangen. Später habe ich noch Staats- und Rechtswissenschaften studiert und war zum Schluss kaufmännischer Direktor eines großen Gesundheitszentrums. Das habe ich alles mit meinem Diabetes und unter den damals sehr schwierigen Bedingungen geschafft.

Der „süße“ Junge mit 15 Jahren / Quelle: Wolfgang Schult

Wolfgangs Typ-1-Diabetes-Diagnose und die Behandlung

Susanne: Respekt – erzähl mir bitte mehr von deiner Diagnose im Jahr 1958!

Wolfgang: Ich war nie der Gesündeste, mich sprang schon immer jede Krankheit an. 1958 war ein heißer Sommer, ich war bei meiner Großmutter, die eine Landwirtschaft bei Stralsund betrieben hat. Dort habe ich bereits extrem viel getrunken und zurück bei meiner Mutter war es auf einmal zu spät – ich bin mit diabetischem Koma ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich hatte das Glück, damals direkt im Krankenhaus Kontakt zu einem sehr fähigen Internisten zu bekommen, der mich geschult, eingestellt und schließlich nach Karlsburg geschickt hat, wo ich die ersten Jahre jeden Sommer für sechs bis acht Wochen war. Leider war es damals unheimlich schwierig, ein geeignetes Insulin zu finden, ich habe das erste Insulin nicht vertragen, es gab Eiweißreaktionen. In Karlsburg gab es aber „modernes“ Hoechst-Insulin, eigentlich für Forschungszwecke – damals war Embargo und wir wurden auf DDR-Insulin umgestellt, das ich auch nicht vertragen habe – und damit fuhr ich bis 1968 gut. So saß ich an der Quelle von Wissen, Technik und Insulin!

Susanne: Wie sah deine Diabetes-Ausrüstung damals aus?

Wolfgang: Ich hatte einen Glaskasten mit Glasspritzen, die man auskochen und sterilisieren musste. Die Stahlkanülen habe ich häufiger verwendet als vorgeschrieben, denn die konnte damals keiner so leicht besorgen. Ich habe heute noch Spritznarben auf meinen Oberschenkeln.

Beim Insulinaufziehen mit einer Glasspritze (1960) / Quelle: Wolfgang Schult

Zur Blutzuckerkontrolle gab es damals nur einen „Glykorator“: Dafür musste man 24 Stunden lang seinen Urin sammeln, den man über einer Glasflamme gekocht und dann mit der Glykorator-Lösung getröpfelt hat. Je nach Farbe wusste man dann, ob der Blutzucker in den letzten 24 Stunden über oder unter 180 mg/dl (10,0 mmol/l), also der Nierenschwelle, gewesen ist …

Susanne: … also nur rückblickend?

Wolfgang: Richtig. Mehr war nicht möglich. Und die Einstellung war streng: pünktlich spritzen und essen, nur abgewogen essen, Verzicht und viel körperliche Tätigkeit. Aber ich habe immer schon wie ein „normaler“ Mensch gelebt, von Anfang an: Ich habe viel gearbeitet, auch körperlich, und habe versucht, richtig zu spritzen und die Sterilität dabei einzuhalten – was nicht immer möglich war.

Von der Urinzuckermessung mit „Glykorator“ bis zum ersten Blutzuckermessgerät in den 90ern

Susanne: Wie war es mit Über- und Unterzuckerungen in dieser Zeit?

Wolfgang: Die habe ich gemerkt. In Karlsburg wurde man als Neuling in eine Unterzuckerung versetzt, um die Symptome zu (er-)kennen. Diese Sensibilität hat erst nach etwa 30 Jahren nachgelassen, als insgesamt die Sensibilitätsstörungen begannen. Aber ab den 90ern kamen dann ja auch die ersten Blutzuckermessgeräte …

Susanne: Erinnerst du dich an dein erstes Blutzuckermessgerät?

Wolfgang: Ja, das war von Accu-Chek. Von Accu-Chek ist auch meine Pumpe, die ich seit vier Jahren nutze: die Accu-Chek Insight mit NovoRapid, wobei mir besonders von Anfang an der Bolusrechner gefiel. Da aber nur 150 Einheiten reinpassen und ich einen hohen Insulinbedarf habe, spritze ich meine Boli und Korrekturen immer noch separat mit Liprolog. Heute liegt mein HbA1c zwischen 6,6 und 6,9 Prozent – seit vielen Jahren. Außerdem nutze ich seit einem Jahr den Dexcom G6. Davor hatte ich den FreeStyle Libre der ersten Generation, der noch keine Warnfunktion hatte. Damit hatte ich leider das Erlebnis, dass ich mit einer „Hypo“ bewusstlos in der Küche lag. Das war schon dramatisch – mit Feuerwehr und Krankenwagen vor dem Haus. Insgesamt hatte ich bisher zwei schwere „Hypos“ mit Bewusstlosigkeit. Zum Glück passt meine Frau auf mich auf.

Wolfgangs Frau als Unterstützung

Susanne: Seit wann kennt ihr euch denn?

