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Interview mit dem Psychologen Dr. Berthold Maier: Menschen mit Diabetes begleiten und unterstützen
11 Minuten

Zuerst tätig in einem Kinderheim, dann in der Forschung, nun in der Klinik: Der Weg von Dr. Berthold Maier war abwechslungsreich. Aber egal, in welcher Tätigkeit: Für den Psychologen war und ist wichtig, dass sein Tun anderen Menschen nützt. Im Interview berichtet er über seinen Werdegang, seine Aufgaben bei der psychologischen Betreuung und Unterstützung von Menschen mit Diabetes und was er sich wünscht, damit dieser Bereich weiter gefestigt wird.
Im Interview: Dr. Berthold Maier

Ein Psychologe und Psychotherapeut mit Leib und Seele – das ist Dr. Berthold Maier. Genau genommen ist er Psychologischer Psychotherapeut und Fachpsychologe Diabetes DDG. „Das ist eine faszinierende Aufgabe, Menschen mit Diabetes zu begleiten und dabei zu erleben, wie unterschiedlich sie mit Diabetes umgehen und mit Herausforderungen im Alltag zurechtkommen.“ Dabei will sie der aus dem Schwarzwald stammende Psychologe unterstützen und ihnen auf ihrem Weg helfen.
Per Zufall in die Diabetologie
Eigentlich geriet der ursprüngliche Jugend- und Heimerzieher per Zufall in die Diabetologie. Während des Studiums der Psychologie sah er einen Aushang, dass für Kinderkurse im stationären Rahmen Praktikanten gesucht würden. Dabei traf er im Diabetes Zentrum Bad Mergentheim zum ersten Mal Professor Dr. Bernhard Kulzer, mit dem er gleich einen Kinderkurs leitete. Dieser suchte anschließend für eine Studie noch wissenschaftliche Hilfskräfte – Berthold Maier nahm die Herausforderung an. 15 Jahre lang arbeitete er in der Diabetes-Forschung – und kehrte dann zu seinen Wurzeln zurück: der Betreuung von Menschen in der Diabetes-Klinik. Sein Schwerpunkt sind die Kinder und Jugendlichen dort.
Kopf freikriegen mit Kraftquellen
Sein größter Wunsch wäre, dass auch Psychologen und Psychotherapeuten einen festen Platz in stationären Diabetes-Teams und in der ambulanten Psychotherapie bekommen – und das auch fest verankert ist in Verträgen. Hat er mal etwas Zeit, macht er „möglichst etwas, das nichts zu tun hat mit Psychotherapie, Psychologie“. Dann möchte er seinen Kopf freikriegen, mit Wandern, mit Musik, Fotografie und der Begeisterung für die Fliegerei – „das sind so meine Kraftquellen“
Diabetes-Anker (DA): Herr Maier, Sie arbeiten als Psychologe und Psychotherapeut seit einigen Jahrzehnten, muss man schon sagen, in der Diabetologie. Was fasziniert Sie an diesem Fachgebiet?
Dr. Berthold Maier: Mich fasziniert, wie unterschiedlich Menschen mit Diabetes mit den täglichen Therapieanforderungen und der lebenslangen Prognose umgehen. Wie lässt sich erklären, dass etwa ein Drittel den Diabetes gut bewältigen und nicht als Belastung erleben, während andere psychisch darunter leiden – trotz einer vergleichbaren Therapie? Das hat viel zu tun mit der eigenen Resilienz, mit Stärken und Schutzfaktoren, aber auch mit einer seelischen Verwundbarkeit, die im Laufe eines Lebens entstanden ist. Spannend finde ich, wie sich Einstellungen, Gefühle, Motivation, Glaubenssätze und die Verarbeitung lebensgeschichtlicher Ereignisse auf die Diabetesbehandlung auswirken.
Interessant finde ich auch, wie Menschen mit Diabetes mit der Technik, digitalen Hilfen und der KI umgehen. Faszinierend ist auch das direkte Wechselspiel zwischen Stress, hormonell-körperlichen Faktoren und den Glukosewerten und der Aussicht, „gesund zu bleiben“ oder Folgeerkrankungen zu entwickeln. Ein wichtiges Thema ist auch die Versorgung von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern. Und da sieht man, dass gerade die Umgebung, aber auch der Einfluss der Eltern, aber auch Talente und Fähigkeiten der Kinder ziemlich stark die Lebensqualität und auch die Prognose beeinflussen.
