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Lilly, 6 Jahre alt, hat schon mit 15 Monaten Diabetes bekommen. Ihre Mutter Christina Rötzheim erzählt im Interview vom schwierigen Weg hin zu einer Diabetestherapie, die zu Lilly und der Familie passt, von Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes als Vorbildern für Lilly und von der Notwendigkeit, offen mit dem Diabetes umzugehen.
DEJ: Frau Rötzheim, wie wurde bei Lilly der Diabetes festgestellt?
Christina Rötzheim: Daran kann ich mich noch genau erinnern: Wir waren in Holland am Meer, und Lilly war gerade erst abgestillt. Plötzlich hat sie sehr viel Wasser getrunken. Und sie war sehr müde. Wir haben uns darüber gewundert, aber es passte für uns alles mit dem Abstillen zusammen.
Dann ging alles Schlag auf Schlag. Wir kamen abends zu Hause an, und mitten in der Nacht hat Lilly ganz komisch geatmet. Am nächsten Tag sind wir zum Kinderarzt. Der hatte erst mal gar keine Ahnung, was es sein könnte, und erst beim vierten oder fünften Arztbesuch hat man die Idee gehabt, den Blutzucker zu messen. Das Gerät konnte den Wert gar nicht mehr anzeigen. Notarzt und Krankenwagen wurden gerufen, und es wurden 778 mg/dl gemessen. Wir wussten zwei Tage lang nicht, ob noch alles gut geht – der Wert war wahrscheinlich schon recht lange relativ hoch gewesen.
Der wichtigste Ankerpunkt in dieser Zeit war meine Kusine – sie hat mit 12 Jahren Typ-1-Diabetes bekommen. Bis dahin hatten wir kein enges Verhältnis, aber sie war sofort für uns da, und wir konnten offen sprechen. Das war unglaublich wertvoll!
DEJ: Wo wird Lilly betreut?
Rötzheim: Wir wohnen in Krefeld und werden inzwischen in Mönchengladbach-Rheydt betreut. Nach der Diagnose – noch in einer anderen Klinik – haben wir uns überhaupt nicht verstanden gefühlt. Und so haben wir schon nach zwei Monaten den Schritt in eine wunderbare Kinderdiabetes-Ambulanz 30 Kilometer weiter weg gewagt. Wir sind jetzt umgezogen, deshalb war das für die Zukunft keine Lösung.
Weil wir immer unseren eigenen Weg gewählt haben – was das Material angeht und auch die Betreuung des Kindes – mussten wir uns schon stark durchsetzen, um die richtige Klinik für uns zu finden. Wir haben sehr früh gemerkt, dass der Standardweg für uns und unser Kind nicht das Richtige sein würde.
DEJ: Warum haben Sie sich in der ersten Klinik nicht verstanden gefühlt?
Rötzheim: Wir sind eine sportliche Familie, und Lilly war schon immer ein sehr aktives und auch wildes Kind. In den ersten Tagen im Krankenhaus bekam sie das Insulin mit einem Pen. Das hat uns gefallen, weil Lilly nichts am Körper hatte. Als man uns gesagt hat, in Zukunft würde aber nur eine Pumpe mit Schlauch in Frage kommen, hatten wir furchtbare Bauschmerzen. Natürlich kann ich die Gründe für eine Schlauchpumpe nachvollziehen, aber schon im Krankenhaus hat Lilly ständig an den Kathetern gezogen, und wir wussten nicht, wie das klappen soll. Trotzdem hat man uns praktisch zu einer Pumpe mit Schlauch gezwungen. Lilly war nie glücklich mit der Pumpe am Körper. Sie hat von Anfang an am Schlauch gezogen. Wir haben unser aktives Leben fortgeführt, und man merkte dem Kind einfach an: Die Pumpe ist immer im Weg.
Wir hätten uns damals am liebsten für eine schlauchlose Pumpe oder für einen Pen entschieden, aber es hieß: Das machen wir nicht, das geht nicht. Nach anderthalb Jahren haben wir uns in Zusammenarbeit mit unserer Krankenkasse die schlauchlose Omnipod-Pumpe verschafft und eine erstklassige Entwicklung bei Lilly gesehen. Kinder sind eben unterschiedlich, und für uns war von Tag 1 einfach klar, dass für Lilly mit ihren 15 Monaten eine Schlauchpumpe nichts ist – das passte nicht zu ihr und nicht zu uns.
DEJ: Lilly spielt Hockey. Wie ist sie zu diesem Sport gekommen?
Rötzheim: Wir spielen alle Hockey, haben alle auch schon in der Kindheit Feldhockey gespielt. Gleichzeitig besteht die halbe Familie aus Leichtathleten, das heißt, Sport ist ein ganz großes Thema. Lilly spielt mit ihren 6 Jahren schon richtig Hockey – das ist ihre Leidenschaft.
Und wir haben das große Glück, dass das letzte Kind mit Diabetes, das in unserem Hockeyclub gespielt hat, Timur Oruz war und heute Hockey-Nationalspieler ist. Das wusste ich zuerst nicht. Ich habe die Trainerin angesprochen und hatte schon Sorge, wie sie reagiert, wenn ich sage, dass ich immer dabei sein muss. Ich war dann sehr positiv überrascht, dass durch Timur Oruz und durch seine Offenheit die Trainer schon sehr gut aufgeklärt sind. Und wenn Fragen kommen, sagt Lilly mittlerweile nur noch: „Guck mal, da vorne hängt ein Plakat von Timur Oruz, der hat auch Diabetes und spielt in der Nationalmannschaft.“
DEJ: Wie wichtig ist es für Lilly, ein Vorbild wie Timur zu haben?