Wolfgang: Meine Frau war in Karlsburg Krankenschwester – und meine Chefin, als ich dort anfing. Ich bin ihr fünf Jahre lang hinterhergelaufen und schließlich haben wir geheiratet. Heute sind wir seit 55 Jahren verheiratet und da sie Krankenschwester war, besprechen wir auch so manches bezüglich des Diabetes – das ist praktisch. Als ich zum Beispiel um 4 Uhr morgens mit der „Hypo“ bewusstlos im Bett lag, ist sie auch davon aufgewacht und hat sofort richtig reagiert. Es ist wichtig, in solchen Situationen jemanden zu haben, der Bescheid weiß und richtig handelt!

Susanne: Deine Frau unterstützt dich also mit allen Kräften. Wie war das früher?

Wolfgang: Meine Mutter war eher überfordert, aber meine Großmutter hat mich toll unterstützt, immer auf mich aufgepasst und sie hat mich zu öffentlichen Vorträgen mitgenommen, wo man alles Grundsätzliche über Diabetes gelernt hat.

55 Jahre gemeinsam / Quelle: Wolfgang Schult

Susanne: Wie hat dein Umfeld damals auf deinen Diabetes reagiert?

Wolfgang: Das war äußerst kompliziert. Meine Klassenlehrerin war eine sehr überzeugte „Kriegs-Kommunistin“ – vor meiner Diagnose, als mir wegen des hohen Zuckers der Kopf während des Unterrichts auf den Tisch fiel, verstand sie das absolut nicht. Und als ich nach meiner Diagnose einmal wöchentlich zum Arzt musste – ausgerechnet immer am „Unterrichtstag in der Produktion“, als alle Schüler die Lebensweise der Arbeiter in Betrieben kennenlernten – empfand meine Lehrerin das als Affront. Und auch damals wurde man schon gemobbt: Bei meinen Mitschülern war ich der Outsider und Exot, der nie bei den Ausflügen in den Betrieben dabei war. Bis ich mit 16 Jahren meinen Motorrad-Führerschein gemacht habe – ab da hatte ich Anschluss, echte Freunde und ein fröhliches Jugendleben. Aber Gruppen und Möglichkeiten, sich mit anderen Diabetikern auszutauschen, wie es heute der Fall ist, gab es damals nicht.

Folgeschäden blieben nicht aus

Susanne: Du hast auf der Blood Sugar Lounge von deinen „Kratzern im Lack“ geschrieben. Was hast du denn für Folgeschäden?

Wolfgang: Was ich noch nicht habe, ist die Dialyse … Ansonsten fingen mit 20 Jahren Diabetesdauer die ersten Geschichten an: Seit 1980 habe ich eine Retinopathie. Damals gab es noch keine Laserbehandlungen, daher wurde die Netzhaut mit einem heißen Lichtstrahl wieder angeheftet – eine schmerzhafte Prozedur. Seither wurden meine Augen oft gelasert … heute kann ich zwar noch sehen, aber der Muskel der Augenlider ist erschlafft, deswegen fallen sie mir oft herunter. 1984 hatte ich meinen ersten Schlaganfall mit bleibenden Funktionseinschränkungen im linken Arm, 1996 begannen die Herzprobleme und 1999 hatte ich eine Bypass-Operation – mit Nahtoderlebnis. Und 2004 begann eine starke Polyneuropathie, die mich heute fast in den Rollstuhl zwingt: Ich laufe zwar zuhause und ein bisschen mit dem Rollator, aber ich schaffe es nicht mehr, 50 Meter zu gehen.

Susanne: Dein Fazit lautet trotzdem: „Hurra, wir leben noch!“ – trotz aller „Kratzer im Lack“. Diese Lebensfreude finde ich großartig …

Wolfgang: Das hat mich auch immer so weit gebracht. Ich kann gar nicht anders: Ich war und bin Optimist, habe immer diszipliniert meine Arbeit gemacht und habe lange gearbeitet.

Der „süße“ Junge heute mit 77 Jahren / Quelle: Wolfgang Schult

Susanne: Und heute bist du auch virtuell vernetzt. Wie bist du zur Blood Sugar Lounge gekommen?

Wolfgang: Durch Surfen. Ich habe durch meine berufliche Laufbahn alle technischen Entwicklungen miterlebt und genutzt und bin heute mit 77 Jahren meinen Freunden technisch voraus – wobei auch mein Wissen sehr begrenzt ist. Vor ein paar Monaten bin ich über eine Facebook-Gruppe für Typ-1-Diabetiker auf die Blood Sugar Lounge aufmerksam geworden. Bis zu meinem Post in der Gruppe #wirsindviele habe ich nur mitgelesen. Ich rede lieber, als dass ich schreibe – deshalb diktiere ich auch meine WhatsApp-Nachrichten lieber, als sie zu tippen …

Susanne: Vielen Dank für dieses spannende Gespräch, Wolfgang!


Ein weiteres spannendes Interview von Susanne findet ihr hier: Typ-2-Diabetes – und jetzt?

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