„Schwer einstellbar“ – Insulin wirkt immer wieder unerwartet

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„Schwer einstellbar“ – Insulin wirkt immer wieder unerwartet

Insulin als Medikament ist für Millionen Menschen mit Dia­betes lebensnotwendig. Sie spritzen es sich regelmäßig. Bei Typ-1-Diabetes erfolgen die Insulingaben meist vielfach täglich wegen des absoluten Insulinmangels. Bei Typ-2-Diabetes reicht oft zuerst die einmal tägliche Gabe, als Ergänzung zu „Dia­betestabletten“, später können es auch mehr Injektionen am Tag werden.

Der Fall
Petra M. ist 42 Jahre alt und hat einen Typ-2-Diabetes, der seit 8 Wochen zusätzlich zu den Tabletten mit Insulin behandelt wird. Nachdem die Blutzuckereinstellung in der Klinik im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme relativ gut war, kommt sie die letzten 3 Wochen nicht mehr zurecht – ihr Blutzucker schwankt erheblich (zwischen 100 und 250 mg/dl bzw. 5,6 und 13,9 mmol/l), er ist aber eigentlich meist zu hoch.

Nachdem sie ihren aktuellen Insulinpen überprüft hat und der in Ordnung ist, sieht sie auch nach der Originalpackung mit den weiteren Pens, die normalerweise im Gemüsefach ihres Kühlschranks lagern. Hier muss sie feststellen, dass ihre 12-jährige Tochter die Originalpackung wohl nach den letzten Einkäufen – gut gemeint – in das Eisfach gelegt hat. Petra M. weiß aus der Schulung im Krankenhaus, dass Insulin dabei seine Wirkung verlieren kann.

Nach Verwenden eines neuen Pens aus einer frischen Packung aus der Apotheke normalisieren sich ihre Blutzuckerwerte in den nächsten Tagen fast völlig. Ihrer Tochter hat sie inzwischen erklärt, dass Insulin nicht gefrieren darf.

Bei der Injektion, aber auch durch das verwendete Insulin selbst drohen einige „Fallstricke“, die einen möglichst gleichmäßigen Glukoseverlauf erschweren oder sogar unmöglich machen können. Einige dieser Fallstricke werden im Folgenden besprochen.

Hohe Blutzuckerwerte am Morgen

Morgendlich hohe Blutzuckerwerte können bei Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes die gleichen Ursachen haben – meist sind sie jedoch unterschiedlich. Die Gründe für erhöhte Blutzuckerwerte am Morgen liegen in der Regel am Vorabend oder in der vorausgegangenen Nacht.

Hohe Morgenwerte bei Typ-2-Diabetes

Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes gibt die Leber unkontrolliert und ungehindert über Nacht Zucker ins Blut ab, was zu erhöhten Blutzuckerwerten morgens führt – obwohl man noch nichts gegessen hat. Ursache ist, dass Glukagon – ein Gegenspieler des blutzuckersenkenden Insulins – in der Nacht die Leber anregt, Zucker abzugeben. Eine der ersten Maßnahmen bei der Therapie des Typ-2-Dia­be­tes ist daher die abendliche Einnahme des Wirkstoffs Metformin nach dem Abendessen oder auch spät vor dem Zubettgehen, was insbesondere die Neuproduktion von Zucker in der Leber (Glukoneogenese) unterdrückt und zu niedrigeren Nüchtern-Blutzuckerwerten

führt. Die spät­abend­liche Gabe eines langwirkenden Insulins ist dann sinnvoll, wenn Tabletten nicht mehr ausreichend den Nüchtern-Blutzucker senken können. Verwenden kann man hierfür ein mit Neutralem Protamin Hagedorn verzögerten Humaninsulin (NPH-Insulin) oder ein langwirkendes Analoginsulin wie Insulin detemir. Tageszeitlich unabhängig ist auch die Injek­tion von Insulin glargin oder Insulin degludec möglich.

