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Das war wirklich eine denkwürdige Situation neulich. Ich hatte den Auftrag, über eine Reihe von Vorträgen bei der JA-PED zu berichten, wie die gemeinsame Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (AGPD) und der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) abgekürzt genannt wird. Es war Ende Juni 2021, wegen der Corona-Maßnahmen fand der Kongress für die Teilnehmenden ausschließlich digital statt. Ich musste also über viele Stunden nonstop vor dem Rechner hocken und virtuellen Sitzungen folgen. Kein Wunder also, dass es mich zwischendurch in den Füßen juckte und ich mich ein bisschen bewegen wollte. Also verzog ich mich zwischen zwei Sitzungen kurz in den Garten, um ein bisschen herumzubuddeln und Unkraut auszureißen. Dass Gartenarbeit eine durchaus blutzuckerrelevante Angelegenheit sein kann, hatte ich ja vor ein paar Jahren schon einmal beschrieben. Während ich also in unserem Vorgarten herumturnte, spürte ich dieses typische flaue Gefühl im Magen, verbunden mit einem kleinen Schweißausbruch, mit dem sich bei mir typischerweise eine Unterzuckerung ankündigt.
Normalerweise bin ich in solchen Momenten vernünftig. Ich hole mein iPhone raus, scanne meinen FreeStyle-Libre-Sensor und esse ein oder zwei Plättchen Traubenzucker, wenn der Wert tatsächlich zu tief gerutscht ist. An besagtem Tag im Juni war ich allerdings ohne Smartphone nach draußen gegangen und konnte nicht ohne weiteres meinen Zucker messen. Traubenzucker fand ich auch keinen in meiner Hosentasche. Ich war ja nur mal kurz in den Garten gestürmt, um mich ein bisschen zu bewegen. Um vernünftig auf meine „Hypo“ zu reagieren, hätte ich meine Gartenclogs abtreten, ins Haus gehen, meine erdigen Hände gründlich waschen, mein iPhone hervorholen, meinen Glukosewert scannen und Traubenzucker essen müssen. All das erschien mir in diesem Augenblick als eine endlos lange Liste, und ich hatte einfach keine Lust, sie brav abzuarbeiten. Also buddelte ich trotz „Hypo“ weiter, viel Zeit blieb sowieso nicht mehr bis zur nächsten JA-PED-Sitzung. Als ich nach meiner Unkrautaktion wieder am Schreibtisch saß, war mein Zucker tatsächlich ordentlich in den Keller gerauscht. Ich brauchte zum Glück nicht lange, um ihn einzufangen und wieder in normale Bahnen zu lenken. Und doch hatte ich bei der dann folgenden Vortragssitzung das seltsame Gefühl, dass es dabei irgendwie um mich geht. Denn darin wurde über „Hypo“-Wahrnehmung diskutiert – und warum Menschen mit Diabetes manchmal die Symptome einer Unterzuckerung bewusst ignorieren. Ooops… da fühlte ich mich doch glatt angesprochen!
Erstmal gab es ein bisschen Nachhilfe: Wodurch genau macht sich eigentlich eine „Hypo“ bemerkbar? Und warum ist das wichtig? Also gut: Die typischen Symptome einer Hypoglykämie sind zwar lästig, doch sie können lebensrettend sein. Viele Menschen mit Diabetes spüren bereits ab einem Glukosewert von 80 (4,4) oder 90 mg/dl (5,0 mmol/l) leichte Symptome: Der Puls erhöht sich, sie fühlen sich flau, möglicherweise beginnen ihre Knie zu zittern. Ihr Körper zeigt ihnen damit, dass der Zuckerspiegel in ihrem Blut sinkt und möglicherweise bald eine kritische Grenze erreicht. Es heißt also gegensteuern: Durch die Aufnahme schnellwirksamer Kohlenhydrate (z.B. Traubenzucker, Cola oder Saft) steigt der Blutzuckerspiegel rasch wieder auf einen unkritischen Wert. Ab wann die Anzeichen einer Unterzuckerung einsetzen und ab welchem Wert eine Hypoglykämie tatsächlich gefährlich werden kann, ist individuell unterschiedlich. Doch in Fachkreisen hat man sich darauf geeinigt, ab einem Glukosewert von unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) von einer Hypoglykämie zu sprechen. Sinkt der Wert auf 60 (3,3) bis 70 mg/dl (3,9 mmol/l), setzt im Normalfall die hormonelle Gegenregulation ein: Die Leber schüttet den Gegenspieler des Insulins aus: das Hormon Glukagon, welches Glukosereserven freisetzt und damit den Blutzuckerspiegel wieder ansteigen lässt. Zirkuliert allerdings noch Insulin in der Blutbahn, werden zwar auch Glukosereserven mobilisiert, aber das Insulin tut gleichzeitig weiter seine blutzuckersenkende Wirkung. Wer sich also bei der letzten Mahlzeit verschätzt und versehentlich zu viel Insulin gespritzt hat, kann sich nicht auf darauf verlassen, dass der Körper es schon selbst richten wird. Der Glukosewert kann dann weiter sinken, sodass irgendwann das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Glukose versorgt wird – was sich entsprechend auf seine Denkleistung auswirkt. Es ist in dieser Situation kein Verlass mehr darauf, dass Betroffene sich selbst zu helfen wissen und schnell Glukose zu sich nehmen. Bei sehr tiefen Glukosewerten kann es auch zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen kommen – spätestens zu diesem Zeitpunkt ist Fremdhilfe zwingend erforderlich.