Da möchte man natürlich mithelfen, dass Kinder und Jugendliche stark werden, dass die Eltern stark bleiben und dass die Eltern es auch schaffen, ein Kind gut in das Erwachsenenalter zu begleiten. Und das ist, glaube ich, eine sehr sinnvolle und auch wichtige Aufgabe, damit Menschen, die jung sind und Diabetes bekommen, letztlich auch die Voraussetzungen haben, um auch später gut durchs Leben mit Diabetes zu kommen.
DA: Sind Sie ausdrücklich in die Diabetologie gegangen oder war das eher Zufall?
Dr. Maier: Das war Zufall. Irgendwann bemerkte ich in meiner Studienzeit an der Uni Würzburg einen Aushang: „Wir suchen Praktikanten für Kinderkurse im Diabetes Zentrum Bad Mergentheim.“ Schnell durfte ich Professor Dr. Bernhard Kulzer kennenlernen, mit dem ich dann gleich einen Kinderkurs durchgeführt habe. Die gemeinsame Zeit mit Kindern mit Diabetes hat mich damals sehr beeindruckt. Von Herrn Kulzer habe ich damals viel gelernt. Am Ende bot er mir an, als wissenschaftliche Hilfskraft bei einer Studie „MEDIAS 2“ mitzuwirken, wobei ich damals keine Ahnung hatte, um was es dabei ging.
Schon kurze Zeit später war ich Mitglied eines engagierten Forschungsteams. Wir führten das Schulungsprogramm MEDIAS 2 in der Region Unterfranken durch, erhoben Daten zur Wirksamkeit, publizierten die Ergebnisse und erstellten später die Schulungsmaterialien. Es folgten viele Wochenendseminare überall in Deutschland, in denen ich Ärzte und Schulungskräfte mit MEDIAS 2 vertraut gemacht habe. Nach etwa 15 Jahren mit dem Schwerpunkt Schulungsprogramme hatte ich die Möglichkeit, in die klinische Versorgung von Menschen mit Diabetes zu wechseln, also hier in die Klinik zu kommen.
DA: Das heißt, Sie haben im FIDAM (Forschungsinstititut der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim; Anm. d. Red.) angefangen und sind dann in die Klinik gegangen?
Dr. Maier: So war es, genau. Ich habe natürlich parallel immer wieder auch Patienten versorgt, einfach aus eigenem Interesse und, weil ich Spaß daran hatte. Ich wollte auch therapeutisch tätig sein. Wenn man Schulungsprogramme oder Beratungskonzepte entwickelt, ist es immer gut, wenn man selbst direkt im Kontakt mit Patienten ist und Beratung und Schulung auch selbst durchführt. So war ich 15 Jahre bei FIDAM tätig, begonnen hatte ich dort Anfang 1997, und seit Anfang 2015 bin ich Vollzeit in der stationären psychologischen oder psychotherapeutischen Versorgung tätig.
DA: Gab es einen speziellen Anstoß neben dem, was Sie eben beschrieben haben, dass sie hauptsächlich wieder Klinikarbeit machen wollten?
Dr. Maier: Im vorangegangenen Beruf war ich als Jugend- und Heimerzieher tätig, für längere Zeit auch in der Schweiz. Nachdem sich nach der FIDAM-Zeit die Möglichkeit ergab, in die Klinik zu wechseln, konnte ich dann auch den Schwerpunkt Kinder und Jugendliche zurückerobern und bin letztlich für diesen Bereich auch schwerpunktmäßig tätig. Quasi eine Rückkehr zu den Wurzeln.
„Interessant ist, dass bei einer bestimmten Gruppe von Menschen wenige Kontakte ausreichen, um entscheidende Veränderungen auf dem Weg zu bringen.“
DA: Das heißt, Sie haben erst eine Ausbildung gemacht zum Heimerzieher und dann ein Studium der Psychologie?
Dr. Maier: Ja, genau.
DA: Wenn Sie die Forschungszeit oder Schulungsentwicklungszeit und die Zeit in der Klinik gegeneinanderstellen, was macht für Sie besonders den Reiz des einen und besonders den Reiz des anderen aus?
