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Um ganz ehrlich zu sein, ist es mir immer ein bisschen schwergefallen zu verstehen, warum Menschen sagen, sie seien froh, Diabetes bekommen zu haben. Bei allem, was man damit vielleicht auch an positiven Erfahrungen machen kann, würde ich trotz allem ein Leben ohne das Dia-Monster vorziehen.
Geht aber leider nicht.
Ich werde weder meinen Diaversary feiern, noch einen Diabetes-Schriftzug mit Herzchen auf dem Arm tragen, das bin einfach nicht ich.
Aber ein Diabetes ist ein bisschen wie ein Laborkasten, den man mit sich herumträgt. Ein geschlossenes System, oder vielleicht auch eher ein offenes (so viel zum Closed Loop).
Es gibt durchaus Dinge in meinem Leben, die ich zwar (hoffentlich) auch ohne das Dia-Monster gelernt hätte, aber sicherlich später und langsamer und in ganz anderen Situationen, mit ganz anderen Folgen.
Nachdem ich lange Zeit aufgrund einer Depression in ambulanter Therapie war, nach dem erfolgreichen Abschluss einer stationären, fühlte ich mich vor einigen Jahren endlich dazu in der Lage, das Therapieverhältnis zu beenden.
Es dauerte aber nicht allzu lange, bis ich doch wieder bei meiner Therapeutin vor der Tür stand, diesmal mit dem Plan, meinen Diabetes in den Griff zu kriegen, denn das Monster war zu dem Zeitpunkt ziemlich außer Rand und Band.
Wo der Haken lag? Tja, schwierig, denn das war schon ein ziemlicher „Closed Loop“: Ich habe zu dem Zeitpunkt kaum meinen Blutzucker gemessen, damals noch ohne iscCGM oder rtCGM, und wenn ich mal gemessen habe, war der Wert zuverlässig zu hoch. Die logische Konsequenz – genau, nicht mehr messen. Dann sieht man die „bösen“ Werte nicht mehr.
Problematischerweise kann man dann auch nicht irgendwann wieder mit Messen anfangen, weil ohne Messen die Werte auch nicht wieder in den Zielbereich kommen. Ein Teufelskreis. Also habe ich meinen Laborkasten ausgepackt und das Problem betrachtet: Wo liegt der Haken? Warum ist es ein Problem für mich zu messen, wenn ich doch durchaus weiß, dass es der einzige vernünftige Weg ist, auch vernünftige Werte zu haben…
Ich muss nicht perfekt sein.
Klar, klingt offensichtlich und auch ziemlich logisch, aber das war für mich trotzdem ein großer Schritt. Ich hatte leider lange nie die Gelegenheit, mich vis-a-vis mit einem anderen Diabetiker so richtig auszutauschen. Ich hatte also keinen anderen Diabetiker, um mich und meine Werte und alles zu vergleichen. Ich hatte nur Menschen mit funktionierenden Bauchspeicheldrüsen um mich herum, von denen eben keiner wusste, wie es ist, Diabetiker zu sein.
Vergessen zu spritzen? Neeeein, das vergisst du doch nicht, oder? *eingeschüchtertes Kopfschütteln
Waaaaas? So ein hoher Wert? Das ist aber nicht gut? Aber die sind sonst besser, oder? *eingeschüchtertes Nicken
Du kriegst das doch alles gut hin, oder?
Gerade das. Diese Erwartung, dass ich das alles schon super hinbekomme. Jemand, der sich eben nicht näher damit auseinandersetzt, weiß kaum, was wirklich alles damit zusammenhängt, wie schlauchend es an manchen Tagen sein kann, wenn man alles tut und nichts stimmt… Aber wem erzähle ich das hier ^^“
Von diesen Erwartungen um mich rum in eine Form gequetscht, in die ich nicht reingepasst habe, bin ich irgendwann übergelaufen und rettungslos ist mehr und mehr Kontrolle über den Diabetes über Bord gegangen.
Aber ich muss nicht perfekt sein. Ich sollte mich bemühen, um meinetwillen. Aber es gibt Tage, die nicht gut laufen. Es gibt Tage, an denen ich das Messgerät wegschiebe und sage: „Ich mache morgen weiter.“ Es gibt Momente, in denen ich alles perfekt durchgerechnet habe und trotzdem Murks bei rauskommt, oder an denen ich mit dem neu gesetzten Katheter hängenbleibe und ihn rausreiße, nur um dann keinen neuen reinzubekommen.
Die gibt es aber eben. Und das ist okay, auch wenn jemand das mal nicht versteht, auch wenn mich kurz das schlechte Gewissen piekt, auch wenn ich es gerne perfekt hätte.
