Trotz moderner Therapien für Menschen mit Diabetes, vor allem Typ 1, können die Blutzuckerwerte nach oben entgleisen. Eine Übersäuerung des Körpers, eine Ketoazidose, kann entstehen. Erfahren Sie mehr über Ursachen und Behandlung.
Die Zuckerkonzentration im menschlichen Blut wird durch zahlreiche Mechanismen, vor allem Hormone, während unseres gesamten Lebens relativ eng gehalten: in einem Bereich von etwa 60 bis 160 mg/dl bzw. 3,3 bis 8,9 mmol/l. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die Langerhans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse. Hier werden die Hormone Insulin und sein Gegenspieler Glukagon produziert und entsprechend den aktuellen Blutzuckerwerten abgegeben. Da der Zucker lebenswichtig für viele Organe ist – vor allem in strengen Grenzen für unser Gehirn –, ist das Aufrechterhalten seiner Konzentration lebenswichtig. Schwere Unterzuckerungen können akut lebensbedrohlich sein.
Aber auch die Entgleisung in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach oben, kann akut lebensbedrohlich sein – wenn sich dabei eine Ketoazidose entwickelt. Das Verhindern von Ketoazidosen stellt nach wie vor eine tägliche Herausforderung für Menschen mit Typ-1-Diabetes dar.
Laut aktuellen Daten erreichen nur 20 Prozent der Kinder und 25 Prozent der Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes den angestrebten HbA1c-Wert – trotz aller moderner technischer Hilfsmittel. Menschliche Gründe und auch die Tatsache, dass die Insulingabe nicht wie bei Gesunden ins Blut, sondern ins Unterhautfettgewebe erfolgt, scheinen ursächlich zu sein. So ist auch nicht verwunderlich, dass auch das Entgleisen des Blutzuckers nach oben mit begleitender Ketoazidose auch heute noch vorkommt. Sie ist insbesondere beim Auftreten eines Typ-1-Diabetes bei Kindern nicht ungefährlich – potenziell sogar lebensgefährlich.
Typische Anzeichen
Obwohl das Thema Ketoazidose so wichtig ist und natürlich zu Beginn eines Typ-1-Diabetes besprochen wird, werden die Symptome oft nicht richtig eingeordnet. Bauchschmerzen und Übelkeit werden z. B. auf Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln oder Getränken geschoben.
Im Prinzip ist die Diagnose einer Ketoazidose aber leicht stellbar: Sehr hohe Blutzuckerwerte (meist über 250 mg/dl bzw. 13,9 mmol/l), entsprechende Symptome sowie zwei- bis dreifach positiver Keton-Nachweis im Urin oder im Blut Keton-Werte von 0,6 bis 1,5 mmol/l (beginnende Ketoazidose), über 1,5 mmol/l (drohende schwere Ketoazidose) bzw. über 3,0 mmol/l (schwere Ketoazidose) sind wegweisend. Besonders typisch ist die vertiefte Atmung, mit der der Körper versucht, die sauren Substanzen im Körper durch “Abatmen” loszuwerden. Diese vertiefte Atmung wird nach seinem Erstbeschreiber Prof. Dr. Adolf Kußmaul auch als Kußmaul-Atmung bezeichnet. Erste Warnzeichen wie Azetongeruch in der Atemluft, Übelkeit und Bauchschmerzen werden aber eben häufig falsch interpretiert, z. B. als Magenverstimmung.
Studien zeigen, dass bei Kindern in schlechteren sozialen Verhältnissen eine Ketoazidose nicht so schnell erkannt und dementsprechend behandelt wird. Wenn Kinder oder Erwachsene mit Typ-1-Diabetes mit einer Ketoazidose ins Krankenhaus eingeliefert werden, dann wurden meist die typischen Anzeichen nicht erkannt oder nicht gekannt. Beim ersten Auftreten eines Typ-1-Diabetes ist dies nachvollziehbar, weil Eltern und Erwachsene ohne Vorerfahrung die Anzeichen oft nicht kennen. Ist der Diabetes aber erst einmal bekannt, sind Schulung und regelmäßiges Training durch nichts zu ersetzen. Denn die ausgeprägte Ketoazidose ist ein internistischer Notfall – eine Behandlung auf einer Intensivstation im Krankenhaus ist deshalb normalerweise nötig.
