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Die Welt ist bunt, und das ist auch gut so. Nur was hat das mit Übergewicht zu tun? Professor Reinhard Zick, Gastro- und Endokrinologe vom Endokrinologicum in Osnabrück, hat sich dazu seine ganz eigenen Gedanken gemacht und einmal einen anderen Blickwinkel gewählt. Fernab von allgemeingültigen Ratschlägen, die tagtäglich Betroffenen in Arztpraxen gemacht werden, schaut er sich einmal genau die Persönlichkeiten an, die eigentlich sehr individuell beraten werden müssten.
Letztes Wochenende besuchte ich meine Tochter in Düsseldorf. Sie ist vor wenigen Monaten Mutter geworden. Bereits am Telefon bat sie mich, meine Joggingutensilien mitzubringen damit wir am Sonntagmorgen gemeinsam Sport machen könnten.
Spontan sagte ich zu, fragte mich jedoch nach dem Telefonat, ob ich das tatsächlich machen wolle. Meine Antwort war Ja, weil ich in den Wintermonaten ein paar Kilo zugelegt hatte. Da kam mir der Frühling genau recht, um den Winterspeck zu verlieren, und Sport – so meine Idee – konnte dabei sicher nicht schaden. Die Sportmotivation meiner Tochter war auch leicht durchschaubar. Sie hatte in der Schwangerschaft erwartungsgemäß zugenommen, und Jogging war ein probates Mittel, um den Körper nun wieder in seine Ursprungsform zu bringen.
Mit neuen Schuhen und größenmäßig angepasster Laufkleidung trabte ich mit meiner Tochter Sonntagmorgen durch den Park. Nach einer Runde ging mir jedoch schon die Puste aus, so dass ich die nächstbeste Bank ansteuerte und meiner Tochter bei ihren weiteren Runden ruhend zusah. Ganz schön motiviert, dachte ich. Nun hatte ich Zeit, mir Gedanken zum Übergewicht zu machen. Die Besucher steuerten einiges dazu bei.
Zunächst beobachtete ich eine äußerst schlanke, etwa 30-jährige Frau im stylishen Joggingdress. Alles war farblich exakt aufeinander abgestimmt: vom Schuh über das Schweißband nebst Sonnenbrille bis zu ihren Kopfhörern, die sie von der Außenwelt trennten.
Ihr Lauf entsprach nicht den üblichen, sonntäglichen Läuferrunden, sondern wurde wie auf einem Laufsteg zelebriert. Der Park war ihre Bühne, und ich durfte kostenfrei diese Show genießen und mit meinen Blicken ihr Anerkennung und Beifall zollen. Als sie an mir vorbeilief, glaubte ich einen mitleidigen Blick zu spüren, den sie einem dicklichen älteren Herrn auf der Bank in seinem Sportoutfit zuwarf.
Im Gegenzug fragte ich mich, ob diese junge Frau – trotz ihres visuellen Idealgewichtes – glücklich war. Sie wirkte getrieben, und ihre Erscheinung war ein Teil der Inszenierung wie die sonstigen zur Schau getragenen Accessoires.
Wenn sie in meine Sprechstunde gekommen wäre, hätte ich sie sicherlich wegen ihrer idealen Gewichtsdaten gelobt. Aber so? Bröckelte das Ideal des Gewichtes, und ich erahnte, mit welcher Kontrolle dieser Zustand herbeigeführt war. Schnell wurde mir klar, wie oft ich in der Vergangenheit mit der Gewichtsbeurteilung bei meinen Patienten ohne eine Berücksichtigung ihrer Gesamtpersönlichkeit danebengelegen hatte.
Die zweite Person die an diesen Morgen meine Aufmerksamkeit erregte, war ein Mann in meinem Alter. Er war deutlich übergewichtig und steuerte – mit seinen beiden Enkeln an der Hand – zum Parkteich, um dort Enten zu füttern. Das Hinweisschild, dass Enten füttern verboten sei, störte ihn nicht. Er überließ dies seinen jungen Enkeln.
Und er selbst? Steckte sich genüsslich eine Zigarre an, blies den Rauch in die Luft und beobachtete offensichtlich das fröhliche Treiben der beiden Buben. Er wirkte unglaublich entspannt, trotz seiner massigen Körperlichkeit, und schien offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Kurz ging ich in mich und fragte, was ich ihm – hinsichtlich seines Gewichtes – in meiner Sprechstunde empfohlen hätte.
