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Mit 21 Jahren – in der „Sturm- und Drangphase“ – habe ich Typ-1-Diabetes bekommen. Da ich die einzige Diabetikerin in der Familie bin, existierten um mich herum nur die gängigen Klischees, die eher auf Typ-2-Diabetes passen. Außer „gefährliches Halbwissen über Diabetes“ hatte ich also keine Ahnung von meiner Krankheit und war maßgeblich über so eine „gesundheitliche Bremse“ gefrustet. Vor allem aber hatte ich alles andere im Kopf als einen geregelten und gesunden Lebensstil.
Ich verbrachte viele Semester und Jahre im Ausland, wo mich und meine Krankheit keiner kannte. Ich wollte niemandem meine Krankheitsgeschichte auftischen und Menschen dadurch abschrecken. Ferner wusste ich damals noch herzlich wenig über ein sorgfältiges Equipment und was man alles braucht – daheim und für unterwegs. Notfall-Utensilien sagten mir nichts, denn durch meine „Honeymoon-Phase“ kurz vor Abreise ins Ausland empfand ich meinen Diabetes (noch) als ziemlich unerheblich.
Im Ausland angekommen litt ich an chronischem Geldmangel. Drei Jobs neben dem Studium mussten für die Studiengebühren, die Bücher, Kopien und die Miete aufkommen. Nicht einberechnet waren Notarzteinsätze oder gar Krankenhausaufenthalte – denn ich war zuvor nie krank gewesen und wähnte mich darum in meiner kindlich-souveränen Einstellung in Sicherheit.
Morgens um 5 Uhr begann meine Frühstücksschicht in einem Hotel. Danach rannte ich zu den Vorlesungen. Zwischendurch übersetzte ich für einen zweiten Job Briefe und Dokumente. Am Abend übernahm ich wieder Bar-, Restaurant- oder Bankettschichten in dem Hotel. Der Job gefiel mir am besten, denn er sorgte gut für mich: Ich konnte dort praktisch alles kostenfrei essen und trinken.
Vornehmlich am Wochenende (das ab ca. Mittwoch bei vielen Studis eingeläutet wurde) fanden unzählige Studenten-Partys in den Clubs statt. Die Eintritte konnte ich mir absolut nicht leisten. Glücklicherweise gab es aber „Promotion Jobs“ und verschiedene Events, zu denen man in den Clubs Werbeartikel und „Shots“ verteilen durfte. Obwohl ich chronisch pleite war, wollte ich nichts verpassen. Schließlich sagten alle Älteren um mich herum im Mantra, dass die Studentenzeit ja schließlich die schönste Zeit im Leben sei.
Obwohl man angesichts des jungen Alters sicherlich noch ein hohes Energielevel hat, ging der Stress an mir und meinem Blutzucker nicht spurlos vorbei. Da ich noch nicht lange Diabetes hatte, war ich noch nicht mit allen Symptomen meines Körpers vertraut, ich hatte keinerlei Routine oder Erfahrung und versuchte, viele Körper-Signale genervt zu ignorieren. So schob ich Müdigkeit immer auf meinen Lebensstil, Kopfdruck und Übelkeit auf zu viel Alkohol und Schwitzanfälle hielt ich für Nebenwirkungen von Stress.
An einem Tag bekam ich schließlich meine Periode – sie war außergewöhnlich stark und alleine der Blutverlust machte mir und meinem Kreislauf sehr zu schaffen. Wie immer war mein Tag von einem Dauerlauf geprägt und ich kämpfte mich müde und geschwächt durch jede Stunde des Tages. Immer wieder ereilte mich im Laufe dieses Tags eine „Hypo“, und wenn ich es bemerkte und den Blutzucker (damals noch sehr langsam) maß, musste ich immer spontan – quasi „on the go“ – „Hypo-Helfer“ ausfindig machen.