Allerdings verläuft ein Großteil der Hypoglykämien unbemerkt, warnten die Fachleute beim JA-PED. Sie werden verschlafen, nicht wahrgenommen oder scheinen keine große Rolle zu spielen. Das ist nicht ungefährlich, denn bei häufigen Unterzuckerungen zeigt der Körper weniger Symptome und setzt auch weniger zuverlässig Glukose aus den Speichern frei. Damit verkürzt sich das kritische Zeitfenster, in dem man die Glukosewerte noch ohne Fremdhilfe wieder in einen sicheren Bereich bringen kann. Wenn der Körper keinen Alarm schlägt, beeinflusst das oft auch das Verhalten: „Wenn Symptome fehlen, empfindet man auch keine Dringlichkeit“, warnten die Experten. Ich dachte an meine „Hypo“ im Garten: Nee, Symptome habe ich ja durchaus gespürt. Dass ich eigentlich hätte handeln müssen, wusste ich auch. Warum also habe ich es nicht getan?
Manchmal stecken aber auch psychische Gründe hinter schweren Unterzuckerungen, hieß es als nächstes. Denn nicht alle Menschen mit Diabetes sind immer bereit, auf Symptome zu achten und eine Hypoglykämie rechtzeitig zu behandeln. Wer sich beispielsweise schwer damit tut, seinen Diabetes überhaupt zu akzeptieren, mag sich auch nicht so gern mit einer Unterzuckerung auseinandersetzen. Dann spürt man vielleicht die Anzeichen einer Hypoglykämie, denkt sich aber, „Darauf habe ich jetzt keine Lust“ oder „Es wird schon gutgehen“. Okay, das trifft die Sache schon eher. Ich habe zwar kein grundsätzliches Problem damit, meinen Diabetes zu akzeptieren, doch in dem konkreten Moment im Garten nervte er ganz einfach. Ich hatte keine Lust, mich in meiner aktuellen Tätigkeit unterbrechen zu lassen und mich um die blöde „Hypo“ zu kümmern. Ein anderes Phänomen ist das sogenannte „‚Hypo‘-Surfen“, das bei Kindern manchmal zu beobachten ist: Dann reagieren sie absichtlich nicht auf mildere Anzeichen, sondern warten auf deutlichere Symptome – etwa, weil sie sich einen Vorteil von der Hypoglykämie versprechen, zum Beispiel mehr Aufmerksamkeit der Eltern oder die Erlaubnis, außer der Reihe zu naschen. Ich finde, das ist ein aus Sicht des Kindes absolut nachvollziehbarer Grund, eine „Hypo“ erstmal ein bisschen laufen zu lassen. Zum Glück bin ich schon erwachsen und muss mich vor niemandem rechtfertigen, wenn ich naschen möchte. Obwohl ich mich ja durchaus schon mal bei einem Gedanken ertappt habe wie „Hach wie praktisch, eine kleine ‚Hypo‘, dann werde ich doch gleich mal im Süßigkeitenfach schauen, womit ich sie beseitigen könnte…“
Ein weiterer Grund für „‚Hypo‘-Surfen“ kann nach Aussage der JA-PED-Referenten aber auch eine übersteigerte Angst vor hohen Glukosewerten und dem damit verbundenen Risiko für Folgeerkrankungen sein. Denn viele Menschen mit Diabetes haben Leitsätze verinnerlicht wie „Wenn ich meine Zuckerwerte nicht niedrig halte, werde ich an Folgeerkrankungen sterben“. Wer nach dieser Devise lebt, empfindet entsprechend nicht Hypoglykämien, sondern nur hohe Glukosewerte als bedrohlich. Dabei betonen internationale Gremien auf Basis von Studiendaten längst, dass das Risiko für Folgeerkrankungen bereits dann nicht mehr erhöht ist, wenn 70% der Glukosewerte im Zielbereich von 70 (3,9) bis 180 mg/dl (10,0 mmol/l) liegen. Die Experten zeigten sich daher besorgt über den Trend, in den sozialen Medien Bilder von möglichst niedrigen und flachen Glukosekurven zu posten: Das Streben nach 100% Zeit im Zielbereich mit möglichst niedrigen Glukosewerten setzt viele Menschen mit Diabetes unnötig unter Druck und lässt sich zumindest nicht mit dem Verhindern von Folgeerkrankungen rechtfertigen. Vielmehr erhöht es das Risiko für Hypoglykämien und entsprechende Wahrnehmungsstörungen. Ja, mit dieser Warnung kann ich auch etwas anfangen. Ich kann zwar den Impuls verstehen, eine perfekte Glukosekurve per Screenshot für die Ewigkeit festzuhalten und mit der Community zu teilen – einfach weil ein solcher Erfolg so toll ist. Ich habe das selbst auf Instagram auch durchaus schon gemacht. Aber ich weiß auch, dass mich ultragerade Verläufe bei anderen durchaus stressen können – vor allem, wenn es bei mir selbst gerade nicht ganz so toll läuft. In eine „Hypo“-Wahrnehmungsstörung hat mich das alles bislang nicht befördert. Denn zum Glück habe ich insgesamt nur selten „Hypos“ – und im Normalfall kümmere ich mich auch gleich um sie.
„Hypos“ beim Hausputz (Podcast) – auch Ramona und Katharina kennen „Hypos“ in unpassenden, aber alltäglichen Situationen.
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