5 Minuten
Die orangefarbene Box mit der Notfallspritze für den Fall einer schweren Unterzuckerung haben die meisten Familien im Kühlschrank. Aber schon bei der Übernachtung bei Oma stellt sich die Frage: Kann ich die Box mitgeben? Denn das Aufziehen der Spritze und das Spritzen des Glukagons in den Muskel bei einem Notfall erscheinen nicht gerade einfach und unkompliziert. Jetzt gibt es etwas Neues: Das erste und einzige Glukagon, das in die Nase gesprüht wird (nasale Gabe) ist seit Kurzem auch in Deutschland erhältlich.
Hypoglykämien (Unterzuckerungen) sind häufige, unerwünschte Nebenwirkungen der Insulintherapie. Die Gründe sind vielfältig und reichen von ungenauen Berechnungen des Insulins oder des Essens, unregelmäßigem Essen über (ungeplante) körperliche Aktivitäten bis hin zu Stress. Eine einheitliche Definition der Unterzuckerung zu finden, ist schwierig, da das Auftreten von Symptomen unabhängig von den Blutzuckerwerten sehr unterschiedlich sein kann.
In verschiedenen internationalen Fachgesellschaften hat man sich auf diese Einteilung geeinigt:
Bei Eltern, Familienangehörigen und anderen Betreuungspersonen besteht häufig große Angst vor der unerwarteten schweren Unterzuckerung. Wer schon einmal eine schwere Unterzuckerung miterlebt hat oder in dieser Situation Erste Hilfe leisten musste, weiß, dass diese Situation meist ein dramatisches Ereignis für alle Beteiligten ist.
Um die schwere Unterzuckerung zu verhindern, ist es wichtig zu wissen, wie Unterzuckerungen schnell und korrekt behandelt werden. Bei Blutzuckerwerten < 70 mg/dl (3,9 mmol/l) sollten immer schnell wirksame Kohlenhydrate (z. B. Traubenzucker oder Glukosegel) eingenommen werden. Diese heben den Blutzucker ohne Verzögerung rasch an. Bei einer schweren Unterzuckerung, bei der die Betroffenen weder in der Lage sind, zu essen noch zu trinken, muss so schnell wie möglich die Notfallspritze mit Glukagon verabreicht werden.
Glukagon ist ebenso wie Insulin ein Hormon, das in den Zellen der Bauchspeicheldrüse hergestellt wird. Es ist der Gegenspieler des Insulins und steuert den Blutzucker u. a. in Phasen ohne Nahrungsaufnahme. Das Glukagon wird nach Bedarf von der Bauchspeicheldrüse abgegeben und bewirkt in der Leber eine Freisetzung von Zuckerreserven.
Insulin unterdrückt aber die Freisetzung von Glukagon. Im Gegensatz zu Menschen ohne Diabetes kommt es deshalb bei Menschen mit Diabetes, die Insulin gespritzt haben, bei drohender Unterzuckerung nicht immer zu einer rechtzeitigen Ausschüttung von Glukagon, und man braucht Glukagon von außen. Erfolgt eine Glukagonzufuhr im Notfall von außen (bisher mit Spritze, jetzt auch über die Nase möglich), werden die Zuckerspeicher der Leber entleert und in das Blut abgegeben, sodass der Blutzucker auch ohne die Aufnahme von Traubenzucker unmittelbar ansteigen kann und die schwere Unterzuckerung innerhalb von einigen Minuten beendet ist.
Mit den aktuellen Therapien und ausführlichen Schulungen ist die schwere Unterzuckerung glücklicherweise eine seltene Komplikation geworden, das zeigen Untersuchungen aller kinderdiabetologischen Zentren in Deutschland. Natürlich kann man weder die Notfallspritze noch das neue Nasenpulver immer dabeihaben.
Deshalb sollte das Vorgehen im Notfall Betreuern von Kindern mit Diabetes bekannt sein:
Als Notfallmedikament ist Glukagon als GlucaGen Hypokit von NovoNordisk erhältlich. Das Hypokit besteht aus einer mit Wasser gefüllten Fertigspritze und einem Glasfläschchen mit Glukagonpulver. Vor Benutzung muss das Wasser der Fertigspritze in das Glasfläschchen gespritzt und das Fläschchen dann geschwenkt werden, bis sich das Pulver vollständig gelöst hat. Die Flüssigkeit sollte dabei möglichst nicht zum Schäumen gebracht werden.
Nun kann das Gemisch mit der Spritze aufgezogen werden. Beim Aufziehen entstandene Luftblasen müssen entfernt werden, bevor die Lösung unter die Haut (subkutan) oder in den Muskel (intramuskulär) gespritzt werden kann. Die Notfallspritze zu verabreichen, ist also leichter gesagt als getan!
Dem Unternehmen Eli Lilly ist es nach vielen Jahren der Forschung gelungen, ein neues Notfallmedikament zu entwickeln, ein glukagonhaltiges Nasenpulver namens Baqsimi.