Dr. Maier: Mich hat an der Forschung fasziniert, dass wissenschaftliche Publikationen zu Themen der Psychodiabetologie in den letzten Jahren einen unheimlichen Aufschwung erlebt haben. Es gibt hervorragende Forschungsgruppen, die sich mit diabetesbezogenen Belastungen, mit psychischen Störungen im Verbund mit Diabetes beschäftigen, zum Beispiel mit Depressionen, mit Ängsten oder auch mit Essstörungen. Das sind spannende Themen.
Die Faszination liegt auch darin, die Erkenntnisse, die in der Forschung gewonnen werden, in die Versorgung oder in Therapiekonzepte zu integrieren. Und letztlich stößt man bei der Bearbeitung eines Forschungsthemas häufig auf viele neue Themen, die noch nicht bearbeitet worden sind. Wir haben ein tolles Team mit Professor Kulzer, Professor Hermanns und Privatdozent Dominic Ehrmann und weiteren sehr engagierten Mitarbeiterinnen. Man kann sich dieser Faszination kaum entziehen, wenn man in so einem Team arbeiten darf.
Spannend ist auch der Austausch mit anderen Forscherinnen und Forschern auf verschiedenen Ebenen, sei es durch Publikationen, durch gemeinsame Studien und Projekte, oder bei Arbeitstreffen oder Kongressen. Im stationären Bereich ist es immer wieder faszinierend, zu erleben, dass Patientinnen und Patienten auch von wenigen psychologischen Gesprächen enorm profitieren können.
Trotz des kurzen Aufenthalts von zehn Tagen gewinnen manche Patienten eine hohe Motivation für Änderungen in ihrem Gesundheitsverhalten. Nicht wenige Patienten nutzen die kurze Zeit, um nachzudenken und Pläne für einen besseren Umgang mit dem Diabetes zu entwickeln. In Nachkontakten registrieren wir häufig, dass wir mit wenigen Gesprächen sehr viel bewegen konnten.
Bei vielen Patienten braucht es manchmal keine langjährige Psychotherapie mit vielen Sitzungen. Interessant ist, dass bei einer bestimmten Gruppe von Menschen wenige Kontakte ausreichen, um entscheidende Veränderungen auf dem Weg zu bringen. Das gibt eine große Bestätigung.
DA: Sie haben eben beschrieben, dass sich viele Forschergruppen jetzt um das Thema Psyche und Diabetes kümmern und dass sich da sehr viel bewegt. Dem Bereich der Psyche wurde aber in der Diabetologie lange nicht der Stellenwert zugemessen, den er hat. Besonders aus Bad Mergentheim kamen dazu viele Impulse. Warum wurde dort sehr früh erkannt, wie wichtig dieses Thema ist?
Dr. Maier: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass meine Kollegen Professor Kulzer, Professor Hermanns und andere Pioniere wie z.B. Axel Hirsch aus Hamburg im Kontakt mit internationalen Arbeitsgruppen den Mut hatten, in damals streng abgeschotteten ärztlichen Fachgesellschaften auf die besondere Bedeutung der Psyche im Leben mit Diabetes aufmerksam zu machen.
Die Amerikaner machten es bereits 1995 vor. Damals wurde Selbstmanagement oder Empowerment als Standard in den Behandlungsleitlinien verankert. Beim Selbstmanagement-Ansatz sollen Menschen mit Diabetes in der Schulung und Beratung in die Lage versetzt werden, selbst zu entscheiden, wie sie mit ihrer Therapie in Einklang mit ihrem Alltag umgehen möchten.
Diese Haltung, dass Patienten Mitsprache bei der Therapiegestaltung haben und wir sie befähigen, selbst Entscheidungen treffen zu können, nahmen die Kollegen auf, als sie das Schulungsprogramm MEDIAS 2 entwickelten. Der Begründer und damalige Chefarzt des Diabetes Zentrums Bad Mergentheim, Dr. Bergis, war auch so ein Pionier. Er war ebenfalls vom Selbstmanagement-Ansatz überzeugt und hat diesen Ansatz, der von Psychologen stammte, von Anfang an unterstützt. Als Arzt lebte er diese Haltung in der Begegnung mit Patienten. Daraus haben sich viele Impulse für die Diabetologie entwickelt.
Später gründeten Professor Kulzer und Professor Hermanns ein eigenes Forschungsinstitut. Seither untersuchten sie zum Beispiel, wie diabetesbezogene Belastungen und Depressionen und Ängste zusammenhängen, aber auch, wie Menschen mit Diabetes moderne technische Hilfen wie Glukosesensoren, Pumpensysteme und KI erleben.