Glücklicherweise waren immer irgendwelche Kioske oder Supermärkte in der Nähe. Alleine hier gab es zahlreiche Zwischenfälle, wo ich vor Zittern und Kraftlosigkeit es kaum mehr schaffte, mein Portemonnaie zu öffnen. Damals war ich noch so jung, dass mein Selbstbewusstsein sich bei solchen Zwischenfällen „im Keller versteckte“, anstatt einfach offenherzig mit der Situation umzugehen und jemanden um Hilfe zu bitten. Ich hatte halt in keiner Lebenslage richtige Erfahrungen und war durch meinen ständigen „Spar-Zwang“ noch nicht weitschauend genug, mir mal süße Vorräte einzupacken oder zu eruieren, dass ich meine Insulindosis reduzieren müsste, um die „Hypo“ zu verhindern.
Am späten Abend dann übernahm ich erschöpft und bereits geschwächt zusätzlich eine Club-Promotion. Ich musste mich als „SpongeBob“ verkleiden und Vodka-Shots mit Brause ausschenken und verteilen. Das alleine ist schon echt lächerlich gewesen, aber ich kannte – bis dahin – keine wirklichen Schamgrenzen. Was jedoch zu allem Unsinn noch obendrauf kam, war, dass es eine „Tropical Heat Party“ war. Der Club war tropisch dekoriert und überdurchschnittlich aufgeheizt worden, damit die Party People möglichst wenig Kleidung zum Feiern brauchten.
Das SpongeBob-Kostüm, mit all dem Schaumstoff um mich herum, wurde sehr schnell zu einem überhitzten Käfig. Je mehr Party-Gäste eintrafen, desto enger und schwitziger wurde es im Club – und in meinem Kostüm. Ich schwitzte erbarmungslos und fühlte mich immer „nervöser“ und „zappeliger“ beim Vodka-Ausschank. Normalerweise war ich eine begnadete „Promotion-Kraft“, die es mit viel Flirterei und Späßchen schaffte, die Produkte kräftig in den Umlauf zu bringen. Doch an diesem Abend war alles anders. Ich quälte mich und die Minuten fühlten sich an wie zähe Stunden.
Irgendwann merkte ich, dass meine „Zappelei“ und das Ameisen-Kribbeln in Händen und Brust von einer starken „Hypo“-Welle stammten, die mich zu überwältigen drohte. Leider fehlte mir damals der Mut, meinen Promotion-Posten zu verlassen. Die Schlange vor mir war riesig – schließlich wollte jeder einen kostenlosen Vodka-Shot abstauben.
Innerlich sagte ich mir immer „gleich, gleich, gleich…“ – ich schaute mich um, die Schlange an der Bar zu den Getränken war groß und bot keine Chance, schnell an eine Cola ranzukommen. Irgendwann las ich während des Vodka-Brause Ausschanks, dass die Brause 67g Kohlenhydrate auf 100g hatte. Ich konnte in diesem bedrohlichen Moment nicht mehr klar denken, geschweige denn rechnen, wie viele Päckchen ich schlucken müsste, um mich aus der „Hypo“ zu retten. Meine Augensicht war schon leicht beeinträchtigt und ich hatte das Gefühl, einen „Schleimfilm“ vor der Linse zu haben. Ich konnte die Gesichter vor mir nicht mehr richtig erkennen, als schließlich alle Antennen des ur-instinktlichen Überlebenskampfes angingen. Wie in Trance von einer Tarantel gestochen riss ich panisch unzählige Brause-Pakete auf und schüttete diese hemmungslos und „wie ein Schwein“ in mich rein.