Vorsicht: Wenn zusätzlich abends zum Abendessen eine Tablette mit einem Sulfonylharnstoff (z. B. Glimepirid eingenommen wird, kann es in der Nacht zu einem Abfall des Blutzuckers kommen.

Hohe Morgenwerte bei Typ-1-Diabetes

Vielen bekannt ist das Dawn-Phänomen. Dieses Morgendämmerungs-Phänomen beschreibt einen frühmorgendlichen Blutzuckeranstieg, der ausgelöst ist durch das morgendliche Ausschütten von Wachstumshormon und Kortisol, die den Blutzucker erhöhen. In der Regel reichen wenige Einheiten kurzwirkendes Insulin aus, um einen starken Blutzuckeranstieg gegen Morgen abzufangen. Diese müssen in den frühen Morgenstunden gespritzt werden und werden deshalb als Morgengupf bezeichnet.

Diese Einheiten dürfen nicht zur Dosis des Basalinsulins dazugerechnet werden und sollten auch nicht die Kohlenhydrat-Faktoren zum Frühstück beeinflussen. Ohne morgendlichen „Gupf“ kommt es oft zu einem starken Blutzuckeranstieg vor dem Frühstück, der in der Regel entsprechend korrigiert wird – dies kann zur Berechnung eines falschen Kohlenhydrat-Faktors am Morgen mit Unterzuckerungsgefahr führen. Bei einer Insulinpumpentherapie kann die Basalrate entsprechend programmiert werden, um den morgendlichen Anstieg zu verhindern.

Stress in der Nacht und Abendmahlzeit

Hohe Blutzuckerwerte finden sich auch, wenn Patienten in der Nacht Stress haben. Dieser kann auch durch eine aufgrund des Diabetes entstandene Nervenerkrankung (Polyneuropathie), die mit starken Schmerzen und unruhigem Schlaf einhergeht, ausgelöst sein. Stress erhöht meist den Blutzucker. Auch die Abendmahlzeit kann die morgendlichen Blutzuckerwerte erhöhen. Enthält sie viel Fett und Eiweiß, wie bei einer Pizza, ist oft zusätzlich Insulin dafür nötig. Dieses Zusatz­insulin berechnet man als Fett-Protein-Einheiten – Ihr Diabetesteam kann Ihnen hierzu weitere Informationen geben.

Eine beachtenswerte Ursache für mögliche schwere Unterzuckerungen in der Nacht mit Gegenregulation – und damit einem Blut­zucker­anstieg am Morgen – ist viel Alkohol am Abend bei fehlender Nahrungsaufnahme. Allerdings kann gerade in dieser Situation der Blutzuckeranstieg auch ausbleiben, weil die Leber mit dem Abbau des Alkohols beschäftigt ist – dies kann lebensgefährlich sein!

Tiefe Werte bei ­Typ-1-Diabetes

Unerwartet niedrige Blutzuckerwerte in der Nacht können durch längere körperliche Aktivitäten wie Joggen oder Fußballspielen am Abend entstehen. Durch die intensive Bewegung können sich die Zuckerspeicher in der Muskulatur und der Leber entleeren, die in der Nacht wieder aufgefüllt werden (Wiederauffülleffekt). Dadurch kann es zu einem bedenklichen Absinken des Zuckers im Blut kommen. Vorbeugend kann man die spätabendliche Insulindosis reduzieren.

In der Pubertät …

Wie bereits beschrieben, haben andere Hormone als Insulin ebenfalls Einfluss auf die Insulinwirkung. Dies zeigt sich besonders auch in der Pubertät. Durch die Veränderung des Hormonhaushalts in dieser Phase auf dem Weg zum Erwachsenwerden kann die Insulinwirkung schwer kalkulierbar sein, trotz aller Bemühungen. Insulin wirkt also auch alters­abhängig unterschiedlich.

Was für alle Diabetestypen gilt

Wenn die Dosis des am Abend gegebenen Basalinsulins zu hoch ist, kann es auch zu schweren nächtlichen Unterzuckerungen mit Gegenregulation kommen, sodass die Ausschüttung von Zucker aus der Leber zu einem deutlichen Anstieg der Blutzuckerwerte am frühen Morgen führt. Wird dies vermutet, sollte zum einen geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt der Patient sein Basalinsulin gespritzt hat und in welche Körperregion (Bauch, Oberschenkel etc.).

