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Wohl jeder zweite männliche Diabetiker wird irgendwann ein Potenzproblem bekommen. Sehr wichtig ist dann, früh darüber zu reden. Mit wem? Wie sind die ersten Schritte? Wir haben Antworten.
Potenzproblem oder erektile Dysfunktion (ED): Das individuelle Risiko für Diabetiker hängt eng zusammen mit dem Alter, der Diabetesdauer, der Stoffwechseleinstellung und vorhandenen Begleiterkrankungen. Männliche Diabetiker haben insgesamt ein deutlich erhöhtes Risiko für eine ED gegenüber Nichtdiabetikern. Zusätzlich ist mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen – man spricht nicht gern darüber, auch nicht bei Erhebungen.
Und: Die ED ist nicht einheitlich standardisiert und zu 100 Prozent objektivierbar definiert; eine solche subjektive Komponente beinhaltet auch folgende Definition:
„Unter einer Erektionsstörung – mit dem korrekten medizinischen Fachausdruck als erektile Dysfunktion bezeichnet – versteht man die vollständige oder teilweise Unfähigkeit, über einen längeren Zeitraum eine für einen befriedigenden Geschlechtsverkehr oder andere sexuelle Aktivitäten ausreichende Erektion (Versteifung) des Penis zu erreichen und aufrechtzuerhalten.“
Zitiert nach ISG, Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit e.V., in Anlehnung an die Formulierung der Europäischen Gesellschaft für Urologie, European Association of Urology EAU
Der subjektive Leidensdruck spielt hier eine bedeutende Rolle – eben dieser Aspekt ist nicht so einfach objektivierbar bzw. standardisiert messbar.
Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist es nach unserer Auffassung besonders wichtig, im Fall des Auftretens von Schwierigkeiten nicht zu verstummen und die Symptome sowie den damit verbundenen Leidensdruck einfach hinzunehmen. Welchen Nutzen und welchen Sinn kann es haben, über sein Potenzproblem zu reden? Hierzu weiter unten mehr – zunächst geht es aber um einen scheinbaren Widerspruch:
Wir sind im Rahmen der Beratung und Therapie von Männern mit Diabetes in der Psychosozialen Abteilung des Diabetes Zentrum Mergentheim immer wieder mit einer merkwürdig anmutenden Diskrepanz konfrontiert:
Einerseits sind Informationen zur männlichen Sexualität bzw. Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten scheinbar so leicht und schnell zugänglich wie nie zuvor – es gibt Internet-Suchmaschinen, generell viel mehr aktive Aufklärung seitens verschiedenster Organisationen und Institutionen; außerdem gibt es schon seit längerem eine gefühlte Enttabuisierung im Umgang mit der Sexualität.
Andererseits ist es ganz offensichtlich für Betroffene wie für Fachleute bzw. Behandler nicht einfacher geworden, über Probleme und Schwierigkeiten im sexuellen Bereich zu sprechen. Dies zeigt sich auch immer wieder in dem von unserer Klinik angebotenen, verhaltensmedizinisch ausgerichteten Informations- und Behandlungsprogramm (Männerrunde):
Hier sind Hemmungen sowie eine gewisse Befangenheit und Zurückhaltung auf Seiten der Teilnehmer zunächst oft deutlich zu spüren. Über diese alltäglichen Erfahrungen in unserer Klinik hinausgehend zeigt sich die Schwierigkeit auch darin, dass nur wenige männliche Diabetiker von sich aus über etwaige Erektionsprobleme sprechen – und dass nur ein sehr geringer Prozentsatz der Patienten eine weiterführende diagnostische Abklärung oder gar konkrete therapeutische Schritte anstrebt.
Wenn wir uns einig sind, dass es nicht so einfach ist, mit der Partnerin, Vertrauten, anderen Betroffenen oder auch Fachleuten darüber zu reden – warum sollte ein Betroffener das überhaupt tun? Und das schmerzlich bemerkte Nachlassen der Manneskraft im Gespräch thematisieren? Vielleicht ist es ja auch besser, nicht alles zu problematisieren, breitzutreten und ans Licht des alltäglichen Bewusstseins zu zerren? Was soll das schon helfen?
Oft geht die Beeinträchtigung oder gar der Verlust der Erektionsfähigkeit einher mit Identitätsproblemen, massiven Selbstzweifeln, Verschlechterungen des Selbstwertgefühls, der psychischen Befindlichkeit (Traurigkeit, Ängste, Verzweiflung) sowie der Beziehung zum Partner. Insgesamt kann man also in vielen Fällen von einer deutlichen Minderung der Lebensqualität und einer erheblichen Belastungssituation für die Betroffenen sprechen.
