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In den letzten drei Ausgaben der Blood-Sugar-Lounge (vom 13.08.2021, 17.11.2021 und 01.04.2022) wurde über technische Details im Zusammenhang mit der Anwendung des kontinuierlichen Glukosemonitorings (CGM) berichtet. Aufgrund der Nutzung von CGM als unabdingbarer Baustein bei der automatisierten Insulinabgabe von Insulinpumpen (AID-Systeme – automatische Insulindosierung), aber auch in Verbindung mit der Dosisermittlung bei SmartPens rückt die Frage nach der Genauigkeit der Messung noch stärker in den Fokus als ohnehin schon.
Diese Feststellung mag zunächst verwundern, denn man erwartet von einem Messgerät generell, dass dessen angezeigten Daten vertraut werden kann. Man möchte sich keine Gedanken über eine Messtoleranz oder ähnliches machen, man erwartet, dass der Glukosewert genutzt werden kann um sich zum Beispiel die richtige Dosis Insulin zu spritzen.
Dieser richtige Gedanke bezieht sich allerdings zunächst auf den aktuellen Glukosewert, so wie man es von der Augenblicksblutglukosemessung (SMBG – Selbstmessung der Blutglukose) her kennt. Doch CGM bietet bekanntlich mehr: neben dem Wert auch den Glukosetrend und die Einbindung in ein aufgezeichnetes Glukoseprofil, welches den zeitlichen Verlauf des Glukosespiegels darstellt.
Aus diesen zusätzlichen Informationen lassen sich wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Beispielsweise lässt sich die Frage beantworten, wann rasch sinkende Glukosewerte zu einer Unterzuckerung führen werden. Sinken diese beispielsweise mit einer Geschwindigkeit von 2 mg/dl/min (angezeigt wird das durch die Steilheit der abfallenden Kurve und durch einen entsprechend nach unten gerichteten Pfeil) und liegt der Glukosewert gerade bei 100 mg/dl (5,6 mmol/l), dann werden die Werte in 15 min bei 70 mg/dl (3,9 mmol/l) liegen und damit an der Schwelle zur Unterzuckerung (Abb. 1).
In 20 min wird der Glukosewert dann schon bei 60 mg/dl (3,3 mmol/l) liegen, also eine Unterzuckerung aufweisen. Aus einem punktuell mit SMBG gemessenen Wert lässt sich eine solche Schlussfolgerung nicht ziehen. Mit anderen Worten: aus dem Vorhandensein der Glukosekurve lässt sich bereits das Therapiemanagement ableiten.
Man sieht die abfallende Kurve, ahnt, wann diese den Bereich der Unterzuckerung erreicht und wird darauf schon entsprechend vorher reagieren, bevor diese eintritt und spürbar ist.
Abb. 1: Darstellung der Glukoseänderungsgeschwindigkeiten anhand der Steilheit der Kurven im Anstieg bzw. Abfall. Je steiler die angelegte (gedachte) Gerade ist, desto schneller ändert sich der Glukosespiegel.
Warum dieser Exkurs? Er soll zeigen, dass die punktuelle (aktuell vorliegende) Genauigkeit der Messung nicht so streng ist wie beim SMBG, weil Zusatzinformationen (Trend, Glukoseänderungsgeschwindigkeit) das Diabetesmanagement unterstützen. Selbstverständlich ist ein möglichst genau messendes CGM-System anzustreben. Das ist auch die dauerhafte Bestrebung der Hersteller.
Aber aufgrund der genannten Zusatzinformationen war es auch schon in der Vergangenheit möglich, mit weitaus weniger exakten CGM-Sensoren als die heute Verfügbaren, eine gute Therapieunterstützung zu realisieren.
Beispielsweise wurde bei den ersten Geräten mit Anzeige der aktuellen Glukosewerte (rtCGM – real time CGM) in den Bedienungsanleitungen darauf hingewiesen, dass die vom CGM angezeigten Glukosewerte nicht dem Zweck einer therapeutischen Entscheidung dienen dürfen, womit z.B. die Berechnung und Abgabe der Insulindosis zählte (Glucowatch Biographer der Firma Cygnus 2002; Guardian RT und Guardian Real-Time von Medtronic 2005, FreeStyle Navigator von Abbott 2007, Dexcom STS von Dexcom 2007). Die Werte sollten immer durch SMBG bestätigt werden. Dafür gab es mehrere Ursachen:
Auf den dritten Punkt wird in einer weiteren Ausgabe der Blood Sugar Lounge (BSL) noch gesondert eingegangen, weil sich dahinter kein Messfehler versteckt, sondern die Dynamik der Glukoseverbreitung im Körper.
Generell war in den 2000er Jahren die Messgenauigkeit der CGM-Systeme noch nicht geeignet, SMBG zu ersetzen, zumal alle Systeme noch mit einer „blutigen“ Messung kalibriert werden mussten. Aber aus den Glukoseprofilen konnten die Anwender Schlussfolgerungen für ein besseres Diabetesmanagement ziehen, als das vorher der Fall war. Selbst bei mangelhafter Messgenauigkeit (gekennzeichnet durch eine große Abweichung gegenüber SMBG), vielleicht hervorgerufen durch eine nicht sachgemäße Kalibration konnten die Anwender auf das Glukoseprofil vertrauen.
Die CGM-Kurve verlief dann zu weit oben oder unten, deren Form, die Glukoseabstiege und – Anstiege waren jedoch exakt so, wie bei einem optimal messenden CGM-Sensor und gaben damit eine Orientierung über den Glukoseverlauf.
