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In Ausgabe 2/2013 haben wir die Selbsthilfegruppe Swiss Diabetes Kids vorgestellt. Das hat uns neugierig gemacht: Wie werden Kinder und Jugendliche mit Diabetes in der Schweiz behandelt? Nachgefragt haben wir bei Dr. Ursina Probst-Scheidegger.
Diabetes-Eltern-Journal (DEJ): Frau Dr. Probst-Scheidegger, wie viele Kinder mit Diabetes gibt es in der Schweiz?
Dr. Ursina Probst-Scheidegger: Ich denke, es sind so um die 5000. Kinderdiabetologen gibt es rund 30.
DEJ: Wie unterscheidet sich die Ausbildung des Kinder- von dem des Erwachsenendiabetologen?
Probst-Scheidegger: Wir sind alle primär Pädiater und haben den Schwerpunkt Endokrinologie/Diabetologie. Die Erwachsenendiabetologen hingegen sind nicht zwangsläufig Internisten, sondern können direkt den Facharzttitel für Diabetologie erwerben.
DEJ: Werden Kinder mit Diabetes als erstes in der Klinik eingestellt?
Probst-Scheidegger: Ja, die allermeisten Eltern machen das stationär. Tendenziell geht der Trend des stationären Aufenthalts aber nach unten. Ich denke, es kommt ein bisschen aufs Zentrum an. Vereinzelt werden Kinder, die nicht in Ketoazidose sind, ambulant eingestellt.
DEJ: Halten Sie es für eine gute Alternative, ambulant einzustellen?
Probst-Scheidegger: Ich denke, für Familien, die kooperativ und einigermaßen intakt sind, ist es wahrscheinlich nicht schlecht, es ambulant zu versuchen. Dann hat man gleich die Erprobung im Alltag. Außerdem ist ein Spitalaufenthalt ein einschneidendes Erlebnis. Wenn es medizinisch vertretbar ist, könnte man versuchen, mehr Kinder ambulant einzustellen.
DEJ: Also haben Sie in der Schweiz die Wahlmöglichkeit?
Probst-Scheidegger: Ja, da ist jeder frei.
DEJ: Wie geht die Behandlung weiter, wenn das Kind eingestellt ist?
Probst-Scheidegger: Ich denke, grundsätzlich machen das alle etwa gleich: Wenn nichts Spezielles ist, kommt das Kind etwa viermal im Jahr zur Verlaufskontrolle.
DEJ: Können alle bei einem Kinderdiabetologen behandelt werden?
Probst-Scheidegger: Es gibt auch Kinder, die bei Erwachsenendiabetologen betreut werden. Die Gründe sind oft lokale Gegebenheiten und teilweise auch persönliche Wünsche, wenn Leute mit dem lokalen Kinderdiabetologen nicht glücklich sind.
DEJ: Wie viele Kinder tragen in der Schweiz eine Pumpe? Und wer übernimmt die Kosten?
Probst-Scheidegger: Das ist von Zentrum zu Zentrum sehr verschieden. In der Westschweiz sind es relativ viele, in der Deutschschweiz auch. Es hängt sehr davon ab, wie pumpenaffin die Betreuer sind. Bezahlt wird das fast voll umfänglich von der Kasse. Kinder, die sehr viele Katheterwechsel haben, müssen zum Teil noch ein bisschen draufzahlen. Probleme habe ich wirklich noch keine erlebt. Das ist relativ klar geregelt.
DEJ: Und wie sieht es z. B. mit der CGM aus?
Probst-Scheidegger: Das wird auch immer einfacher. Wenn die Kriterien erfüllt sind, etwa schwere Hypoglykämien oder schlecht einstellbarer Diabetes, werden die Kosten eigentlich relativ problemlos für sechs Monate übernommen. Danach muss man dann die Wirksamkeit beweisen. Entweder wird die CGM dann weiter bewilligt oder nicht.
DEJ: Wird das Kind z. B. beim Schulstart begleitet?
Probst-Scheidegger: Das ist nicht strukturiert geregelt, aber diese Möglichkeiten haben wir. Meist machen das die Eltern selbst, aber wir bieten immer Unterstützung an, und es dürfen auch die Lehrer zu uns kommen. Das ist individuell und nach Wunsch und Bedarf der Familie und der Lehrpersonen.
Nächste Seite: die Betreuung in Schule und Kindergarten, die Rolle der Selbsthilfe und der Übergang von der Kinder- zur Erwachsenendiabetologie.
DEJ: Wie ist die Betreuung in Schule und Kindergarten geregelt?