Die Party People um mich rum dachten, dass alles wäre eine Showeinlage, lachten, klatschten, pfiffen, feuerten mich an. Vor Angst und Verzweiflung liefen mir die Tränen über die Wangen, die sich mit den Schweißtropfen vermengten und im Nebel der „Tropical Heat Party“ völlig untergingen. Keiner ahnte, dass ich gerade um mein Überleben kämpfte, und ich fing in diesem ganzen Unsinn und Wirrwarr zum ersten Mal an zu verstehen, dass ich Diabetes hatte und mein Leben in meiner Verantwortung lag. Eine Verantwortung, die all diese kreischenden, besoffenen Spaß-Tierchen hier noch lange nicht kannten.
Ich weiß nicht, wie viele Brause-Pakete ich schluckte – ja, fast inhalierte, zieht man meine Geschwindigkeit in Betracht. Der Überlebensdrang schaltete alle Instinkte ein und ich begann an irgendeinem Punkt, aus dem Club zu rennen. Draußen angekommen holte ich erstmal tief Luft, denn daran mangelte es mir schon seit Stunden. Ich setzte mich – immer noch im SpongeBob-Kostüm – auf eine nahe gelegene Parkbank und alles, was dann passierte, ist und bleibt ein Filmriss.
Am nächsten Morgen wachte ich im Gang eines Krankenhauses auf. Man hatte mir glücklicherweise mein SpongeBob-Korsett entfernt, aber absolut keiner dort schien meinen Zucker getestet zu haben. Stattdessen wurde ich anscheinend im Gang einfach auf einem Krankenhausbett neben anderen „Alkohol-Leichen“ zum „Ausnüchtern“ abgelegt. Ich maß meinen Zucker und bemerkte, dass meine Hypo- sich in eine Hyperglykämie verwandelt hatte. Etwas später im Leben verstand ich, dass das eines der Überlebensmechanismen des Körpers ist, wenn sich der eigene Körper durch – in „Zucker wandelbare“ – chemische Botenstoffe versucht, sich zu retten.
Keiner beachtete mich da im Krankenhaus-Gang. Mein Gehirn setzte sich langsam wieder in Gang und ich begann festzustellen, dass ich keine Papiere bei mir hatte und niemand hier wusste, wer ich bin und wo ich wohne. Wie eingangs erwähnt, hatte ich keine Auslands-Krankenversicherung. Das lag u.a. auch daran, dass ich vor Abreise keine fand, die mich und meinen Diabetes versichern würde. Aus panischer Angst vor immensen Unkosten schlich ich mich unbemerkt aus dem Krankenhaus und rannte zu einer weit entfernten Bushaltestelle, um schnell nach Hause zu fahren.
Dieses Erlebnis hatte mich endgültig wachgerüttelt. Ich wusste instinktiv, dass ich viel Glück hatte und meine Krankheit schlichtweg nicht mehr ignorieren dürfte. Zwar schämte ich mich für den Vorfall im Club – vor allem, als ich andere Studenten über den Club-SpongeBob reden und lachen hörte. Glücklicherweise aber hatte mich niemand dank des opulenten Kostüms erkannt.
Ab diesem Tag machte ich mich mit „Hypo“-Helfern vertraut, kaufte welche auf Vorrat und verteilte diese in all meinen Taschen. Es sollten trotzdem noch ein paar komische „Hypo“-Ereignisse in meinem Leben eintreten – man ist und bleibt halt Mensch und manchmal vergisst man, an alles zu denken. Dennoch entwickelte ich ab diesem Moment ein klareres Körpergefühl und begann, verschiedenen Symptomen Bedeutungen und entsprechende Handlungen zuzuweisen. Diabetes ist für mich eine „Schule des Lebens“. Meine „Noten“ werden aus meinem Gesundheitsstatus und Wohlbefinden abgeleitet. So lange ich meinen Diabetes an die Hand nehme und nicht ignoriere, glaube ich aber, gibt es immer Möglichkeiten, das Leben und Lebensgefühl mit Diabetes zu verbessern.
Im Ausland unterzuckert – damit kennt sich auch #BSLounge-Autor Michi aus. Besonders heikel, wenn dann noch Alkohol im Spiel ist: Tabuthema Alkohol?!
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