Warum und wann entstehen Ketone im Körper?
Ketonkörper (Azetoazetat, Azeton und Beta-Hydroxybutyrat) entstehen im Körper beim Abbau von Fett. Sie können bei Menschen auch ohne Diabetes in Hungerphasen auftreten, aber ohne dass es zu einer Ketoazidose kommt. Bei Menschen mit Diabetes ist die Ursache normalerweise ein absoluter Mangel an Insulin, sodass der Körper auf Fett als Lieferant von Energie zurückgreift, weil der Zucker wegen des Insulinmangels nicht mehr in die Zellen gelangt. Die dabei entstehenden Fettsäuren werden im Rahmen der Beta-Oxidation im Körper zu Ketonkörpern abgebaut, wodurch sich eine Übersäuerung des Bluts und des gesamten Körpers entwickelt, denn Ketonkörper sind Säuren.
Eine Ketoazidose kommt zwar nur bei maximal 8 bis 9 Prozent aller Patienten vor, ist dann aber häufig der Grund für ein Einweisen ins Krankenhaus. Sie entsteht manchmal innerhalb weniger Stunden.
Mögliche Auslöser einer Ketoazidose
Die Auslöser für eine Ketoazidose sind vielfältig. Selbst einfache Fehler bei der Insulininjektion wie das regelmäßige Spritzen in “Lieblingsstellen”, an denen bereits Fettgewebs-Wucherungen oder -Verluste (Lipohypertrophien oder Lipatrophien) entstanden sind, oder fehlerhafte Insulinpumpen, Katheter bzw. Kanülen können eine Ketoazidose auslösen.
Gelegentlich lassen Menschen mit Typ-1-Diabetes bei Infektionen mit Fieber und vermindertem Appetit auch einfach die Insulingaben weg, obwohl sie weiterhin erforderlich sind. Da bei Fieber Stress-Hormone ausgeschüttet werden, die den Blutzucker erhöhen (z. B. Adrenalin, Wachstumshormon, Kortisol etc.), führt das zu einem zusätzlichen Anstieg der Blutzuckerwerte und einem höheren Bedarf an Insulin. Der Mangel an Insulin führt schließlich dazu, dass es zu einer Ketoazidose kommt.
Ketone im Blut oder im Urin messen?
Ketonkörper treten zuerst im Blut und erst mit etwa zweistündiger Verspätung im Urin auf. Außerdem hat das im Urin gemessene Azetoazetat nur indirekt mit dem die Ketoazidose verursachenden Beta-Hydroxybutyrat, das im Blut gemessen wird, zu tun. Eine Ketoazidose wird also mit der Urinmessung später, manchmal zu spät, erkannt. Außerdem ist Azetoazetat oft noch im Urin nachweisbar, wenn die Ketoazidose im Blut bereits erfolgreich behandelt und das Beta-Hydroxybutyrat nicht mehr nachweisbar ist. Deshalb empfiehlt man heute insbesondere Menschen, die eine Therapie mit einer Insulinpumpe durchführen, das Messen der Ketonkörper im Blut bei Verdacht auf eine beginnende Ketoazidose. Denn durch ein Pumpen- oder Katheter-Problem (Leck, Verstopfung) kann es bei dieser Therapie rascher zu einer Ketoazidose kommen als bei einer Therapie mit Insulinpen oder -spritze.
Grundsätzlich gilt: Für jeden Menschen mit Typ-1-Diabetes ist es wichtig, in entsprechenden Situationen die Ketonkörper im Urin oder Blut zu messen – trotz des Verwendens neuerer Hightech-Produkte zur Insulingabe mit der Kombination aus Insulinpumpe und Glukosesensoren. So ließen sich auch viele Krankenhaus-Aufenthalte vermeiden – allein das Darandenken ermöglicht, mit der raschen Gabe von Insulin eine weitere Entgleisung des Zuckers zu verhindern. Dazu müssen die Menschen mit Diabetes sehr gut geschult sein.