Die Systeme wurde in der Folgezeit soweit verbessert, dass die amerikanische Zulassungskommission (FDA – Food and Drug Administration) ab 2016 bei dem ersten CGM (Dexcom G5) gestattete, dass die CGM-Werte für alle Therapieentscheidungen genutzt werden können, also SMBG ersetzt werden kann. Als Richtwert gilt, dass die Abweichung zu einem Laborgerät, also die MARD* ≤ 10% betragen soll.
Zu diesem Zeitpunkt war mit dem *MARD – Mean Absolute Relative Difference (Deutsch: mittlere absolute relative Abweichung): dieser Wert gibt die Abweichung aller gemessenen Glukosewerte gegenüber einer Standardmessung z.B. mit SMBG oder besser noch mit einem Laborgerät an (Referenzmethode). Die Abweichungen eines jeden Wertepaars (zu beurteilende Messung und Referenzmessung) werden zusammengerechnet und durch die Anzahl der Wertepaare geteilt.
Mit dem FreeStyle Libre bereits ein System verfügbar, welches werkseitig kalibriert wurde. Es war bezüglich der Anwendung kein rtCGM, sondern ein sogenanntes iscCGM. Das heißt, die Glukosewerte werden nur angezeigt, wenn der Patient mit dem Empfänger (z.B. eine App auf einem Smartphone) über die Stelle scannt, an welcher der Glukosesensor liegt (deshalb „isc“ – intermittierendes Scannen). SMBG führten die Anwender nur noch durch, wenn ihnen die Glukosewerte nicht plausibel erschienen oder wenn sich z.B. eine Unterzuckerung zu entwickeln schien.
Mit dem Dexcom G6 erschien ab 2017 ein weiteres werkseitig kalibriertes CGM (als rtCGM), welches der Patient notfalls aber kalibrieren kann. Aber auch dieses ersetzt SMBG nur zum Teil. Mittlerweile müssen die aktuellen CGM-Systeme alle nicht mehr kalibriert werden (Dexcom G7, FreeStyle Libre 3, Guardian 4). Abb. 2 zeigt die Entwicklung der Messgenauigkeit der Systeme anhand des Parameters MARD in den vergangenen 17 Jahren [1].
Abb. 2: Entwicklung der Genauigkeit der verschiedenen CGM-Systeme in den letzten 17 Jahren. Systeme mit einer MARD < 10% sind geeignet SMBG zu ersetzen (adaptiert [1])
Es muss allerdings daraufhin gewiesen werden, dass für die Messung der MARD bei CGM-Systemen eine klare Definition für die Messbedingungen notwendig wäre, damit keine willkürlichen Fehler auftreten können. Das liegt am oben genannten Punkt 3, der Messung mit dem CGM im Unterhautfettgewebe gegenüber von SMBG im Blut.
Beispielsweise müsste festgelegt werden, dass nur Wertepaare verglichen werden dürfen, die bei stabilem oder nahezu stabilem Glukosespiegel gewonnen wurden, denn nur dann sind sie wirklich vergleichbar. Diese fehlende Festlegung führt mitunter dazu, dass verschiedene Arbeitsgruppen zu stark abweichenden Ergebnissen mit den gleichen Messsystemen gelangen (CGM und Blutglukosemessgerät).
Die aktuell am besten definierte Beurteilung für die Messqualität von CGM-Systemen stammt von der amerikanischen FDA und beschreibt ein „integriertes CGM“ (iCGM) [2]. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass einerseits Interoperabilität gewährleistet ist (also die Möglichkeit verschiedene Geräte problemlos aufeinander abzustimmen), damit ein iCGM mit verschiedenen Insulinpumpen zu einem AID-System zusammengeschlossen werden kann.
Andererseits muss ein iCGM eine hohe Messqualität aufweisen, damit es ohne weiteres die automatisierte Insulinabgabe sicher gewährleisten kann. Bezüglich der Messgenauigkeit wurde festgelegt, dass ein „iCGM“ innerhalb eines Toleranzbereiches von ± 15% folgenden definierten Anteil an Glukosewerten aufweisen muss (Abb.3):
Abb. 3: Festlegung der Sensorgenauigkeit für ein iCGM . Diese Definition ist gut begründet, allerdings noch nicht Standard [2].
Die von der FDA festgelegten Bedingungen legen also eine Prozedur für einen exakten Datenvergleich fest und sorgen dafür, dass Angaben zur Messgenauigkeit valide sind. Diese Festlegung der Qualitätskriterien für iCGM schließen näherungsweise eine Lücke zur Beurteilung der Genauigkeit von CGM-Messungen.
Aktuell beschäftigt sich eine internationale Arbeitsgruppe unter Leitung von Dr. Guido Freckmann (Institut für Diabetes-Technologie in Ulm) im Auftrag der IFCC (International Federation of Clinical Chemistry) mit einer exakten Definition von Messbedingungen und Messgenauigkeit [3]. Auf weitere wichtige Fragen zur Messgenauigkeit von CGM-Systemen wird in der nächsten Ausgabe der BSL eingegangen.
[1] Shah V et.al. Continuous glucose monitoring category update: clinical outcomes, new technologies, and therapeutic dosing. Symposium Dexcom, ADA 2018, Orlando
[2] U.S. Food and Drug Administration, Mitteilung 27.03.2018. https://www.fda.gov/news-events/press-announcements/fda-authorizes-firstfully-interoperable-continuous-glucose-monitoring-system-streamlines-review letzter Aufruf: 03.05.2022.
[3] Freckmann G. Hompage IFCC.
http://www.ifcc.org/ifcc-scientific-division/sd-working-groups/wg-cgm/ , letzter Aufruf: 07.06.2022.
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