Diabetes ist ein Familien-Thema

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Diabetes ist ein Familien-Thema

Petra ist Mutter von drei Töchtern zwischen 15 und 19 Jahren. Die mittlere, Lara, hat seit ihrem 11. Lebensjahr Diabetes. Auch wenn Lara schon seit mehreren Jahren zunehmend selbst Verantwortung für ihr Diabetes-Management übernimmt, betrifft der Diabetes doch die ganze Familie.

“Die Höhen und Tiefen im Leben mit Typ-1-Diabetes – Erzähl’ deine Geschichte”:
Unter diesem Motto hat Mirjam Eiswirth Gespräche zwischen 16 Typ-1-Diabetikern und -Diabetikerinnen in Schottland aufgenommen und sie gemeinsam mit dem Künstler Alpo Honkapohja porträtiert. Alle Namen sind Pseudonyme, und die Zeichnungen sind keine direkten Abbilder der Gesprächs-Teilnehmenden, sondern greifen die Erfahrungen und Stimmungen aus den Gesprächen auf. Die Bilder und Texte zeigen: Diabetes hat viele Gesichter, ist auf den ersten Blick unsichtbar und ganz schön viel Arbeit – aber das Leben geht auch nach der Diagnose weiter.

Im Winter vor sechs Jahren fing alles an. Lara wurde immer müder, nahm ab, trank viel und musste ständig zur Toilette. Petra erzählt: “Lara wollte auf keinen Fall ihren großen Auftritt im Schul-Theater verpassen. Allerdings musste sie so häufig zur Toilette, dass sie Angst hatte, nicht das ganze Stück auf der Bühne durchzustehen.” Gleich nach der Aufführung ging es zum Hausarzt, der eine Blut-Untersuchung veranlasste. Drei Tage später klingelte spätabends das Telefon: “Hier ist das Krankenhaus. Machen Sie sich keine Sorgen, aber Sie müssen gleich mit Ihrer Tochter zu uns kommen, es ist dringend”, sagte die Stimme am anderen Ende.

“Diabetes ist doch irgendwas mit Kohlenhydraten, oder?”

“Es war völlig surreal”, erzählt Petra. “Im Krankenhaus war der Großteil des Personals in den Weihnachtsferien, die Diabetologie hatte frei. Mitten in der Nacht nahm ein Student unsere Daten auf. Irgendwer sagte, wir sollten Urin-Proben sammeln.” Immerhin durfte Lara am Weihnachtstag nach Hause, aber essen musste sie im Krankenhaus. “Die Schwester auf der Kinder-Station nahm ein Sandwich und einen Joghurt aus dem Kühlschrank, schaute ratlos auf die Rückseite und fragte: ‚Diabetes, das ist doch irgendwas mit Kohlenhydraten, oder?‘ Dabei wusste ich doch selbst nichts.”

Übergang in die ambulante Schulung

Nach fünf Tagen wurde die Familie ambulant geschult. “Sie haben uns wirklich als Familie geschult, das war sehr gut”, findet Petra. “Wir haben wahnsinnig viel gelernt und hilfreiche Informationen bekommen, die wir auch heute noch nutzen.” Für die anderen Töchter war es nicht einfach, dass Lara plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekam. “Als Eltern haben wir immer versucht, allen Töchtern gerecht zu werden. Aber Lara braucht manchmal einfach mehr Aufmerksamkeit, weil sie sonst im Krankenhaus landet.”

“Haben wir etwas falsch gemacht?”

Gerade in den ersten Wochen und Monaten haben Petra und ihr Mann sich oft gefragt, warum ausgerechnet Lara Diabetes bekommen hat, ob sie etwas falsch gemacht haben: “Ich habe alle drei Töchter gestillt, wir haben immer gesund und frisch gekocht, darauf geachtet, dass die Mädchen sich bewegen und gesund sind. Das fühlte sich so ungerecht an. Aber die Dinge sind, wie sie sind, damit muss man arbeiten.”

“Sie hat ja sogar Cola getrunken!”