Und dieser Perfektionismus macht natürlich nicht beim Diabetes halt, aber zu lernen, mir eine Auszeit zu nehmen, die Dinge mal unperfekt dastehen zu lassen, meinen Wert als Person nicht an meinem Blutzuckerwert oder einer anderen Leistung festzumachen, das habe ich an meinem Diabetes-Laborkasten gelernt.
Folgende Situation: Ich sitze neben meinem Kumpel und da ist noch was, was ich ihm sagen will. Aber vielleicht lieber nicht. Oder doch?
Die Zeit geht langsam zur Neige… Also gut, jetzt oder nie.
Zu diesem Zeitpunkt rast mein Blutzucker von einem schönen 6er-mmol/l-Wert (~100 mg/dl) ohne Kohlenhydrataufnahme auf über 20 mmol/l (360 mg/dl) und ich bekomme ihn nicht wieder runter. Gar nicht, egal, was ich versuche.
Kaum ist die Situation gelöst und ich sitze nicht mehr unglaublich angespannt rum, rutsche ich mit Vollgas in die „Hypo“ und kann mich kaum wieder hochretten.
Vor jeder meiner Abschlussprüfungen war mein Wert zu hoch, bis ich im Flow war und gemerkt habe, dass ich die Fragen alle beantworten kann. Dann kam er runter, bloß vorher nicht korrigieren, sonst wartet die „Hypo“.
Zwei Tage vor meiner Menstruation ist mein Wert durchgehend erhöht und lässt sich durch keine Korrektur senken, bis irgendwann die „Hypo“ einsetzt und ich beinahe den kompletten Tag zu tief mit meinen Werten liege und durchgehend Traubenzucker und Gummibärchen absorbiere.
Was der ganz normale Alltag also tatsächlich für einen Einfluss auf mich und meinen Körper hat, hätte ich nicht so spezifisch wahrgenommen, wenn es sich nicht so auf den Blutzucker auswirken würde.
Spätestens wenn mit meinen Werten etwas nicht stimmt, weiß ich, dass gerade was in meinem Leben passiert, das mich beeinflusst, auf die eine oder andere Art und Weise. Dann kann ich darauf achten, beleuchte den Tag und die Situation: Was passiert gerade, wie geht es mir damit, kann ich das lösen und wenn ja, wie?
Man wird einfach gezwungenermaßen aufmerksamer und achtsamer und auch das bleibt nicht im Laborkasten beim Diabetes, sondern weitet sich auf den Rest meines Lebens aus, lässt mich Reaktionen meines Körpers verstehen und zuordnen und macht es mir möglich, sinnvoll darauf zu reagieren oder einige Situationen sogar einfach zu vermeiden.
Ich darf und sollte mich um mich kümmern. Nicht, weil es kein anderer macht, nicht, weil es nötig ist, sondern weil ich das wert bin.
Meine Werte müssen nicht stimmen, weil es so sein sollte, sondern weil es mir wichtig sein sollte, und mittlerweile auch ist, dass ich später auch noch so gesund wie möglich bin. So, wie ich mich um jeden guten Freund, mein Kind oder mein Haustier kümmern würde, einzig und allein, weil mir daran gelegen ist, dass es demjenigen gut geht. Genauso sollte ich mich um mich kümmern, damit es mir gut geht.
Es ist ja nicht unbedingt ein Geheimnis, dass man sich mit Werten im Zielbereich auch besser fühlt, was mir tatsächlich auch sehr aufgefallen ist, nachdem ich mit rtCGM bzw. iscCGM das Monster in den Griff bekommen habe (ganz abgesehen vom Stress und der Psyche).
Ich darf die Einstichstellen von Kathetern und Sensoren liebevoll reinigen, eincremen und sie zum Heilen ermutigen. Ich darf mir Sorgen um mich machen, wenn ich mitten in der „Hypo“ irgendwohin eilen muss, weil es einen Zug zu erwischen gilt, obwohl ich mich gerade besser hinsetzen und abwarten sollte.
Ich darf dreimal in meine Tasche gucken, ob ich wirklich alles dabei habe, und obwohl ich nur einen halben Tag unterwegs bin, 3 Ersatzkatheter eingepackt sind.
Ich darf im Unterricht an mein Schließfach gehen, um mir ein Trinkpäckchen zu holen, und keiner wird auf mich sauer sein, weil ich den Unterricht störe, meine Tätowiererin wird eine Pause für mich machen, wenn ich messen will, und meine Freunde werden anhalten, damit ich meinen Blutzucker checken und ggf. bolen/spritzen/essen kann.
Das sind alles Dinge, die ich jedem anderen in dieser Situation zugestehen würde und die ich mir auch zugestehen darf. Ganz bewusst, aus Sorge um mich und Liebe zu mir.