Das Nasenpulver ist in einem Einweg-spender erhältlich. Benutzt wird es wie ein Nasenspray. Die Einmaldosis wird mit einem Sprühstoß in ein Nasenloch verabreicht. Das Glukagon gelangt dann direkt über die Nasenschleimhaut in den Blutkreislauf. Deshalb ist eine Inhalation nach dem Niederdrücken des Kolbens nicht erforderlich, denn das Pulver wird passiv in der Nase aufgenommen.
In einer Studie konnte gezeigt werden, dass selbst ungeschulte Personen zu über 90 Prozent in der Lage waren, das nasale Glukagon zu verabreichen. Der Anteil derer, denen eine erfolgreiche Gabe gelang, war bei nicht instruierten Bekannten/Freunden und instruierten Betreuern ähnlich hoch.
Die Nebenwirkungen von Baqsimi ähneln den Nebenwirkungen des injizierbaren Glukagons, da es sich um denselben Wirkstoff handelt: Nach Verabreichung kann es zu Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen führen. Dadurch, dass das Pulver in die Nase gesprüht wird, können auch Reizungen der oberen Atemwege auftreten (z. B. tränende, gerötete oder juckende Augen und eine juckende und verstopfte Nase). Die Symptome sind vorübergehend und bilden sich meist noch am selben Tag zurück.
Ein weiterer großer Vorteil von Baqsimi gegenüber der Notfallspritze ist, dass es nicht im Kühlschrank aufbewahrt werden muss. Es kann also überallhin mitgenommen werden.
Auch wenn die Handhabung des nasalen Pulvers denkbar einfach erscheint, sollte die Stresssituation der schweren Unterzuckerung nicht unterschätzt werden. Die Gebrauchsinformation sollte also in jedem Fall mit Familie, Freunden und Betreuungspersonen vor einer Notfallsituation besprochen und geschult werden.
Die Wirksamkeit und Sicherheit von Baqsimi zur Behandlung der schweren Hypoglykämie wurde in zwei Studien mit Erwachsenen und in einer Studie mit Kindern mit Diabetes untersucht. An der Kinderstudie nahmen Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 17 Jahren teil. Mit Insulin über die Vene wurden die Blutzuckerwerte der Teilnehmer in einen niedrigen Bereich gebracht (< 80 mg/dl (4,4 mmol/l)).
Im Anschluss wurde entweder die Notfallspritze eingesetzt oder Baqsimi verabreicht. Dann wurde der Blutzuckeranstieg nach einer Dosis von Baqsimi mit dem nach der Glukagoninjektion verglichen. Als Behandlungserfolg wurde eine Erhöhung des Blutzuckers um mehr als 20 mg/dl (1,1 mmol/l) des Ausgangswertes nach 30 Minuten angesehen.
Dies wurde sowohl nach Behandlung mit der Glukagoninjektion als auch mit 3 mg Baqsimi in allen Fällen erreicht. Durchschnittlich lagen die Blutzuckerwerte bereits nach 10 bis 15 Minuten deutlich höher als über 20 mg/dl (1,1 mmol/l) des Ausgangswertes. Die Dosis von 3 mg Baqsimi hat sich für alle Altersgruppen als gleichermaßen effektiv und sicher erwiesen.
In einer anderen Studie hat man gesehen, dass auch ein Schnupfen im Rahmen eines gewöhnlichen Erkältungsinfektes die Wirkung und Sicherheit von Baqsimi nicht beeinträchtigt.
Seit Juli 2019 ist Baqsimi zur Behandlung von schweren Unterzuckerungen bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ab vier Jahren auf dem US-amerikanischen Markt verfügbar, und seit März 2020 ist es auch in Deutschland rezeptpflichtig erhältlich. Ob bei der Übernachtung bei Oma oder bei der Klassenreise: Die Schulung im Umgang mit nasalem Glukagon erscheint so einfach, dass man das Einzeldosisbehältnis im eingeschweißten Röhrchen eigentlich immer dabeihaben kann.
Auch andere Firmen arbeiten an der Herstellung neuartiger Notfallmedikamente. Das dänische Unternehmen Zealand Pharma hat ein flüssiges, vorgelöstes Glukagon entwickelt. Dieses müsste vor Anwendung nicht mehr angemischt werden, sondern würde gebrauchsfertig in einem Pen vorliegen. Klinische Studien haben die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Präparates bereits überprüft. Auch eine Studie mit Kindern wurde bereits durchgeführt. Eine Marktzulassung ist ebenfalls geplant.
Fazit: Ob nasale Gabe oder Fertigpen – die komplizierte Anmischung einer Glukagon-Notfallspritze gehört sicher bald der Vergangenheit an.
von Dr. Thekla von dem Berge |
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Diabetologie, Diabetes-Zentrum für Kinder und Jugendliche „Auf der Bult“ Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover, E-Mail: dvondemberge@hka.de |
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2020; 12 (1) Seite 8-10
5 Minuten
Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
Beliebte Themen
Ernährung
Aus der Community
Push-Benachrichtigungen