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Fast alle Menschen ernähren sich anders, wenn sie über längere Zeit mit Stress oder negativen Emotionen wie Ärger, Unsicherheit oder Angst konfrontiert sind. Kennen Sie das auch? Sicher!
Wie schon das Sprichwort „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“ ausdrückt: Was wir essen und trinken, beeinflusst nicht nur unseren Körper, sondern auch die Psyche. Unsere Gefühle beeinflussen das Essverhalten auf vielfältige Weise – Liebeskummer schlägt auf den Magen, und Prüfungsstress weckt Heißhunger auf Knabbereien; umgekehrt verändert auch Essen die Gefühlslage. Das beste Beispiel ist Schokolade, die sich oft als Tröster in der Not erweist und Glücksgefühle auslösen kann.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Stress bei den allermeisten Menschen einen großen Einfluss auf das Essverhalten hat: Manche essen und trinken mehr, manche weniger – die allermeisten essen anders. Personen mit Übergewicht essen in Stressphasen zumeist mehr und greifen häufiger zu kalorienreichen Lebensmitteln wie Schokolade, Keksen oder Chips.
Und auch die Bewegungsvorsätze kommen nicht selten ins Trudeln, wenn der Stress zunimmt. Langfristig ist es daher wichtig, dass übergewichtige Menschen Situationen, die bei ihnen mit zu viel Essen verbunden sind, einmal kritisch hinterfragen – und nach alternativen Strategien suchen, um mit diesen Situationen besser umzugehen.
Wahrscheinlich sind ganz alte Programme des Menschen dafür verantwortlich, dass Menschen bei Stress anders essen. Denn Stress war früher und ist auch heute noch überlebenswichtig. Stress versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, und die Stresshormone wie Adrenalin und Kortisol ermöglichten dem Menschen der Vorzeit bei einer Bedrohung – etwa durch ein Mammut –, schnell wegzulaufen oder zu kämpfen.
„Fliehe oder kämpfe“ war eine Art Überlebensprogramm für die Menschen der Frühzeit. Im Moment der akuten Gefahr hatten sie überhaupt keinen Appetit, versuchten in der darauffolgenden Ruhephase, sich die Energie mit rasch resorbierbaren, möglichst süßen Lebensmitteln schnell wieder zu holen, die sie bei einer möglichen Flucht oder einem Kampf verbraucht hatten.
Und heute? Der Stress ist im Laufe der Evolution völlig anders geworden, aber über zu wenig Stress können wir in unserer heutigen Zeit nicht klagen. Es ist viel weniger akuter als chronischer Stress, der uns heute zusetzt. Aber auch heute noch werden bei Stress vermehrt Stresshormone wie Kortisol freigesetzt, die vor allem bei chronischem Stress das Appetitempfinden verstärken, obwohl der Körper eigentlich überhaupt keine Nahrung benötigt.
Denn der Stress von heute verbraucht weit weniger Energie als eine Flucht oder ein Kampf zu Vorzeiten – jedoch reagiert unser Körper noch nach dem alten Muster. In stressigen Zeiten signalisiert unser Gehirn dem Körper, sich mit ausreichend Energie zu versorgen. Und das ist eigentlich genau das, was Sie bei dem Vorhaben, abzunehmen, nicht gebrauchen können …
Oft steigt in stresshaften Situationen auch die Lust auf Süßes. Warum? Das hängt mit unserem Belohnungssystem zusammen, welches ebenfalls unser Essverhalten beeinflusst – und Süßes ist mit positiven Gefühlen assoziiert.
Auch das hat evolutionäre Wurzeln: Schon Neugeborene bevorzugen die Geschmacksqualitäten süß und umami (würzig), während Bitteres und Saures mit Vorsicht genossen wird. Süßigkeiten oder schnell greifbare Sachen zum Essen haben leider einen recht großen Nachteil: Sie haben viele Kalorien und machen nicht wirklich satt.
Und noch eine Sache ist bei Stress in puncto Essen nachteilig: Stress erhöht die Impulsivität und reduziert geplantes Verhalten. So ist auch die Kontrolle über unser Essverhalten reduziert – und Essen soll eher negative Emotionen regulieren. Wahrscheinlich kennen auch Sie Situationen, in denen Sie ganz gegen Ihre eigentlichen Absichten in den Kühlschrank oder ins Süßigkeitendepot greifen, damit Sie danach eine bessere Stimmung haben.
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Ich esse oft, obwohl ich eigentlich nicht wirklich hungrig bin. | ☐ | ☐ |
Ich esse mehr, wenn ich negative Gefühle habe – traurig, überfordert, wütend, einsam etc. | ☐ | ☐ |
Ich esse mehr, wenn ich mich unwohl fühle. | ☐ | ☐ |
Mir fällt es schwer, mich bei Stress oder auch Langeweile von Lebensmitteln fernzuhalten. | ☐ | ☐ |
✓ | Wenn Sie alle Fragen mit „Nein“ beantwortet haben, sind Sie kein „Stressesser“. | |
✗ | Wenn Sie mindestens eine der Fragen mit „Ja“ beantwortet haben, spielt Stress für Ihr Essverhalten eine große Rolle – je mehr Fragen Sie bejaht haben, desto stärker ist dieser Zusammenhang. Sie sollten sich Gedanken machen, wie Sie die emotionalen Gründe für Ihr Essverhalten in den Griff bekommen könnten. Hilfreich hierfür ist es, einmal über 1 Woche ein Ernährungsprotokoll zu führen, um für Sie typische Situationen herauszufinden, in denen Stress und negative Gefühle Ihr Essverhalten steuern (Ernährungstagebuch downloaden). |
Zusätzlich verändern wir im Stress – ohne dass uns dies so deutlich bewusst ist – unser Essverhalten und auch den Tagesablauf. Meist ist das für das Vorhaben, abzunehmen, nicht unbedingt förderlich: Wenn Sie wenig Zeit für das Essen haben, steigt das Risiko, eher unkontrolliert zu essen und häufiger zu Fast Food zu greifen.
von Prof. Dr. phil. Bernhard Kulzer
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM),
Diabetes Zentrum Mergentheim, 97980 Bad Mergentheim
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2020; 69 (1) Seite 24-25
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