Nun kann es aus einer ganzen Reihe von Gründen von Bedeutung sein, eben nicht zu versuchen, ganz allein – zurückgezogen im stillen Kämmerlein – zu versuchen, die Probleme zu lösen oder irgendwie allein zu verarbeiten! Reden kann in vielerlei Hinsicht unterstützen und den Weg zu einer Besserung der Situation ebnen:
Offene Gespräche über die veränderte Situation, über die belastenden Gedanken und Gefühle können befreiend, unterstützend und insgesamt entlastend wirken. Reden an sich kann also schon einen therapeutischen Effekt haben – allerdings ist es hierbei auch wichtig, den richtigen oder geeigneten Gesprächspartner zu finden.
Neben diesem unterstützenden oder entlastenden Charakter solcher Gespräche ist es auch wichtig, sich als Betroffener zu informieren, sich Wissen dazu anzueignen, welche Ursachen und vor allem auch welche Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen. Die Forschung in diesem Bereich hat gezeigt, dass Erektionsprobleme viele Ursachen haben können.
Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Erektion handelt es sich um einen sehr komplexen und komplizierten Vorgang, der in gewisser Weise auch sehr fragil und störanfällig sein kann. So sind Erektionsprobleme auch in der Regel durch eine Kombination von Einflussfaktoren verursacht.
Je nachdem, welche Ursache im Vordergrund steht, können unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden. Im Gespräch mit dem Arzt – und nur im Gespräch – können somit die wichtigen Fragen beantwortet werden: Woher kommt meine Erektionsstörung? Sind die Symptome bei geeigneter Behandlung rückgängig zu machen oder zumindest zu verbessern? Welches ist die geeignete therapeutische Unterstützung für meinen speziellen Fall?
Also: Darüber reden leistet einen wesentlichen Beitrag auch zur medizinischen Therapie beim Auftreten von Potenzproblemen.
Erektionsstörungen können einen regelrechten Indikator- oder Sensorcharakter haben: So können Symptome einer ED auch auf gesundheitliche Probleme in anderen Bereichen hinweisen – solche Frühwarnsymptome etwa einer Herz-Kreislauf-Erkrankung sollten möglichst nicht längere Zeit ignoriert werden.
Als Beispiel für eine solche “Erkrankung im Hintergrund” kann auch der Diabetes selbst dienen: So kommt es immer wieder vor, dass erst im Zuge der weiteren diagnostischen Abklärung von Symptomen einer erektilen Dysfunktion ein zugrundeliegender Typ-2-Diabetes festgestellt wird.
Nächste Seite: „Darüber reden“ ist ein wichtiger Behandlungsbaustein – mit dem Arzt, mit anderen Betroffenen und auch mit einem Therapeuten.
Zu einer ausführlichen und adäquaten Diagnostik gehört in jedem Fall auch das ärztliche Gespräch – eine rein körperliche Untersuchung reicht hierbei nicht aus, um die Gesamtsituation zu beleuchten. Bei weitem nicht erschöpfend sind Spezialuntersuchungen wie die Schwellkörperinjektionstestung (SKIT), Ultraschall-Verfahren oder die Bestimmung von Hormonspiegeln.
Wichtig sind auch Angaben darüber, wie lange die Erektionsprobleme bereits bestehen, ob sie eher langsam-schleichend oder rasch auftraten und ob sie situationsabhängig unterschiedlich stark ausgeprägt sind.
Wenn psychische Ursachen oder auch Folgen der Erektionsprobleme im Vordergrund stehen bzw. einen Großteil des Leidensdrucks ausmachen, kann eine spezifische Psychotherapie oder Sexualtherapie angezeigt und sehr erfolgsversprechend sein; auch vor dem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig das Reden über das Problem sein kann – als regelrechtes Werkzeug für eine effektive Therapie.
Wenn nun vieles dafür spricht, sich über bestehende Erektionsprobleme auszutauschen, bleibt immer noch die Frage: Wie gehe ich am besten vor, an wen wende ich mich als Betroffener? Nochmals: Es ist wichtig, möglichst frühzeitig den Lebenspartner mit einzubeziehen und sich auch an ärztliche Gesprächspartner zu wenden – um eine körperliche und/oder psychische Chronifizierung zu verhindern und vorhandenes Leiden zu mindern.
Wer bzw. welche Strategie kann Sie dabei unterstützen, sich nun tatsächlich aus der Deckung zu wagen und den Schritt zu tun, über die Schwierigkeiten im sexuellen Bereich zu sprechen?
Der Austausch mit Betroffenen kann zunächst (als Einstieg in den Ausstieg aus der Isolation) etwas leichter fallen als das Gespräch mit dem Partner oder auch dem behandelnden Arzt: Möglichkeiten, vor allem auch niederschwellige, gibt es über Anlaufstellen im Internet wie das Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit in Freiburg oder die Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion – sie haben umfangreiche Informationsangebote. Manche bieten auch die Möglichkeit, sich zunächst anonym mit anderen Betroffen auszutauschen – Beispiele für entsprechende Foren sind www.impodoc.de oder www.erektion.de.
