Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas: Der Begriff „Schuld“ ist fehl am Platz!

Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas: Der Begriff „Schuld“ ist fehl am Platz
Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas: Der Begriff „Schuld“ ist fehl am Platz
Foto: hedgehog94 – stock.adobe.com

Oftmals bekommen Menschen mit Adipositas ungefragt und ohne differenzierte Diagnose-Stellung viele allgemeine Empfehlungen, auch von denjenigen, die sie Behandeln. Expertinnen und Experten fordern, dass Ärztinnen und Ärzte Betroffenen Respekt und Hoffnung statt Zuweisung von Schuld oder Stigmatisierung vermitteln sollten. Zudem müsse die Adipositas-Behandlung besser vergütet werden.

Es ist kein rein kosmetisches Problem und es geht nicht um „Willensschwäche“. Letzteres stecke leider immer noch im Hinterkopf vieler, bedauerte Professor Dr. Matthias Blüher in einem Symposium im Rahmen der Diabetes-Herbsttagung in Leipzig in der vergangenen Woche. Adipositas, der Fachbegriff für starkes Übergewicht, sei eine fortschreitende chronische Erkrankung und nicht heilbar, betonte der Leipziger Diabetologe und Mediensprecher der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). Die Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit sind bei Adipositas fließend. Während sich eine verminderte Leistungsfähigkeit nicht bei allen Erkrankten direkt zeige, gebe es quasi immer verborgene Funktionsstörungen, die nicht leicht zu diagnostizieren sind. Im Sozialversicherungsrecht habe es inzwischen Verbesserungen gegeben, trotzdem würden erforderliche ärztliche Leistungen „nur bruchstückhaft bezahlt“.

Mehr zum Thema
➤ DMP Adipositas: Wie gelingt die Behandlung von Übergewicht als Regelleistung?

Die zugrundeliegenden Mechanismen für Adipositas seien immer noch nicht gut verstanden. Es sei unklar, warum nur manche Menschen bei überkalorischer Ernährung gemäß dem evolutionären Überlebensvorteil vermehrt „Fett für Notzeiten“ speicherten. „Adipositas ist in Ausdruck dafür, wie wir Menschen unsere planetaren Grenzen ausreizen“, aber dieses Verhalten sei zutiefst menschlich und der Begriff „Schuld“ fehl am Platz.

Stigmatisierung und Zuweisung von Schuld bei Adipositas – „Haben Sie je von einem Prosecco-Bauch gehört?”

Die Hamburger Diplom-Psychologin Susan Klever wies auf das Fehlen der Krankheit Adipositas bei psychischen Erkrankungen im ICD 10, der medizinischen Klassifikationsliste der Weltgesundheits­organisation WHO,  hin. Daher würden häufig „Umwege“ über abrechenbare Ess-Störungen genutzt. „Adipositas ist ein Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen“, betonte sie. Behandlungsbedürftige psychische Begleiterkrankungen würden häufig übersehen. Der Zusammenhang sei bei Frauen deutlicher. Dennoch sei ein „Bier-Bauch“ eher gesellschaftsfähig – niemand rede von einem „Prosecco-Bauch“. Stigmatisierung sei ohnehin ein großes Problem. Erkrankten mangelnde Krankheitseinsicht zu suggerieren, sollte unbedingt unterbleiben. Anstatt anzunehmen, dass ein Mensch mit Adipositas die Gewichtszunahme nicht bemerkt habe („Sie sind zu dick.“), sind Fragen wie: „Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir über ihr Gewicht sprechen?“ angesagt.

Aufklärung und genaues Eingehen auf den Tagesablauf und die Beschwerden sind hilfreich. Allgemeine Empfehlungen kennen viele Betroffene zuhauf. Sie wünschen sich konkrete Empfehlungen und Motivation zur Initiative, damit sie Selbstwirksamkeit in der Selbstbehandlung erfahren können. Gefühle von Angst, Scham, Hilflosigkeit und jede weitere Stigmatisierung sind zu vermeiden, da Betroffene in eine Selbststigmatisierung geraten können und dadurch jeder Art von ärztlicher Hilfe, auch in anderen Bereichen, aus dem Weg gehen.



von Dr. Karin Kreuel

Beitrag teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

+ 79 = 86

Aktuelle Beiträge aus den Rubriken

„Das hab ich total gefühlt!“ Conny berichtet im Podcast über das Diabetes-Barcamp „Loop your life“

„Das hab ich total gefühlt!“ Conny berichtet im Podcast über das Diabetes-Barcamp „Loop your life“

In der neuesten Folge unseres Podcast-Formats Diabetes-Audio-Anker teilt Conny ihre Erfahrungen und Erkenntnisse vom Diabetes-Barcamp zum Thema „Loop Your Life” in Frankfurt. Am 2. März 2024 war es so weit: Das Barcamp der Diabetes-Community Blood Sugar Lounge lockte rund 100 Menschen mit Diabetes in die Memox Taunusanlage in Frankfurt am Main. Im Mittelpunkt standen Closed-Loop-Systeme (siehe Kasten

Weiterlesen »
Vorsorgeuntersuchung (6) - die Bauchspeicheldrüse – Hin und zurück – bis ans Ende der Dia-Welt_AdobeStock_Iconic Prototype

#46: Vorsorgeuntersuchung (6) – die Bauchspeicheldrüse

Diabetes ist ein sehr komplexes Krankheitsbild, was sich langfristig auf die gesamte Funktionalität des Körpers auswirkt. Daher ist es umso wichtiger, neben einem guten Diabetes Management, auch regelmäßige Vorsorgetermine wahrzunehmen, um eventuelle Folgeerkrankungen frühzeitig zu erkennen und entsprechend entgegenwirken zu können. In meiner kommenden Beitragsreihe möchte

Weiterlesen »
Die richtige Ernährung für gesunde Gelenke

Die richtige Ernährung für gesunde Gelenke

Früher oder später machen viele Menschen die Erfahrung von schmerzenden Gelenken und werden weniger beweglich. Neben dem fortschreitenden Alter und zu wenig Bewegung kann auch Arthrose diesen Prozess forcieren. Doch es lässt sich einiges tun, um sich auch dann noch gut zu fühlen. Dabei spielt eine

Weiterlesen »
Folge uns auf unseren Social-Media-Kanälen
Folge uns auf unseren Social-Media-Kanälen

⚓️ Jetzt AnkerLetter abonnieren 💌

Mit dem regelmäßigen gratis Newsletter gelangen die wichtigsten aktuellen Informationen für Menschen mit Typ-2-Diabetes automatisch in deinen Posteingang. Trage jetzt deine E-Mail-Adresse ein und verpasse keine wichtigen Nachrichten mehr. (Die Abmeldung ist jederzeit möglich über einen Link im Newsletter.)