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Das Austauschjahr in Kolumbien war schon geplant, da bekam Lukas Graute die Diagnose Diabetes. Er ist trotzdem nach Südamerika gereist – und hat es trotz der vielen Rohrzucker-Würfel, die ihm angeboten wurden, nicht bereut.
Heute möchte ich von einer ganz besonderen Erfahrung berichten. Aber zuerst möchte ich mich vorstellen: Ich heiße Lukas Graute, bin 17 Jahre alt und wohne in Essen. Zurzeit gehe ich noch zur Schule.
Mit 15 Jahren bekam ich Diabetes Typ 1. Natürlich war das für mich zuerst einmal ein großer Schlag. Doch meine Familie hat mich sehr unterstützt (das tut sie immer noch), und ich lernte, gerade in meiner ersten Woche im Krankenhaus, den Diabetes so zu nehmen, wie er ist. Denn ich hatte trotz der Erkrankung einen großen Wunsch: ein Auslandsjahr in Südamerika zu verbringen, in Kolumbien. Ich hatte mich bereits vor der Diabetesdiagnose beim Rotary-Jugendaustauschprogramm angemeldet und hatte auch weiterhin vor, für ein Jahr nach Südamerika zu reisen.
Die erste Woche im Krankenhaus war deshalb sehr wichtig für mich. Die Ärzte in der Klinik würden nämlich anhand meiner ersten Ergebnisse entscheiden, ob sie mir von einem Jahr im Ausland abraten müssen oder mir ihr O.k. geben können.
Zum Glück stellte ich mich in den ersten Wochen sehr gut an, und von Seiten der Ärzte gab es keine Vorbehalte gegen das Auslandsjahr. Trotzdem musste noch sehr viel Organisatorisches geklärt werden. Jeder Mensch mit Diabetes, der ins Ausland fährt, kennt das bestimmt. Für mich war insbesondere wichtig, dass die Versorgung mit Insulin über den gesamten Zeitraum gesichert sein würde – wie das in Kolumbien ist, konnte mir keiner so direkt sagen.
Wie sich herausstellte, würde die Insulinversorgung in Kolumbien glücklicherweise kein Problem sein, und dem Jahr dort stand nicht mehr viel im Weg. Zwar musste ich die Kosten für das Insulin und das restliche Zubehör (Teststreifen, Kanülen usw.) selbst zahlen, doch ich konnte auch recht viel davon aus Deutschland mitnehmen. Aber auch dies gestaltete sich schwierig, denn auf einem 13-stündigen Flug muss das Insulin ja durchgehend gekühlt werden.
Nach gefühlten hundert logistischen Meisterleistungen und nachdem ich ein gültiges Visum erhalten hatte (was, nebenbei gesagt, sehr schwierig war), stand der Reise aber nichts mehr im Weg. Medizinisch beraten und begleitet wurde ich das Jahr über von meinem Diabetologen Dr. Wolfgang Kömen aus Essen, der sich schon im Vorfeld intensiv mit meiner Situation auseinandergesetzt hatte. Aber auch meine Austauschorganisation Rotary hatte sich mit dem Diabetes befasst.
Ein paar Monate später fand ich mich in Bogotá wieder, der Hauptstadt Kolumbiens. Das Insulin hatte den Flug gut überstanden, denn ich hatte es in einer speziellen Kühlbox gelagert. Meine erste Gastfamilie wusste schon, dass ich Diabetes hatte, aber das störte sie nicht weiter.
In Bogotá würde ich das ganze Jahr über wohnen bleiben, was mir sehr recht war, denn dort ist es kein Problem, ausreichend Insulin zu kaufen. Der Preis für eine Einwegspritze mit 3 ml Insulin liegt umgerechnet bei sieben bis zehn Euro – also billiger als in Deutschland.
Kolumbien überwältigte mich direkt mit seiner Vielfalt und seiner lebendigen Kultur. Die Menschen waren unheimlich offen und luden mich zu allen möglichen Aktivitäten ein. Doch das hatte manchmal auch seine Nachteile. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist das Essen, denn außer Reis und Bohnen, die es jeden Tag gab, prägen auch Süßspeisen Kolumbiens Esskultur.
So gab es öfters als Nachspeise Würfel aus Rohrzucker (“Panela”). Solche Würfel wurden mir so ziemlich überall angeboten; für mich waren sie in Bezug auf meinen Blutzucker aber recht schwierig einzukalkulieren.
Trotzdem finde ich, dass man nicht zu verschlossen sein und alle Panela-Angebote – die auch von Leuten kamen, die schon wussten, dass ich Diabetes habe – ablehnen sollte. Auch wenn der Blutzucker durch den Verzehr des puren Zuckers steigt, ist es das wert, denn man zeigt so, dass man sich für die Kultur interessiert und sie auch respektiert. Das ist gerade als Austauschschüler sehr wichtig.
Natürlich heißt das nicht, dass man sich nur von Zucker ernähren sollte, doch kleine Kompromisse gegenüber dem Blutzucker sind meiner Meinung nach in Ordnung. Gerade in der lateinamerikanischen Kultur wird es sehr gut aufgenommen, wenn man versucht, sich zu integrieren. In Deutschland würde man, glaube ich, einem Menschen mit Diabetes keine Zuckerwürfel anbieten oder versuchen, ihn davon zu überzeugen, einen solchen Würfel zu essen. Das sieht man in Kolumbien ein wenig lockerer.