DA: Welchen Einfluss haben diese Forschungsergebnisse, diese Entwicklung von Empowerment und so weiter auf die Zusammensetzung der Diabetesteams insgesamt gehabt?
Dr. Maier: Das ist ein interessanter Punkt. Seit Mitte der 80er-Jahre hat die Bedeutung von Diabetesberaterinnen und -assistentinnen in der Behandlung von Menschen mit Diabetes stark zugenommen. Ohne sie wäre Diabetologie in Deutschland nicht mehr möglich. Es sind die Diabetesberaterinnen und -assistentinnen, die beraten, coachen, schulen und Menschen begleiten – häufig über lange Jahre.
In diesem menschlichen Kontakt spielt das Konzept von Empowerment und Selbstmanagement eine tragende Rolle – in der Gesprächsführung, bei der Förderung von Therapiemotivation und in der Verringerung von Belastungen durch den Diabetes. Diabetesberaterinnen und -assistentinnen lernen diese Haltung und Fertigkeiten in ihrer Weiterbildung und tragen sie in ihre Praxen und Einrichtungen. Diabetologen haben erkannt, dass eine einfühlsame und patientenorientierte Begleitung durch Diabetesberaterinnen und -assistentinnen ein zentraler Erfolgsfaktor für die Diabetestherapie ist.
Ein anderer Faktor war die Entwicklung, dass die ambulante Diabetesschulung als Regelleistung der Krankenkassen in Versorgungsverträgen anerkannt worden ist. Und Schulung ist eine Domäne der Diabetesberaterinnen. Insofern hat auch die Erstattungsfähigkeit von Schulungsprogrammen dazu beigetragen, dass letztlich immer mehr Diabetesberaterinnen zum Team gehören.
„Aufgrund des Kostendrucks in Kliniken wird daher bei psychodiabetologischen Leistungen häufig gespart – auch aufgrund von Unsicherheiten über die Auswirkungen der Krankenhausreform. Eine fatale strukturelle Fehlentwicklung wider besseren Wissens, wie ich finde.“
DA: Und auch wahrscheinlich Psychologen und Psychologinnen zunehmend?
Dr. Maier: Leider nicht, im Gegenteil. Im stationären Bereich ist in den letzten Jahren die Beschäftigung von Psychologen als Mitglieder des Diabetesteams regelrecht abgestürzt. Gleichzeitig benötigt weiterhin ein großer Anteil von Menschen Diabetes psychologische Unterstützung. Das sehe ich besonders bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes und deren Eltern, aber auch jungen Erwachsenen. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist bei jungen Menschen immer noch schlechter als in der Zeit vor der Pandemie.
Anders als in der stationären Schmerztherapie, der Neurologie oder in der Onkologie ist es in der Diabetologie eine seltene Ausnahme, dass Psychologinnen zum Behandlungsteam dazugehören. Es ist kaum zu glauben, dass bei den stationären Fallpauschalen psychologische Leistungen für erwachsene Menschen mit Diabetes nicht erlösrelevant sind. Aufgrund des Kostendrucks in Kliniken wird daher bei psychodiabetologischen Leistungen häufig gespart – auch aufgrund von Unsicherheiten über die Auswirkungen der Krankenhausreform. Eine fatale strukturelle Fehlentwicklung wider besseren Wissens, wie ich finde.
Dasselbe Bild finden wir in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Diabetes. Es gibt keine Abrechnungsziffern für ambulante psychodiabetologische Leistungen in den DMP-Verträgen. Das hat man einfach vergessen, anders als z.B. bei DMP-Verträgen für Frauen mit Brustkrebs, wo vergütete psychologische Versorgungsangebote zum Standard gehören. Es gibt in einzelnen Regionen sehr engagierte Psychologinnen und Psychotherapeutinnen, die aus Überzeugung und intrinsischem Interesse viel psychodiabetologische Unterstützung anbieten.
Die Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie in der DDG engagiert sich in diesem Bereich sehr stark. Dennoch bereitet die fehlende Vergütung für psychodiabetologische Leistungen eine Menge Probleme. Viele Menschen mit Diabetes, die wegen psychischen Barrieren mit der Umsetzung der Therapie nicht zurechtkommen oder damit hoch belastet sind, bleiben psychotherapeutisch unversorgt. Oder Psychotherapeutinnen können die Tragweite eines Lebens mit Diabetes nicht einschätzen, weil sie sich damit nicht auskennen und nicht dafür ausgebildet sind.