Die Diabetes-Diagnose zu akzeptieren, dabei hat auch die Selbsthilfegruppe für Familien und Kinder mit Typ-1-Diabetes geholfen. Die Situation in der Schule ist nach wie vor schwierig: “Eine Lehrerin kritisierte beim letzten Eltern-Sprechtag, dass Lara bei einem Ausflug ins Kino ja Cola getrunken und Chips gegessen habe. Eine andere Lehrerin sagte: ‚Ihre Tochter kann sich nach der Mittagspause nie konzentrieren, da ist ihr Zucker immer zu hoch.‘ Aber sie haben nur eine halbe Stunde Pause. In der Zeit muss Lara spritzen und essen, da ist ein hoher Wert vorprogrammiert. Andererseits gibt es mittlerweile auch Lehrerinnen, die merken, wenn es Lara nicht gut geht. Bei einer Probe-Klausur vor einigen Wochen war ihr Zucker zu hoch. Die Lehrerin hat ihr angeboten, die Klausur am nächsten Tag nachzuholen.”

Stress führt zu mehr Stress

Der Prüfungs-Stress wirbelt auch den Zucker durcheinander. Petra nimmt wahr, wie frustriert ihre Tochter ist: “Sie hat immer wieder Momente, in denen sie am liebsten alles hinwerfen würde. Zum Glück dauert es nie lange, denn sie weiß, dass es nur schlimmer wird, wenn sie ihren Zucker länger ignoriert. Aber sie so leiden zu sehen, schmerzt auch uns als Eltern.” Seit mehreren Jahren hat Lara eine Insulin-Pumpe, doch gerade mag sie auch die überhaupt nicht: “Sie ist genervt von dem Gerät und hat das Gefühl, dass das Insulin oft nicht richtig ankommt und der Zucker dadurch weniger berechenbar wird.” Also steigt sie für einige Wochen wieder auf Pens um.

Schweres Gepäck

Petra hofft für ihre Tochter, dass die Pause von der Pumpe ihr Erleichterung bringt, vielleicht gerade, weil so die Anzahl der Entscheidungen verringert wird, die sie am Tag treffen muss: “Mit Diabetes muss man ständig planen.Wenn wir in den Urlaub fahren, hat sie immer eine große Extra-Tasche mit all ihren Diabetes-Sachen dabei. Und das ist nicht nur physischer, sondern auch mentaler und emotionaler Ballast. Auch im Alltag trägt sie den Diabetes immer mit sich: Sie kann nicht einfach aus dem Haus gehen, ohne sich vorher überlegt zu haben, was sie vorhat und was sie dazu an Insulin und Essen mitnehmen muss. Davon gibt es keine Pause, keinen Urlaub, nicht mal einen freien Tag. Als Eltern würden wir alles geben, ihr zumindest einen Teil davon abnehmen zu können.”

“Ich bin nicht allein”

“Geteiltes Leid ist halbes Leid”, wie es so schön heißt. Diese Erfahrung konnte Lara bei einer Diabetes-Freizeit machen: eine Woche normal sein, gemeinsam messen, essen, spritzen, sich über den eigenen Körper ärgern und merken, dass andere genau die gleichen Probleme und Herausforderungen haben. Aus diesem Austausch konnte Lara eine ganz andere Unterstützung ziehen, als ihre Eltern oder das Team in der Ambulanz sie ihr geben könnten. Mittlerweile hat sie in der lokalen Selbsthilfe die Rollen getauscht und hilft manchmal bei der Kinder-Betreuung. Dann sitzen alle gemeinsam am Tisch und vergleichen ihre Pumpen oder Messgeräte, und auch die jüngeren Kinder bekommen genau dieses Gefühl: “Ich bin nicht allein.”


Autorin:
© Johanna Mechler
Mirjam Eiswirth

mirjam.eiswirth@gmail.com
Mirjam Eiswirth hat seit ihrem 5. Lebensjahr Diabetes. Sie ist in Deutschland aufgewachsen und hat für Studium und Promotion 6 Jahre in Schottland verbracht. Alpo Honkapohja forscht und zeichnet aktuell in Oslo (mehr auf Doodle Addicts und deviantART, “Valkea”).
Mirjam Eiswirths Gespräche sind inzwischen als Buch erschienen: “Das Unsichtbare sichtbar machen”, zu bestellen bei kirchheim-shop.de. Jetzt auch als eBook!

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (7) Seite 38-39

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  • insulina postete ein Update in der Gruppe In der Gruppe:Reisen mit Diabetes vor 1 Woche

    Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 2 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 4 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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