Sehr gut kam an, dass ich bereits Spanisch sprechen konnte, als ich in Kolumbien ankam. Kolumbianer lieben es wirklich, wenn Ausländer ihre Sprache sprechen können. Allgemein lernte ich ein sehr offenes und freundliches Kolumbien kennen. Die Risiken und Gefahren, von denen oft die Rede ist, wenn es um Kolumbien geht, hielten sich für mich in Grenzen. Natürlich hatte ich vor meinem Austauschjahr schon viele Horrorgeschichten über Kolumbien gehört – Entführungen, Raub und Morde würden das Land prägen.
Und das ist durchaus nicht weit hergeholt (Paramilitärs, FARC-Guerrilla, Drogenmafia …). Erst vor kurzem wurde der Friedensvertrag zwischen Kolumbiens Regierung und der linken FARC-Guerilla unterschrieben; der Konflikt dauerte an die 50 Jahre und kostete hunderttausende Kolumbianern das Leben – und ob die ausgehandelte Einigung überhaupt umgesetzt werden kann, ist ja auch noch ungewiss; schließlich wurde der Friedensvertrag in einem Referendum abgelehnt.
In Kolumbien besteht eine große Kluft zwischen Arm und Reich. Das Schulsystem unterscheidet sich stark von dem in Deutschland. Nach meiner Erfahrung sind in Kolumbien die meisten Schulen privat, und die Eltern müssen sehr viel Geld bezahlen, damit ihre Kinder dort aufgenommen werden. Das können sich Menschen mit weniger Geld logischerweise nicht leisten.
Für die Schule musste ich immer um 4.20 Uhr aufstehen, um noch den Schulbus zu bekommen. Das war für mich gerade am Anfang sehr schwer – ich wusste nicht so recht, wie viel Insulin ich mir morgens spritzen sollte und ob der Basalwert denn immer noch stimmt. Die Mahlzeiten in der Schule waren immer sehr süß und schwer einzuschätzen.
Aber ich denke, ein paar Abstriche muss man immer machen, wenn man Diabetes hat und für ein Jahr in einer fremden Kultur lebt. Zum Beispiel gab es in Kolumbien auch keine Teststreifen für mein Accu Check Aviva-Messgerät zu kaufen. Deswegen musste ich auf ein anderes Gerät wechseln. Die Preise für die Teststreifen sind ähnlich wie hier.
Auch als ich in Mexiko mit meiner Gastfamilie Ferien machte, konnte ich dort Insulin (NovoRapid) kaufen. Ich brauchte noch nicht einmal das Rezept vorzuzeigen, und die Spritzen kosteten genauso viel wie in Kolumbien auch (ca. acht Euro).
Ein weiteres Highlight meines Aufenthaltes in Kolumbien war eine Reise zum Amazonas. Der Regenwald im Amazonasgebiet erstreckt sich nicht nur über Südkolumbien, sondern auch über zahlreiche andere Länder Lateinamerikas. So kam ich auf dieser Reise auch nach Brasilien und Peru.
Doch bevor die Reise ins Amazonasgebiet überhaupt losgehen konnte, musste einiges geplant werden, denn im feuchten Urwald kann man nicht mal eben schnell zur Apotheke gehen und nach Insulin oder Teststreifen fragen. Deshalb nutzte ich auch auf dieser Reise meine Kühltasche, die mein Notinsulin immer schön kalt hielt.
Zudem hatte ich vergessen, mir noch rechtzeitig eine Gelbfieberimpfung geben zulassen. Deshalb bin ich noch einen Tag vor der Abreise zum Flughafen gefahren, wo man normalerweise kostenfrei gegen Gelbfieber geimpft wird. (Eine Gelbfieberimpfung sollte man sich eigentlich unbedingt zwei Wochen vor Beginn der Reise geben lassen!)
Dort angekommen wollte man mich aber nicht impfen, weil ich Diabetes habe. Sie meinten, dass Diabetiker anders auf Impfungen reagieren als Nicht-Diabetiker. So musste ich zu einer speziellen Klinik fahren und mich dort impfen lassen. Letztendlich hat sich die Mühe aber sehr gelohnt, denn der Amazonas war einzigartig schön und sehr erlebnisreich.
Während der gesamten Reise und während meines gesamten Austauschjahrs in Kolumbien bin ich kein einziges Mal in ein diabetisches Koma gefallen und musste auch wegen meines Diabetes nicht ins Krankenhaus. Das ist, finde ich, schon mal das Wichtigste. Wieder in Deutschland stellte sich allerdings heraus, dass mein Langzeitwert etwas zu hoch war. Aber, wie man im Englischen sagen würde: “Nothing that can‘t be fixed.”
Ich bin der Meinung, dass man auch mit Diabetes tolle Reisen in exotische Länder und zu beeindruckenden Kulturen machen kann. Man muss so viele Erfahrungen mitnehmen, wie man nur kann. Auch wenn meine Werte für das eine Jahr jetzt mal nicht so gut waren: Diese Erfahrung kann mir keiner nehmen.
von Lukas Graute
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2016; 9 (4) Seite 14-16
5 Minuten
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