Manchmal kann ein Anfang auch darin bestehen, zunächst passiver Mitleser zu sein und sich nach einiger Zeit selbst aktiv zu beteiligen. Auch pro familia hat online, telefonisch und im direkten Kontakt Informations- und Beratungsangebote zur erektilen Dysfunktion: www.profamilia.de.
Auch ein Klinikaufenthalt, in dessen Mittelpunkt zunächst die Optimierung der Diabeteseinstellung steht, kann im Rahmen spezieller Schulungsangebote für Männer die Möglichkeit bieten, sich über aufgetretene Erektionsstörungen und damit verbundene psychosoziale Belastungen auszutauschen: depressive Verstimmungen, Ängste, Selbstzweifel, Beziehungsprobleme etc.
Im Diabetes Zentrum Mergentheim bieten wir z. B. die Männerrunde an, die eine erste Annäherung an einen veränderten und aktiveren Umgang mit dem Problem ermöglicht. Durchgeführt unter ärztlicher und psychologischer Beteiligung wird hier auf der Grundlage des Schulungsprogramms WENUS gearbeitet (“Wieder normal und spontan Sexualität erleben”), das vom Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie in Bad Mergentheim (FIDAM) entwickelt wurde.
Es handelt sich um ein integriertes Schulungs- und Behandlungsprogramm für Männer mit Erektionsstörungen. Ziel ist es auch hier, das Reden über Sexualität bzw. Schwierigkeiten im sexuellen Bereich schrittweise zu erleichtern, indem nur männliche Teilnehmer eingeladen werden und mit einem eher informativ bzw. psychoedukativ ausgerichteten Schulungsteil begonnen wird; danach erhalten die Patienten die Gelegenheit, über eigene Erfahrungen und Schwierigkeiten zu berichten und sich darüber auszutauschen.
Wer nun ärztlicherseits der erste Ansprechpartner sein sollte, hängt nicht nur von der Fachdisziplin ab. Bei Betrachtung der Letzteren wären hier der Urologe oder Androloge zunächst naheliegend. Natürlich kommen auch die diabetologische oder die hausärztliche Praxis in Frage für einen ersten ärztlichen Kontakt!
Sehr wichtig ist eben, dass aus Patientensicht die menschliche Komponente, die Chemie, stimmt – und man sich überhaupt vorstellen kann, mit der betreffenden Person wenigstens einigermaßen offen und unbefangen über die schwierigen Themen sprechen zu können. Von hier aus kann dann das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen besprochen und geplant werden.
Heute geht man davon aus, dass viele Erektionsstörungen multifaktoriell bedingt sind – also mehrere Ursachen zusammenwirken (wie Nerven- oder Gefäßschädigungen, Medikamentennebenwirkungen, hormonelle Veränderungen).
Stellt sich nun im Zuge der diagnostischen Abklärung heraus, dass psychische Faktoren entscheidend an den Potenzproblemen beteiligt sind, so sollte auch eine psychotherapeutische Behandlung in Betracht gezogen werden – Beispiele: beeinträchtigtes Selbstwertgefühl, Versagensängste, Vermeidung sexueller Aktivitäten, depressive Verstimmungen, Stress- und Überlastungssituationen, Partnerschaftskonflikte).
Ein Kontakt zum Sexual- bzw. Psychotherapeuten hat in den Augen der Betroffenen zunächst häufig etwas Anrüchiges oder Schambesetztes – trotzdem: Bei einer in der Hauptsache psychisch bedingten erektilen Dysfunktion bestehen gute Erfolgsaussichten, die Ursachen psychotherapeutisch wirksam anzugehen und die ursprüngliche Erektionsfähigkeit wieder herzustellen. Vor allem: wieder zu einem entspannteren und natürlicheren Umgang mit der eigenen Sexualität zu kommen.
Ein weiteres Ziel einer Sexualtherapie kann auch sein, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass zu einer erfüllten Sexualität nicht zwingend die ursprünglich vorhandene und verlorengegangene Erektionsfähigkeit gehören muss, wenn man sich auf alternative Spielarten der Sexualität einlassen kann.
Das ist gerade wichtig bei nicht rückführbaren organischen Schädigungen. Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Beratungs- und Therapieangeboten, die bei entsprechender Indikation und Qualifikation der Therapeuten auch von den Kassen übernommen werden, leisten die genannten Beratungsstellen, der behandelnde Arzt vor Ort, die Krankenkassen oder die Kassenärztlichen Vereinigungen und Psychotherapeutenkammern des jeweiligen Bundeslandes.
Kontakt:
Diabetes Klinik Bad Mergentheim, Theodor-Klotzbücher-Str. 12, 97980 Bad Mergentheim
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2013; 62 (3) Seite 34-37
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