Es wäre ein großer Fortschritt in der Versorgung von Menschen mit Diabetes, wenn die Empfehlungen der DDG-Leitlinie „Psychosoziales“ in Versorgungsverträgen berücksichtigt würden und psychodiabetologische Leistungen vergütbar werden – sowohl stationär als auch ambulant.
DA: An welchen Positionen oder Institutionen muss man das Bewusstsein erzeugen, dass das in entsprechende Verträge muss?
Dr. Maier: Die derzeitige Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer, Dr. Andrea Benecke, ist Fachpsychologin Diabetes DDG und Psychodiabetologin. Ein Glücksfall! Seit Jahren setzt sie sich für die psychodiabetologische Versorgung und Weiterbildung ein. Es ist ein großer Erfolg und ein Meilenstein, dass es in der neuen Psychotherapie-Weiterbildungsordnung die Möglichkeit einer Spezialisierung für Menschen mit Diabetes gibt.
Es gibt eine Weiterbildung „Spezielle Psychotherapie bei Diabetes“ für approbierte Psychotherapeutinnen und künftige Fachpsychotherapeuten. Das heißt, in der Weiterbildung von Psychotherapeuten ist das Thema Diabetes angekommen. Allerdings interessieren sich aktuell relativ wenige angehende Psychotherapeuten für die Versorgung von Menschen mit Diabetes. Sie haben ohnehin Mühe, die hohe Nachfrage nach Psychotherapie bei langen Wartefristen abzudecken. Was für ein Missstand! Gleichzeitig fehlen Vergütungen und damit Anreize und eine wirtschaftliche Grundlage für psychodiabetologische Leistungen.
DA: Welche Themen sind es konkret, die in Ihren Gesprächen mit Menschen mit Diabetes vor allem auftauchen?
Dr. Maier: Da kann ich gerade zurückblicken auf die letzte Woche. Bei zwei Jugendlichen kam es zu vermehrten Ketoazidosen, die immer wieder zur Aufnahme in die Intensivstation einer Klinik führten. Sie waren belastet durch die Trennung der Eltern, durch Gewalterfahrungen und durch schulische Probleme. Die hohe Stressbelastung, Stimmungsschwankungen und Ängste vor Folgeerkrankungen führten dazu, dass die Jugendlichen in einen Zustand der psychischen Dauerüberforderung und wiederholter Frustrationen gerieten. In Bezug auf den Diabetes entwickelten sich Wut, Angst, Hilflosigkeit und die Haltung „ich schaffe es sowieso nicht“.
Eine andere Patientin in der Leitungsposition eines Kindergartens schilderte, dass sie sich durch Personalmangel und Arbeitsverdichtung zunehmend erschöpft fühlte und dann gar keine Energie hatte, sich um den Diabetes zu kümmern. Menschen, die Dauerstress und Erschöpfung beklagen, berichten häufig, dass sie sich durch die Diabetesbehandlung überfordert fühlen.
Aktuell betreue ich eine junge Frau mit Typ-1-Diabetes, die aus Angst vor einer Gewichtszunahme während der Pubertät kaum Insulin gespritzt hat. Daraus hat sich eine schmerzhafte Neuropathie entwickelt, die sie jetzt in eine schwere psychische Krise gestürzt hat. Ein hoher Anteil von Patienten beschreiben Depressionen und Ängste, etwa vor Unterzuckerungen mit prägenden traumatischen Erfahrungen.
Letzte Woche betreute ich eine Patientin, die sehr darüber klagte, dass sie in ihrem Betrieb offen diskriminiert wurde, weil sie offen mit dem Diabetes umgegangen ist. Zunehmend häufiger versorgen wir in der Klinik Patienten mit manifesten psychischen Störungen. In den letzten beiden Wochen hatte ich vier Patienten, die einen gesetzlichen Betreuer haben, weil sie wegen einer Schizophrenie, einer Alkoholabhängigkeit oder einer Demenz nur eingeschränkt in der Lage waren, ihren Diabetes eigenständig zu behandeln.