Mir wäre es mit meinen Ratschlägen so ergangen wie dem Hinweisschild, dass Enten füttern verboten sei. Und ich erschrak beim Gedanken, wie oft ich Patienten meine Einschätzung aufgedrängt hatte, weil ich mich von Leitlinien führen oder auch verführen ließ, ohne zu fragen, ob die angesprochenen Personen diesen Ratschlag tatsächlich hören oder beherzigen wollten. Irgendwo habe ich zu dieser Einstellung einmal den Begriff Faktenegoismus gelesen, und plötzlich füllte sich dieses Wort für mich mit Leben.
Da meine Tochter inzwischen signalisiert hatte, dass sie noch eine weitere Runde laufen wolle und wir danach zum Bäcker gehen, um Brötchen fürs Frühstück zu holen, hatte ich noch Zeit eine weitere Person zu beobachten.
An meiner Parkbank kam eine übergewichtige Dame mittleren Alters mit ihrem gleichfalls übergewichtigen Hund vorbei. Der Hund war offensichtlich eine Mischung aus Rauhaardackel und Scotch-Terrier. Er hatte jedoch deren Beweglichkeit verloren, und seinen Bauch trennten nur wenige Zentimeter vom Untergrund. Das machte auch verständlich, warum er über die Stufen, die zur einzigen Erhöhung in diesem Park führten, getragen werden musste. Die Dame selbst war modisch elegant gekleidet und schien in keiner Weise ob ihrer Körperfülle unglücklich zu sein.
Gleichfalls schien sie kein Schuldgefühl hinsichtlich der Unbeweglichkeit ihres Hundes zu haben. Auch bei dieser Parkbesucherin stellte ich mir die Frage, wie ich sie in punkto Gewicht in der Sprechstunde beraten hätte. Dabei wäre mir sicherlich das Übergewicht des Hundes entgangen, da Vierbeiner der Zutritt zur Praxis verwehrt ist. Wahrscheinlich hätte sie mir freundlich lächelnd zugehört und gelegentlich zustimmend genickt, um danach die Praxis zu verlassen, um nicht die Enten, sondern ihren Hund zu füttern.
Und nun spürte ich, wie selten ich bei meinen Ernährungsberatungen das persönliche Umfeld berücksichtigt hatte und habe, und dass ein großer Teil meiner scheinbaren Misserfolge der Tatsache geschuldet war, dass ich aus Zeit- oder auch Bequemlichkeitsgründen zu wenig die Person oder auch Persönlichkeit in die Beratung mit einbezogen habe.
Beim Verlassen des Parks saß auf einer Bank ein etwa vierzigjähriger Mann, dem man seine Armut ansah. Er wirkte aber weder verwahrlost noch alkoholisiert und war von sehr schlanker, hagerer Statur. Vor sich hatte er einen Hut und ein Schild, auf dem zu lesen war: “Habe Hunger”. Zunächst irritierte mich das, denn Hunger in unserem reichen Land hatte ich nicht direkt auf dem Schirm. Wie so viele andere auch wollte ich mich zunächst etwas schamvoll an ihm vorbeischleichen. Aber meine Tochter hatte meine Absicht registriert und sprach von sich aus den Mann an.
Zunächst ging ich davon aus, mir eine Räuberpistole anhören zu müssen, deren einziges Ziel es war einen Obolus in den Hut zu werfen. Aber ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Nun fühlte ich mich schlecht, dank meiner Vorurteile. Kurzerhand entschlossen wir uns, den Mann mit zum Bäcker zu nehmen und ihm ein Frühstück zu spendieren.
Das gab uns allen ein gutes Gefühl. Ich hatte einiges – fern vom herkömmlichen Praxisweg – über Gewicht erfahren. Im Grunde ist mir dabei klar geworden, dass es viel wichtiger ist, den Patienten da abzuholen, wo er steht. Und kleine Schritte führen bekanntlich auf längere Sicht gesehen auch zum Ziel. Es bedarf halt Muße und Geduld.
Für den Rest des Tages ging mir das Lied von Johnny Cash nicht mehr aus dem Sinn. Ein bisschen von dem, was er besingt, hatte ich heute Morgen zum Thema “Über Gewicht” gespürt und erlebt. Ich nahm mir vor, künftig mehr auf die Dinge zwischen den Zeilen beim Thema Abnehmen und Übergewicht meiner Patienten zu achten.
Redaktion Diabetes
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