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Sich pausenlos um den Diabetes des Kindes kümmern zu müssen, kann sehr belastend sein und Stress auslösen. Diplom-Psychologin Laura Galuschka empfiehlt, hin und wieder einen Perspektivwechsel zu versuchen und Stress auszugleichen.
Diabetes kennt keine Pause, kein Wochenende, keine Ferien. Betroffene – und bei erkrankten Kindern natürlich vor allem die Eltern – müssen sich 24/7 kümmern: den Glukoseverlauf im Blick behalten, Blutzucker messen, Kohlenhydrateinheiten berechnen, Insulin zuführen.
Das ist eine große Aufgabe – zusätzlich zu all dem Stress, den das Leben sonst noch so mit sich bringt. Viele fühlen sich durch die Therapie des Diabetes gestresst. Und die Crux dabei: Stress kann sich negativ auf den Blutzucker auswirken. Ein wahrer Teufelskreis. Die gute Nachricht: Der angemessene Umgang mit Stress lässt sich lernen.
Der Begriff Stress wird längst geradezu inflationär gebraucht. Und haben wir vielleicht unbewusst längst zum Glaubenssatz erkoren, dass alle, die keinen Stress haben, auch nichts leisten? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist sich sicher: Stress gehört zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts.
Aber was ist Stress eigentlich? Das englische Ursprungswort steht für Druck und Anspannung. Der Arzt Hans Selye gilt als Vater der Stressforschung. Er führte den Begriff vor rund 90 Jahren ein und wies nach, dass Stress für den Körper eine laute Alarmsirene ist.
Das System schaltet auf Flucht und Kampfbereitschaft. Das Herz schlägt schneller, alle Muskeln werden angespannt, die Pupillen weit. Durchaus sinnvoll, wenn der Tiger näher kommt. Selye sortierte Stress in den positiven Eustress, der zu Höchstleistungen antreibt, und den negativen Distress, der als Risikofaktor für viele Erkrankungen gilt.
Eustress ist also durchaus nützlich, Distress dagegen gefährlich. Aber was stresst denn nun wie? Auslöser und Wirkung von Stress sind ganz individuell. Was den einen in den negativen Distress treibt, ist für die andere gute Motivation zu bester Performance dank Eustress. Also beginnt Stress im eigenen Kopf.
Wenn der Zuckerwert des Sohnes die 250er-Schwelle überschritten hat, läuft das Gedankenkarussell der einen Mutter auf Hochtouren: Ich schaffe es nicht, dafür zu sorgen, dass der Wert im Zielbereich bleibt. Ich bin einfach total unfähig und bekomme nichts richtig auf die Reihe. Was wird der Arzt beim nächsten Termin sagen? Wird mein Kind die schlimmsten Folgeerkrankungen erleiden müssen und ich bin schuld daran? Die zweite Mutter dagegen betrachtet die Situation sachlich: Sie nimmt den hohen Zuckerspiegel wertfrei zur Kenntnis und korrigiert ihn.
Eigene Erfahrungen, verinnerlichte Leitsätze und individuelle Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Perfektionismus) wirken als (heimliche) Stressverstärker. Sie zu erkennen, ist der erste Schritt zur Stressbewältigung. Und dazu gilt es, die real existierenden Stress-Auslöser (Stressoren) zu erkennen.
Was sind Ihre ganz persönlichen Stressoren? Durch welche Ereignisse, Informationen, Verhaltensweisen geraten Sie in Stress? Und wie steigen Ihre Stressverstärker darauf ein? Meldet sich die Ungeduld, das chronisch schlechte Gewissen, der innere Besserwisser?
Last but not least gilt es, die eigenen Stressreaktionen wahrzunehmen. Der eine wird unkonzentriert und fahrig, manch einer aggressiv, der nächste zieht sich zurück, einige reagieren mit Kopfschmerzen oder Verspannungen im Nacken, die nächste wird von Schlaflosigkeit oder Magenschmerzen gequält, andere reagieren mit unkontrollierbaren Ängsten.
