Das Gehirn ist egoistisch

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Das Gehirn ist egoistisch

Das Gehirn nimmt eine Sonderposition ein im menschlichen Organismus. Und mit seinen teils egoistischen Mechanismen sorgt es auch dafür, dass bei vielen Menschen zu viel Zucker im Blut zirkuliert. Man muss diese Mechanismen verstehen, will man gegen Adipositas und Herzinfarkt vorgehen.

Die Theorie vom egoistischen Gehirn, englisch Selfish Brain Theory oder wissenschaftlich im Deutschen auch Selfish-Brain-Theorie, vereinigt Gehirn- und Körperenergiestoffwechsel. Dabei ist entscheidend, dass das Gehirnim menschlichen Energiestoffwechsel eine hierarchische Sonderposition hat.

Wenn Menschen verhungern, nehmen alle Organe (Herz, Niere, Leber etc.) an Masse ab, nur das Gehirn nicht. In einer derartigen Krise kommt es innerhalb des Organismus zu einer Art Konkurrenz zwischen dem Gehirn und den anderen Körperorganen. Dabei beansprucht unser wichtigstes Kontrollorgan, das Gehirn, den größten Energieanteil. Metaphorisch gesprochen verhält sich das Gehirn somit egoistisch – dies hat der Selfish-Brain-Theorie ihren Namen gegeben.

Egosimus des Gehirns: Ein Segen in Hungerzeiten

Insgesamt ist es eine positive Fähigkeit des egoistischen Gehirns, sich selbst vorrangig aus den im menschlichen Organismus verfügbaren Energieressourcen zu versorgen. Diese besondere Fähigkeit erlaubt es Menschen, Hungerzeiten zu überleben. Entscheidend dabei ist, dass das Gehirn aktiv Energie aus den Körperspeichern anfordert. Bis vor kurzem gingen Wissenschaftler davon aus, dass das Gehirn nur passiv aus dem Blutkreislauf versorgt wird.

Die Hirnforschung zeigt heute, dass das Gehirn viele Mechanismen entwickelt hat, mit denen es aktiv Energie aus dem Körper bestellen kann. Die Kraft, mit der das Gehirn seinen Energiebedarf aus den Körperreserven deckt, nennt man Brain-Pull.

Gehirn unterdrückt Insulinfreisetzung

Der wichtigste Brain-Pull-Mechanismus besteht darin, dass das Gehirn die Insulinfreisetzung unterdrückt: Hat das Gehirn einen erhöhten Energiebedarf, zum Beispiel bei psychosozialem Stress, wird im Mandelkern des Gehirns das Stresssystem aktiviert. Dieses sendet über Nervenbahnen einen Befehl zur Bauchspeicheldrüse. Der Befehl unterdrückt dort die Freisetzung von Insulin in den Blutkreislauf.

Das Stresssystem setzt parallel dazu Kortisol in den Blutkreislauf frei, ein Stresshormon, das ebenfalls die Freisetzung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse verhindert. Ohne Insulin im Blut kann Glukose nicht in Muskel- und Fettgewebe aufgenommen werden. Also zirkuliert die Glukose weiter im Blut und versorgt so das Gehirn, das zur Glukoseaufnahme kein Insulin benötigt. So fordert das Gehirn bei Bedarf Energie aus dem Körper an – mit Hilfe des Brain-Pull. Zwei Beispiele verdeutlichen die Bedeutung des Brain-Pull für die Entwicklung des Körpergewichtes:

Brain-Pull: Zwei einfache Beispiele …

Beispiel 1: Eine Frau mit hoch-reaktivem Brain-Pull isst zum Frühstück zwei Brötchen: das eine fürs Gehirn, das andere für den Körper. Vielleicht mutet es ungerecht an, dass ein so kleines Organ wie das Gehirn (1 kg) einen solchen verhältnismäßig großen Energieanteil bekommt und der Körper (60 kg) ebenfalls nur ein Brötchen. Die Ursache dafür ist der Brain-Pull. Gäbe es den Brain-Pull nicht, würde das Gehirn nur ein Sechzigstel der aufgenommenen Brötchen erhalten. Das egoistische Gehirn teilt sich somit eine enorm große Energieportion zu.

Beispiel 2: Eine Frau mit niedrig-reaktivem Brain-Pull isst ebenfalls zum Frühstück zwei Brötchen. Ihr Brain-Pull ist nicht defekt, aber reagiert auf einen Abfall des Energiegehaltes im Gehirn deutlich geringer, als es bei der Frau im Beispiel 1 der Fall ist. Infolge ihres niedrig-reaktiven Brain-Pull erhält das Gehirn der zweiten Frau nur noch ein halbes Brötchen, eineinhalb Brötchen verbleiben im Körper.