„Wir begegnen in der Klinik immer wieder Menschen, die wegen starker Hypoängste sehr auf die Zahlen und den Trendpfeil fixiert sind und es kaum schaffen, sich auf andere Tätigkeiten zu konzentrieren.“
DA: Hypoangst oder Angst vor Folgeerkrankungen spielen weniger eine Rolle?
Dr. Maier: Hypoangst ist nach wie vor eine sehr häufige Belastung, aber das Erscheinungsbild hat sich gewandelt. Den meisten Menschen mit Diabetes gibt es viel Sicherheit, die Glukosewerte mit einem Sensor mitverfolgen zu können. Einige Patienten reagieren jedoch mit Panik, wenn auf dem Display ein niedriger Wert erscheint, mit Trendpfeil nach unten. Sie neigen dann dazu, in einer Art Essattacke viele Kohlenhydrate aufzunehmen und dabei die Kontrolle zu verlieren. Das führt dann wieder zu hohen Werten und dem Bedürfnis, aus Vorsicht mit weniger Insulin zu korrigieren.
Wir begegnen in der Klinik immer wieder Menschen, die wegen starker Hypoängste sehr auf die Zahlen und den Trendpfeil fixiert sind und es kaum schaffen, sich auf andere Tätigkeiten zu konzentrieren. Es gibt jedoch gute und etablierte Therapiekonzepte zur Behandlung pathologischer Ängste vor Unterzuckerungen oder vor Folgeerkrankungen. Unsere stationären Angebote zur Behandlung von Hypoängsten werden sehr gefragt.
DA: Wie schätzen Sie die Rolle der Diabetes Community ein im Hinblick auf solche Aspekte, aber auch allgemein im Bezug auf das Stärkerwerden der Psychologie in dem Bereich der Diabetologie?
Dr. Maier: Wir registrieren, dass psychologische Themen einen sehr breiten Raum in verschiedenen Communitys einnehmen. Neben ganz praktischen Themen wie zum Beispiel der Anwendung einer bestimmten Insulinpumpe geht es ganz häufig um das Thema Ängste, etwa zum Beispiel um den Umgang mit dem Diabetes in der Öffentlichkeit. Besonders bei jüngeren Patienten erlebe ich ein hohes Bedürfnis, mit anderen Patientinnen in Form einer Community im Austausch bleiben zu können.
Als Psychotherapeut kann es sehr wertvoll sein, diesen Communitys zu folgen und selbst darin eigene Beiträge einzubringen. Einige KollegInnen von mir machen das sehr erfolgreich. Die Reichweite dieser Beiträge ist häufig enorm – ebenso auch die Reaktionen aus der Community. Ich bin überzeugt, dass soziale Medien für Menschen mit Diabetes wichtig sind, um im gegenseitigen Kontakt Entlastung und Hilfe zu erfahren und letztlich den Diabetes besser akzeptieren zu können.
DA: Wenn Sie neben Ihrer vielen Arbeit, wozu das ja auch gehört, mal Zeit haben, was machen Sie dann in Ihrer Freizeit gern?
Dr. Maier: Möglichst etwas Inkompatibles zu Psychotherapie und Psychologie. Den Kopf freikriegen, mit Wandern, mit Musik, Fotografie und der Begeisterung für die Fliegerei – das sind meine Kraftquellen. Für einige Jahre war der Einsatz im Rettungsdienst ein spannender Ausgleich. Viele Dinge, die ich in dieser Zeit erlebt habe als Notfallpsychologe, kann ich heute auch für die klinische Arbeit nutzen.
DA: Was ist Ihr größter Wunsch in Bezug auf Ihre Tätigkeit mit Menschen mit Diabetes?
Dr. Maier: Mein größter Wunsch wäre, dass Psychologinnen und Psychotherapeutinnen einen festen Platz in der Versorgung von Menschen mit Diabetes bekommen. Jeder Mensch mit Diabetes, der stationär oder ambulant behandelt wird, sollte das Angebot haben, psychodiabetologische Hilfe zu erhalten. Psychodiabetologische Leistungen sollten endlich in den stationären Fallpauschalen, aber auch in die DMP-Verträge für Typ-1- und Typ-2-Diabetes aufgenommen werden. Und: ganz viele Praxisschilder niedergelassener Kollegen mit der Aufschrift „Spezielle Psychotherapie bei Diabetes mellitus“.
DA: Herzlichen Dank, Herr Dr. Maier!
Interview: Dr. Katrin Kraatz
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