Eine Liebe, die sich ausbreitet und sich nicht auf den Diabetes beschränkt, die bleiben würde, selbst wenn mich eine Zauberfee heilen würde, eine Liebe, die ich mir hart erkämpft habe und deren Kampf ich wohl später in meinem Leben angefangen hätte, wenn mich der Diabetes nicht dazu aufgefordert hätte.
Nimm es mal mit Humor. Wer, ich? Ja, genau, Du. Nein, ich hab doch keinen Humor.
Ich bin allgemein vielleicht kein komplett humorloser Mensch, aber es passiert mir doch oft, dass Menschen vermeintlich witzige Dinge sagen, die ich auch als solche erkenne, aber nicht weiß, was ich darauf Witziges erwidern soll, und meistens ohnehin nicht wirklich lustig finde.
Mein Humor ist eher flach, beschränkt sich meist auf Wortwitze oder stumpfe kurze Puns und Pointen. Umso mehr fasziniert es mich, dass ich ein gewisses Interesse an Diabetes-Memes entwickelt habe.
Sie fassen einfach so präzise ganz spezifische Situationen zusammen, wie man es sonst nicht hinbekommt. Und das dann meist noch mit einer gewissen Portion an Humor, den ich sogar witzig finden kann. Ich bin absolut kein Mensch, der sonst mit Memes zu tun hat, wirklich nicht, aber ich besitze einen ganzen Ordner voller Dia-Memes auf Pinterest und ärgere mich nur, dass so viele davon von Nicht-Diabetikern nicht verstanden werden. Tatsächlich wurde mir aber auch schon von einem Klassenkameraden eines geschickt, was ein echt gutes Gefühl war, weil wir zusammen drüber schmunzeln konnten.
Natürlich kann man Probleme nicht weglachen, und ich bin wahrscheinlich der letzte Mensch, der das tut. Aber ganz ehrlich, ich nehme so vieles viel zu ernst, da darf man auch einfach mal drüber lachen.
(Fast ganz) egal was, es ist kein Weltuntergang. Und drüber zu lachen, ist allemal besser, als frustriert zu sein.
Eine äußerst wertvolle Erkenntnis für mich, deren Essenz ich ebenfalls aus meinem Laborkasten mit raus in den Rest meines Lebens nehme und bei Gelegenheit hier und da über ein Problem träufele, um es ein wenig weniger groß und gefährlich aussehen zu lassen. Mein Riddikulus für Alltagsprobleme.
Auch ohne Herzchen-Tattoo und Diaversary kann ich etwas Gutes aus meinem Diabetes ziehen, etwas davon lernen, hier in meinem kleinen Labor, das ich dann verkorkt mit nach draußen nehmen und bei Bedarf über mein Leben tröpfeln kann. Es bietet mir einen Raum von Geist und Zeit, eine Möglichkeit, mehr und schneller zu lernen, als jemandem, der vor diesen Aufgaben gar nicht steht. Und wenn ich endlich eine Lösung für ein Problem gefunden habe, dann kann ich wieder rauskommen und bin daran gewachsen und ein bisschen mehr zu dem Menschen geworden, der ich mal sein möchte. Und dafür bin ich in gewisser Weise durchaus dankbar, selbst wenn ich lieber die Zauberfee treffen und mich heilen lassen würde.
Und ich bin vor allem dankbar für wirklich tolle Personen, die ich dadurch kennen gelernt habe.
Nach dem ersten Termin bei meiner neuen Diabetologin (selber Typ-1-Diabetikerin) ging ich aus dem Raum und dachte: „Wow, so willst du auch sein. Wenigstens ein bisschen.“
Oder die wunderbare Vertreterin von Medtronic, die mit mir die technische Einweisung zur neuen Pumpe gemacht und für dich ich absichtlich meinen Zug verpasst habe, weil es so schön war, noch ein bisschen zu quatschen.
Und ich bin mir sicher, dass da noch ganz viel kommen und folgen wird, ganz viele Nüsse, die ich in meinem Labor knacken kann, ganz viele tolle und inspirierende Menschen, die ich treffen werde, und ganz viele Erfahrungen, die ich sammeln werde.
Denn alles in allem ist jede geknackte Nuss ein Schlag, mit dem ich zwei Fliegen erwische, denn jede Lösung, die ich für ein Problem in meinem Labor finde, nehme ich mit nach draußen und löse nicht nur das Diabetes-Problem, sondern gleich ein ganzes Lebensproblem.
Einfach mal drüber lachen – Diabetes und sich selbst nicht zu ernst nehmen – wie Laura lernte, ihren Diabetes mit Humor zu nehmen!
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