Behandlung des ketoazidotischen Komas
Bei stark ausgeprägter Ketoazidose kommt es bei der Korrektur des hohen Blutzuckers durch Insulin zu einer Verschiebung von Kalium aus dem Blut in die Zellen, wodurch der Kalium-Spiegel im Blut sinkt und so lebensbedrohliche Herzrhythmus-Störungen auftreten können. Deshalb muss eine ausgeprägte Ketoazidose im Krankenhaus behandelt werden, weil die gleichzeitige Gabe von Kalium eine der wichtigsten zusätzlichen Maßnahmen neben der Insulinzufuhr darstellt. Bei beginnender Ketoazidose, die man – wenn man gut geschult ist – zu Hause in den Griff bekommt, kann die ergänzende Einnahme von Kalium (z. B. in Form von Brausetabletten) sinnvoll sein.
Zu schnelles Senken des Blutzuckers kann gefährlich sein
Ist ein Patient schon verwirrt oder benommen, darf Insulin grundsätzlich nur noch über eine Vene (intravenös) zugeführt werden. Im Koma ist die Durchblutung der meisten Gewebe schlechter und aufgrund dieser schlechten Kreislauf-Situation ist eine zuverlässige Aufnahme von Insulin aus dem Unterhautfettgewebe nicht gewährleistet. In der Klinik wird der Blutzucker mittels einer Insulin-Infusionspumpe (Perfusor) langsam gesenkt. Auf dem gleichen Weg werden Blutsalze (Kalium) und Flüssigkeit zugeführt und so wird die Übersäuerung des Bluts langsam reduziert. Das langsame Senken der Werte ist wichtig, weil es bei einem zu schnellen Absenken des Blutzuckerspiegels zu einem lebensbedrohlichen Hirnödem (Wasseransammlung im Gehirn) kommen könnte, was unbedingt verhindert werden muss.
- vergessene oder ausgelassene Insulininjektion
- unbeabsichtigter Stopp der Insulinzufuhr bei Insulinpumpen (was wegen des fehlenden subkutanen Depots an Insulin schneller zu einem Insulinmangel führt als bei Insulinpen/-spritzen-Therapie), ohne dass ein Alarm ausgelöst wurde
- falsche oder ungenügende Insulindosis z. B. bei Infektionen, Operationen, Überfunktion der Schilddrüse etc.
- technische Fehler bei der Insulininjektion (z. B. Injektionen in Lipohypertrophien/Lipatrophien
- Übelkeit mit ErbrechenBauchschmerzen (“Pseudo-Bauchfellentzündung”)
- starker Durst
- häufiges Wasserlassen
- Azetongeruch in der Atemluft (ähnlich wie Nagellack-Entferner, frische grüne Äpfel)
- Müdigkeit oder Schläfrigkeit (Patienten sind manchmal nicht mehr richtig ansprechbar)
- Benommenheit, Schwächegefühl
- tiefe Atmung (Kußmaul-Atmung)
- Sehstörungen
- rasender Puls
- sehr hoher Blutzucker über 250 mg/dl bzw. 13,9 mmol/l
- Austrocknung des Körpers (mit Gefahr einer gestörten Nierenfunktion)
- Nachweis von Ketonkörpern in Urin und Blut
- Veränderung der Konzentrationen wichtiger Blutsalze wie Natrium und Kalium
- Übersäuerung durch die Stoffwechselveränderungen: arterieller pH unter 7,3, Serumbikarbonat unter 18 mmol/l
bei Blutketon-Werten von 0,6 – 1,5 mmol/l, Blutzucker über 250 mg/dl bzw. 13,9 mmol/l, typischen Symptome (siehe Tabelle), jedoch klarem Bewusstsein:
- mindestens 1 Liter Wasser pro Stunde trinken
- sofort kurz wirksames Insulin mit normalem Korrekturfaktor (etwa 10 Prozent der Insulindosis eines Tages) spritzen, bei Insulinpumpen-Therapie mit Insulinpen
bei Blutketon-Werten über 1,5 mmol/l:
- sofort kurz wirksames Insulin mit doppeltem Korrekturfaktor (etwa 20 Prozent der Insulindosis eines Tages) spritzen
- sofort einen Arzt informieren bzw. sich ins Krankenhaus fahren lassen
Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (12) Seite 28-32