Ein NPH-Insulin sollte nie vor 22 Uhr gespritzt werden – wegen der starken Wirkung bereits nach einigen Stunden, sodass die Hauptwirkung in die Zeit fallen kann, in der der Körper sehr insulinempfindlich ist und nur wenig Insulin benötigt. Und es sollte nicht in den Bauch gespritzt werden, weil es hier schneller wirkt als im Oberschenkel. Dieses Problem kann nur erkannt werden, wenn gelegentlich gegen 2 oder 3 Uhr der Blutzucker gemessen wird. Ein niedriger Blutzuckerwert sollte Anlass sein, am kommenden Abend die Insulindosis zu reduzieren.

Insulin in „Beulen“ und Muskeln

Insulin wird ins Unterhautfettgewebe, also subkutan gespritzt. Das kann bei unsachgemäßer Anwendung zu Blut­zuckerschwankungen führen. Normalerweise wird Insulin in den Betazellen in den Langerhans-Inseln der Bauchspeicheldrüse produziert und in das Pfort­ader­system (Blutgefäßsystem der Leber) abgegeben – und zwar abhängig vom aktuellen Blutzuckerwert.

Die heutigen Analoginsuline können als langwirkende und als kurzwirkende Insuline die normale Insulinwirkung schon recht gut, aber noch nicht wie beim Gesunden nachahmen. Um der Insulinwirkung bei Gesunden, also der Physiologie, immer näher zu kommen, werden weitere Insuline entwickelt. So ist aktuell ein Basal­insulin in der Entwicklung (Insulin icodec), das nur einmal pro Woche gespritzt werden muss. Auch die schon vorhandenen sehr schnellen Mahlzeiteninsuline wie das schnellere Insulin lispro (Lyumjev) und das schnellere Insulin aspart (Fiasp) ermöglichen eine physiologischere Blut­zuckersenkung nach den Mahlzeiten.

Die Wirkung von Insulin kann auch verändert sein, wenn man in Fettgewebs-Wucherungen (Lipohypertrophien) spritzt. Diese harten „Beulen“ entstehen, wenn regelmäßig dieselben Stellen für die Injektion genutzt werden. Wegen der schlechteren Durchblutung dieser Gebiete wird die Insulinwirkung unberechenbar. Beschleunigt und damit ebenfalls unberechenbar wird die Insulinwirkung, wenn man versehentlich in den Muskel spritzt – wodurch ein höheres Risiko für Unterzuckerungen entsteht.

Injektion und Lipohypertrophien (Fettgeschwülste)


Das beste Insulin nützt nichts, wenn es nicht den Vorgaben entsprechend gespritzt und über das Unterhautfettgewebe ins Blut aufgenommen wird. Durch häufiges Spritzen in Fettgewebsgeschwülste (Lipohypertrophien) kann die Insulinaufnahme ins Blut von Tag zu Tag oder sogar von Injektion zu Injektion extrem variieren – ein gleichmäßiger Blutzuckerverlauf wird so manchmal unmöglich. Solche Lipohypertrophien entstehen, weil man oft in seine „Lieblingsstellen“ spritzt und/oder nicht vor jeder Injektion die Kanüle, die ein Einmalartikel ist, wechselt.

Sehen Sie sich Ihre Spritzgebiete einmal genau an und befühlen Sie sie – denn Lipohypertrophien kann man selbst feststellen – und zeigen Sie Ihre Spritzstellen bei jedem Besuch in der Praxis dem Diabetesteam, bevor über eine Änderung der Insulintherapie nachgedacht wird. Der Einsatz kürzerer Kanülen, die stets nur einmal verwendet werden, sowie das Vermeiden von Injektionen in Lipohypertrophien führt manchmal schon zu deutlich besseren Blutzuckerverläufen – gleichzeitig lassen sich so Blutergüsse, Schmerzen, Hauteinblutungen etc. verhindern.