Probst-Scheidegger: Auch das ist sehr individuell: Was braucht das Kind, was möchte die Familie zulassen, und was ist die Betreuungsperson bereit, zu übernehmen. Da gibt es das ganze Spektrum. Sicher ist es nicht wie in den USA, dass wir eine “School Nurse” haben, die z. B. den Blutzucker misst. Es gibt Kinder, die machen das völlig alleine und die Lehrperson kümmert sich um fast nichts, bei anderen helfen die Betreuer schon. Es gibt aber kein strukturiertes Modell.
DEJ: Aber Kinder mit Diabetes gehen in die Regelschulen?
Probst-Scheidegger: Ja, unbedingt. Das ist uns sehr, sehr wichtig. Da schauen wir alle drauf, dass Kinder wegen ihres Diabetes nicht benachteiligt sind. Dass ein Kind von der Schule abgelehnt wird, ist bei uns eigentlich gar nicht möglich. Die Schulen können Kinder nicht einfach abweisen, wenn es nicht aus intellektuellen Gründen ist. Es sind ja alles staatliche Schulen. Kinder, die intellektuell dazu fähig sind, in die Schule zu gehen, gehen auch hin.
Manchmal, im Skilager oder so, ist es ein bisschen schwieriger. Aber ansonsten habe ich selten irgendwelche Probleme erlebt. Bei den Kleineren vielleicht noch mehr – in einem Hort gibt es mehr Situationen, in denen die Betreuer unsicher sind. Aber dann sagen meistens die Eltern, sie wollen das Kind nicht mehr schicken.
DEJ: Erleben Sie auch, dass Mütter wegen des Diabetes ihres Kindes den Beruf aufgeben?
Probst-Scheidegger: Sehr selten. Die meisten leben ihren Alltag wie zuvor. Und viele Mütter von Kleinkindern sind, unabhängig von der Diagnose Diabetes, in Teilzeit oder vorübergehend nicht beruflich engagiert.
DEJ: Sind Sie zufrieden mit der Versorgung – oder gibt es auch Dinge, die man verbessern könnte?
Probst-Scheidegger: Ich denke, generell ist die Versorgung nicht schlecht. Und wir haben inzwischen regional genug Einzelpraxen und Zentren, so dass die Kinder nicht zu weit reisen müssen, außer vielleicht Kinder aus den Bergregionen.
DEJ: Welche Rolle spielt die Selbsthilfe?
Probst-Scheidegger: Frau Maurer von “Swiss Diabetes Kids” versucht, Aktivitäten zu bündeln; das ist im Moment am Wachsen. Aber ich denke, das wird eine deutschschweizer Gruppe bleiben. Die Welschen [französischsprachige Schweizer] haben ihre eigenen Gruppen.
DEJ: Haben Sie Kontakt zu anderssprachigen Kinderdiabetologen?
Probst-Scheidegger: Wir sind so eine kleine Gruppe in der Schweiz, wir kennen uns alle.
DEJ: Wie wird der Übergang von der Kinder- zur Erwachsenendiabetologie gestaltet?
Probst-Scheidegger: Das ist, soweit ich weiß, an den meisten Zentren so, dass man es zusammen bespricht, zu wem der Jugendliche gehen soll. Entscheidend sind regionale und persönliche Vorlieben. Der Jugendliche bekommt dann eine individuelle Überweisung. Zum größten Teil arbeiten die Erwachsenendiabetologen in Praxen, aber es ist auch zunehmend so, dass es an den Kliniken Ambulanzen gibt, die Sprechstunden anbieten. Die Praxen sind natürlich regional weiter verteilt. Und oft wird eine Praxis auch als persönlicher empfunden.
DEJ: Und wenn eine Familie sehr abgeschieden wohnt?
Probst-Scheidegger: Wir haben inzwischen recht viele Zentren. Und z. B. im Wallis gibt es jemanden, der Sprechstunden anbietet und dafür einmal im Monat ins Wallis fährt. Dieses System hat sich in den letzten 10, 15 Jahren entwickelt, und es gibt inzwischen nicht mehr so viele Regionen, von wo aus man mehr als eine oder anderthalb Stunden fahren muss zu einem Diabeteszentrum.
Das Interview führte Nicole Finkenauer-Ganz
Kontakt:
Kirchheim-Verlag, Kaiserstra0e 41, 55116 Mainz, Tel.: (06131) 9 60 70 0,
Fax: (06131) 9 60 70 90, E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2014; 7 (1) Seite 8-9
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