Die perfektionistische, selbstanklagende Mutter misst/scannt vielleicht nach dem 250-er-Wert täglich 35 Mal den Zucker ihres Sohnes, steht nachts auf, um zu kontrollieren, leidet unter Schlafmangel. Der Sohn reagiert zunehmend gereizter, und sein Zucker lässt sich vom Stress auch noch hochtreiben. Das Beispiel verdeutlicht, wie ein Zuckerwert als Stressfaktor wirkt und Stressreaktionen nach sich zieht. Wie lässt sich das Dilemma auflösen?
Sicherlich hilft es der Mutter, anzuerkennen, dass niemand die Bauchspeicheldrüse hundertprozentig imitieren kann. Zuckerwerte außerhalb des definierten Zielbereichs gehören zum Leben eines an Diabetes erkrankten Menschen und sind kein Weltuntergang. Diese Veränderung der inneren Einstellung der Betroffenen ist Voraussetzung für erfolgreiches Stressmanagement.
Manchen gelingt das leichter, wenn sie durch einen Perspektivwechsel eine Distanzierung zur eigenen Situation vornehmen. Die Schlüsselfrage dafür könnte sein: Was würdest du deiner besten Freundin sagen, wenn sie sich derartig schuldig sprechen würde? Helfen kann auch, sich daran zu erinnern (oder erinnern zu lassen), was gerade richtig gut läuft.
Und in der Stresssituation selbst erst einmal ganz bewusst tief ein- und auszuatmen und die Schultern fallen zu lassen. Beim Atmen ruhig mal die Hände auf den Bauch legen und bewusst durch die Nase einatmen, merken, wie sich der Bauch dabei hebt und beim Ausatmen aus dem Mund wieder senkt. Dies kann man überall und jederzeit einsetzen.
Hinzu kommt: Stress wird sich nie komplett vermeiden lassen. Aber Stress braucht einen Ausgleich. Also gilt es, nach stressigen Phasen die eigenen Energiereserven wieder aufzutanken. Vielleicht bei einem Waldspaziergang oder einer Massage, bei einem guten Gespräch mit Freunden oder einem intensiven Workout? Der offene Austausch mit anderen betroffenen Familien entlastet durch die Erkenntnis, nicht allein in einer solchen Situation zu sein. Das kann den Druck ebenfalls minimieren.
Für die unabdingbaren Therapiemaßnahmen hilft es, Rituale zu entwickeln. Dann kommt das geliebte Kuscheltier bei jedem Katheterwechsel zum Einsatz und erzählt eine spannende Geschichte oder die von Jugendlichen als nervig bewertete Dokumentation wird angedockt an das abendliche Serien-Gucken.
Um insgesamt gelassener zu werden, haben sich Entspannungsverfahren und Konzentrationsübungen bewährt:
Ausreichend Schlaf, gesunde, genussvolle und abwechslungsreiche Ernährung, erfreuliche Begegnungen, inspirierende Tätigkeiten, das bewusste Nichtstun und die Erlaubnis zur Langweile sind ebenso „Geheimrezepte“ wie regelmäßige Bewegung, gute soziale Kontakte, Auszeiten für Kreatives wie Nähen, Malen oder Töpfern, Gärtnern oder andere Naturbegegnungen – all das hilft, damit der eigene Stress nachlässt.
Den Stress zu benennen und zu akzeptieren, dass bestimmte Situationen oder Dinge stressen, gehört unbedingt auch dazu. Wohltuend kann es sein, die hartnäckigen Gedanken aufzuschreiben, um sich selbst zu sortieren und sie ein Stück weit loszuwerden. Eine Sprach-Memo auf dem Smartphone geht natürlich auch. Für grüblerische Situationen hilft es häufig, ein Stoppschild vor das innere Auge zu visualisieren.
Und natürlich darf kompetente Hilfe (Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Psychotherapeuten) in Anspruch genommen werden, wenn der eigene Stresszustand als belastend empfunden wird. Die Erfahrung, selbst wirksam zu sein und mit Stress souveräner umgehen zu können, wirkt ganz sicher weiter entlastend. Das wahrzunehmen und sich dafür auf die eigene Schulter zu klopfen, gehört ebenfalls zum gelungenen Stressmanagement.
von Laura Galuschka
Diplom-Psychologin, Hannover,
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin „Auf der Bult“,
E-Mail: galuschka@hka.de
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2019; 11 (2) Seite 14-16
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