Lagerprobleme und Lieferketten

Bei kühlpflichtigen Arzneimitteln wie dem Eiweiß Insulin ist auch die Temperaturkontrolle wichtig. Dies gilt auch für die Lieferketten, auf die man sich verlassen können muss. Insulinvorräte sollten konstant zwischen 2 und 8 °C gelagert werden, damit die Qualität nicht leidet und einer sicheren Anwendung nichts im Weg steht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und auch die Europäische Kommission geben Leitlinien für die „gute Vertriebs­praxis“ heraus, die eine Kontrolle der Kühlkette stets ermöglichen.

Oft müssen lange Transportwege, auch über die Äquatorialregion mit hohen Umgebungstemperaturen, berücksichtigt werden. In der Apotheke angekommen, muss das Insulin vor der Einlagerung kontrolliert werden, ob die Kühlkette eingehalten wurde. Erst danach erfolgt die Lagerung in Spezialkühlschränken mit alarmgesicherter Temperaturüberwachung. Bei Lieferung des Insulins direkt nach Hause per Post oder Kurier muss besonders aufgepasst werden, vor allem bei starken Temperaturschwankungen.

Packungsbeilage beachten

Wird Insulin zu Hause bei Raumtemperatur gelagert, auf jeden Fall unter 30 °C, sollte es innerhalb der in der Packungsbeilage angegebenen Zeitspanne verbraucht werden. Für Insulin in Insulinpumpen wird eine maximale Temperatur von 37 °C vorgegeben. Nach der ersten Benutzung einer Insulinpatrone oder eines Insulinpens sollte das Insulin, gelagert bei Raumtemperatur, ebenfalls innerhalb der in der Packungsbeilage angegebenen Zeitspanne verbraucht werden. Diese Zeitangaben können merkwürdigerweise je nach Land, in dem ein Insulin vertrieben wird, variieren.

Wenn Insulin einfriert oder zu heiß wird, droht eine Zerstörung der Struktur des Insulins. Das kann dazu führen, dass es nicht oder nicht mehr ausreichend den Blutzucker senkt. Die Temperaturen in Haushaltskühlschränken sind laut Studien nicht selten nahe dem Gefrierpunkt mit der Gefahr des Gefrierens von Insulin. Auch während des Urlaubs in einem Minikühlschrank muss man aufpassen. In Kühlboxen ist der direkte Kontakt des Insulins mit Eiswürfeln oder Kühlakkus zu vermeiden.

Inzwischen werden spezielle Temperatursensoren angeboten, mit denen man die Temperatur im Kühlschrank in der Nähe des Insulins kontinuierlich kontrollieren und bei Bedarf gewarnt werden kann. Um Insulin vor extremer Hitze zu schützen, gibt es auch Penaufsätze zum Kühlhalten des Insulins.

Fazit

Die korrekte Handhabung von Insulin – mit allen Tücken – ist eine der Voraussetzungen für gute Blutzuckerverläufe und Voraussetzung, um die Vorteile des Insulins sinnvoll zu nutzen.

Zusammenfassung


Wenn Blutzuckerschwankungen – insbesondere unerklärliche – immer wieder vorkommen, sollte man zunächst an die in diesem Artikel beschriebenen Punkte denken und gegebenenfalls deren Ursachen ausschalten. Neuere Insuline, Hilfsmittel wie Pens, bessere Kanülen und neue Methoden zum Messen von Blut- und Gewebezucker helfen dabei. Geben Sie sich nicht damit zufrieden, wenn jemand sagt: „Es ist halt manchmal so.“ Ein guter, gleichmäßiger Blutzuckerverlauf ist heute meist möglich – auch dank Insulin!

Autor:

Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist, Angiologe, Diabetologe und Sozialmediziner
ehem. Lehrbeauftragter der Universität Würzburg und Chefarzt Deegenbergklinik
PrivAS Privatambulanz (Schulung)

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (12) Seite 32-35

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