Rötzheim: Das ist für Lilly unglaublich wichtig. Wir haben von Anfang an gemerkt, dass sie viel mehr von Erwachsenen als von Kindern mit Diabetes profitiert – z. B. auch von meiner Kusine. Wenn sie Kontakt hat zu erwachsenen Menschen mit Diabetes, die mitten im Leben stehen, weiß sie: Da komme ich auch hin; ich werde genauso groß und so stark, egal, was die anderen erzählen. Darauf ist Lilly mittlerweile sehr stolz.
DEJ: Und wie ist es im Kindergarten?
Rötzheim: Bei uns ist es so, dass wir von Anfang an alles das, was man wenn nötig für ein Kind mit Typ-1-Diabetes beantragen kann, auch in Anspruch genommen haben. Das heißt, Lilly hat eine Pflegestufe, einen Schwerbehindertengrad, im Kindergarten hat sie eine Integrationshilfe. Das war uns, aber auch dem Kindergarten, sehr wichtig. So sind wir sicher, dass Lilly wirklich gut betreut ist, müssen uns aber auch keine Gedanken machen, dass andere Kinder zu kurz kommen könnten – was deren Eltern oft befürchten.
DEJ: Nutzt Lilly auch ein CGM-System?
Rötzheim: Ja. Das erste CGM-System war an die Schlauchpumpe gekoppelt und hat uns mehr Sorgen bereitet als geholfen, weil wir die Werte immer an der Pumpe ablesen und dafür Lilly z. B. beim Spielen stören und das T-Shirt hochheben mussten. Deshalb haben wir uns ein Jahr nach der Diagnose dafür eingesetzt, auf den Dexcom G5 zu wechseln. Seitdem können wir Lillys Werte aus der Entfernung beobachten und haben davon massiv profitiert. Heute nutzen wir den Dexcom G6.
DEJ: Wie geht Lilly selbst mit ihrem Diabetes um?
Rötzheim: Was sie schon zuverlässig macht, auch vor fremden Leuten: Wenn sie etwas geschenkt bekommt, sagt sie deutlich, dass sie das nicht gleich essen darf und erst einmal ihre Mama fragen muss. Und sie erzählt auch, was sie für Geräte am Körper hat, oder sagt, dass ihre Mama das erklären kann.
Was ihre Werte angeht: Die kann sie praktisch gar nicht einschätzen. Natürlich zeigen wir ihr oft das Empfangsgerät oder den Wert auf meinem Handy, damit sie es lernt. Aber sie könnte sich noch nicht selbst helfen. Gestern z. B. waren wir beim Kinderturnen. Sie war mitten im Spiel und ging auf eine Unterzuckerung zu – und hätte es selbst nicht gemerkt. Sie würde weitertoben, bis im schlimmsten Fall etwas passieren würde.
DEJ: Sind auch Ihr Mann und andere in die Diabetesbetreuung involviert?
Rötzheim: Mein Mann auf jeden Fall. Und wir haben mittlerweile meine Familie gut mit einbezogen, weil es uns wichtig ist, dass Lilly auch mal von der Oma versorgt werden kann. Ich habe eine jüngere Schwester, die, als wir noch keine Integrationshilfe hatten, neben ihrem Studium Lilly in den Kindergarten begleitet hat. Wir werden ganz toll unterstützt, und das ist sehr viel wert.
DEJ: Was würden Sie anderen Eltern von Kindern mit Diabetes raten?
Rötzheim: Das Wichtigste ist, dass man auf sich selbst und auf das Kind hört und sich nicht verschrecken lässt, wenn es heißt, etwas würde nicht gehen. Sei es auf der medizinischen Seite, sei es, was z. B. Urlaube angeht. Wir sind auch schon auf Java gewesen. Wenn man sich dahinterklemmt, schafft man es auch – und wird glücklich.
DEJ: Gibt es noch etwas, was Sie gerne weitergeben möchten?
Rötzheim: Was mir sehr am Herzen liegt: Ich finde es ganz wichtig, dass Kinder von Anfang an lernen, offen mit dem Diabetes umzugehen. Und dazu gehört, nicht nur zu sagen: „Ich kann alles machen.“ Man muss sich auch trauen, zu sagen: „Ich kann alles machen, aber ich brauche auch Pausen. Ich kann nicht immer toben oder jederzeit alles essen.“ Nur so werden die Kinder stark und selbstbewusst. Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass viele Kinder, auch im näheren Bekanntenkreis, dazu angehalten werden, den Diabetes zu verschweigen und nicht zu sagen, dass sie etwas essen müssen oder dass sie gerade einen hohen Wert haben und sich deshalb nicht konzentrieren können.
Am Rande des Hockeyplatzes habe ich erzählt bekommen, dass ein Junge mal Typ-1-Diabetes hatte – aber nun nicht mehr. Wie kann das sein? Die Eltern sagen z. B. nicht mehr, wenn der Junge Freunde besucht, dass er Diabetes hat – und gehen so doch ein unnötiges Risiko ein. Und es ist vollkommen unnötig, denn es ist ja nicht schlimm, Diabetes zu haben.
Interview:
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Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2022; 13 (1) Seite 20-22
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