Staus in der Lieferkette des Gehirns

Nun stellt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit ihres Gehirns: Die Frau ist alleinerziehend, hat einen unsicheren und sehr fordernden Job und benötigt für eine volle geistige Leistungsfähigkeit ein ganzes Brötchen für das Gehirn. Ihr Gehirnenergiebedarf ist somit durch das halbe Brötchen nicht gedeckt. Bleibt das über Jahre so, wird diese Frau ein Burn-out-Syndrom erleiden. Ein Ausweg aus dieser kritischen Situation ist, dass die Frau noch zwei zusätzliche Brötchen isst: Ein weiteres halbes Brötchen gelangt ins Gehirn – der Gehirnbedarf ist jetzt vollständig gedeckt.

Sie hat nun volle geistige Leistungsfähigkeit, die sie allerdings dadurch erkaufen muss, dass in ihrem Körper ein Überschuss an Energie entsteht – drei Brötchen sind mittlerweile in den Körper gelangt. Findet eine solche Energieverteilung über Jahre statt, so staut sich die Energie im Fettgewebe – dies nennen die Ärzte “Adipositas”. Staut sich die Energie in Form von Glukose im Blutkreislauf, so nennen die Ärzte dies Typ-2-Diabetes. Beides sind formal gesehen Staus in der Lieferkette des Gehirns.

Zwei verschiedene Arten, mit Stresserlebnissen umzugehen

Wenn Menschen in Unsicherheit leben (Arbeitsplatz, Familienkonflikte, Geldsorgen), dann reagieren sie nicht alle gleich. Aufgrund ihrer genetischen Veranlagung reagiert die eine Hälfte der Menschen auf wiederholte gleichartige Stresserlebnisse immer wieder durch höchste Erregung, ihr Blutdruck steigt, das Stresshormon Kortisol steigt stark an, sie bekommen Angst; diese Menschen erleiden auf Dauer einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder eine Depression. Derartige Krankheiten sind Nebenwirkungen von dauerhaftem negativem Stress.

Die zweite Hälfte der Menschen reagiert beim ersten Stressereignis noch mit gleicher Erregung: Bei einem wiederkehrenden Ereignis gleicher Art (z. B. Auseinandersetzung mit einem unfairen Chef) bleibt ihr Blutdruck normal, ihre Stresshormone bleiben normal, und sie bekommen auch keine Angst. Diese Menschen gewöhnen sich an den Stress. Man nennt diese Gewöhnung Habituation. Die Habituierer sind vor den chronischen Nebenwirkungen von negativem Stress geschützt.

Wurzel des Übels: Negativer Stress

Dieser Schutz hat einen Preis: Da das Stresshormon Kortisol die lebenswichtige Funktion hat, die Brain-Pull-Funktion auszuführen, geht bei den Habituierern eine abgeschwächte Kortisol-Antwort auch mit einer Abschwächung des Brain-Pull einher – er wird also niedrig-reaktiv. Folglich liegt bei Habituierern genau die Situation vor, die im Beispiel 2 geschildert wurde: Infolge dauerhaft negativen Stresses ist der Brain-Pull der Frau niedrig-reaktiv geworden; sie muss mehr essen, um die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns zu erhalten. Dabei wird sie auf Dauer korpulent, sofern sie die überschüssige Energie nicht durch mehr Bewegung oder Sport verbraucht.

Wer aber Herzinfarkt und Adipositas bekämpfen will, der muss das Problem an seiner tiefer liegenden Ursache packen – diese ist der negative Stress, der zum Herzinfarkt und zur Adipositas führt. Diäten greifen hier zu kurz, denn sie vermindern nur das Gewicht, aber nicht den zu Grunde liegenden negativen Stress. Demgegenüber verhindern Anti-Stress-Programme, die auf kognitiver (geistigen Fähigkeiten betreffender) Verhaltenstherapie beruhen, nachweislich das Auftreten von Herzinfarkten. Und die Möglichkeit, dass Menschen ihre unsichere Umgebung verlassen können, hat nachweislich günstige Effekte auf ihr Körpergewicht.


von Prof. Dr. med Achim Peters
Medizinische Klinik 1, Universität zu Lübeck,
Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck,
E-Mail: achim.peters@uksh.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2016; 65 (4) Seite x-x

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

  • gingergirl postete ein Update vor 1 Woche, 4 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 1 Woche, 6 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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