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Von jedem Ort der Welt in Echtzeit die Glukosespiegel ihrer Kinder verfolgen: Das wünschten sich zwei technisch versierte Väter in Amerika und haben dazu eine Diabetestechnologie im Do-it-yourself-Verfahren entwickelt: Nightscout.
Die renommierte Wirtschaftzeitung Wall-Street Journal machte den Tweet der Initiative #WeAreNotWaiting Ende September weltweit bekannt. Auf der Internetseite der Zeitung kann man ein Video sehen, wie Nightscout funktioniert. Sogenannte Bürger-Computer-Hacker entwickelten ein System, um die Glukosespiegel eines kontinuierlichen Glukosesensors weit entfernt vom eigentlichen Patienten über das Internet mittels Smartphone zu verfolgen.
Die Entwickler dieses “open-source”-Systems haben die Software des Medzingerätes gehackt und erreichten dadurch die Übertragung der Daten ins Internet. Mit diesem Programm lassen sich u. a. Dexcom-CGM-Daten über das Web auch auf Tablets oder Desktop-Computer anzeigen. So können Eltern über das Cyberspace praktisch von jedem Ort der Welt in Echtzeit die Glukosespiegel ihrer Kinder vefolgen.
Insgesamt über 1000 Familien nutzen das System bereits, obwohl es keinerlei regulatorische Zulassung hat und wohl erst kürzlich überhaupt bei der zuständigen amerikanischen Behörde (Food and Drug Administration, FDA) eingereicht wurde.
Nightscout wurde zunächst von John Costik aus Livona im Staat New York entwickelt, der beruflich eigentlich als Software-Entwickler für den Wegmans Supermarket zuständig ist. Das Leben der Familie Costik änderte sich, als im Jahre 2012 ihr vierjähriger Sohn Evan an Typ-1-Diabetes erkrankte. Vater Costik kaufte einen kontinuierlichen Glukosesensor für seinen Sohn, ärgerte sich aber darüber, dass er während der Arbeit nicht in der Lage war, die Werte zu verfolgen. So begann er nach Lösungen für eine Datenübertragung zu suchen.
Im Mai letzten Jahres hatte er eine Möglichkeit entwickelt, wie man die Daten mit einer Software, einem Kabel und einem Android-Smartphone ins Internet laden konnte. Sein Tweet mit dem Vorgehen erregte sofort Aufmerksamkeit anderer technikaffiner Eltern von Kindern mit Diabetes. Einer davon war Lane Desborough, ein Ingenieur für Sichherheitssysteme von Ölraffinerien, der bereits für seinen 15-jährigen Sohn ein häusliches Glukosespiegel-Überwachungssystem namens Nightscout entwickelt hatte. Dieses hatte allerdings noch keinen Kontakt zum Internet. Gemeinsam entwickelten Desborough und Costik das heutige System und machten es öffentlich.
Natürlich ging eine solche Entwicklung nicht ohne Probleme. Die Smartphones froren gelegentlich aus unerklärlichen Gründen ein oder die Online-Server brachen für Stunden zusammen. Auch sind die Smartphone-Akkus durch den Energiebedarf einer andauernden Datenübertragung rasch erschöpft. Dies zeigt natürlich die Grenzen und Gefahren einer solchen Do-it-yourself-Entwicklung: Sicherheitsgarantien und verlässliche Wartungsmöglichkeiten gibt es nicht.
Andererseits nehmen auch die Berichte über den segensreichen Einsatz zu. Eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern berichtet, wie während ihrer Arbeit ihr 15-jähriger Sohn mit Typ-1-Diabetes alleine zu Hause war und der Nightscout bei ihrer Nachtschicht einen Wert von 28 mg/dl (1,6 mmol/l) anzeigte. Als er daraufhin nicht ans Telefon ging, eilte sie nach Hause und fand ihn schlafend vor, bestätigte den niedrigen Wert mit einer Blutzuckermessung und gab ihm Apfelsaft.
Die Facebook-Gruppe von Nightscout hat inzwischen 6 800 Mitglieder. Der Tweet der Initiative #WeAreNotWaiting ermöglicht Spendensammlung, Erfahrungsweitergabe und Öffentlichkeitsarbeit. Die Entwickler veröffentlichen immer neue, verbesserte Versionen, bug fixes und neue Funktionen, wie z. B. die Möglichkeit, Textnachrichten oder Alarme zu senden. Dieser “release-and-repair”-Ansatz wurde im Silicon Valley entwickelt, wo die Entwicklungsgeschwindigkeit das Maß aller Dinge ist.
Wenn sich über die sozialen Netzwerke eine Schwäche des neuen Systems herausgestellt hat, kann man kurz darauf das entsprechende Update herunterladen. Im Gegensatz dazu wird das Denken in der Medizintechnik durch regulatorische und juristische Aspekte dominiert. So ist nicht zuletzt aus regulatorischen Gründen die Medizintechnik bislang nicht in der Lage, das von Apple oder Windows vertraute System zu verwenden, eine neue Betriebssoftware rasch nach Entwicklung auf den Markt zu bringen und die dann auftretenden Fehler mittels kontinuierlicher Neuversionen aus dem Internet immer weiter zu verbesseren.
Es kommt hinzu, dass die amerikanische Zulassungsbehörde im internationalen Vergleich als besonderes langsam bzw. vorsichtig gilt.
Gegenwärtig wird das Verfahren zur Zulassung von Medizingeräten europaweit neu geregelt. Schaut man auf die diskutierten Verfahrenswege mit Fristen, Einspruchsmöglichkeiten und Dokumentations- und Prüfvorgaben, scheint die Komplexizität der Abläufe zuzunehmen. Gleichzeitig laufen Bemühungen der Europäischen Diabetes-Gesellschaft EASD, die bislang in den Prozess zur Zulassung von Diabetesgeräten nicht einbezogen wird, hier auch ein Wörtchen mitzureden. In ihrer kürzlich vorgestellten Charta zur Einbeziehung von Patienten in den Prozess der Medzingeräteentwicklung erklärte die europäische Medizintechnik-Vereinigung Eucomed die Patientensicherheit als oberstes Ziel. Somit sieht es auch in Europa nach einem gründlichen und somit langwierigen Verfahren aus.
Insofern könnte auch in Deutschland der Weg der Medizintechnik-Entwicklung von Eltern für Eltern in der Zukunft stärker zunehmen.
Im Massachusetts Institute of Technology in Boston, USA, gibt es inzwischen sogenannte Hackathons. Hier treffen sich Ingenieure, Technikstudenten und “Laien”, um neue Lösungen für Medzinprodukte zu entwickeln und neue Lösungen für häufige Gesundheitsprobleme zu finden. Zunehmend werden Blutzuckermeßgeräte, aber auch Insulinpumpen, Hörgeräte, Defibrillatoren oder Brustmilchpumpen auseinandergenommen, um im “Do-it-Yourself”-Verfahren neue Optionen zu finden. Ihr Ziel: Schneller und besser zu sein, als dies auf dem herkömmlichen Weg entsprechend der regulatorischen Vorgaben möglich ist.
Welche Auswirkungen werden diese Initiativen auf den zukünftigen Regulationsprozess haben? Man kann nur hoffen, dass auch diese Hacker sich an die seit der Antike gültige Tradition halten, die seit Jahrhunderten als Richtschur ärztlichen Handelns gilt: Primum non nocere (lat.: zuerst einmal nicht schaden). Diesem antiken Wahlspruch zufolge soll der Arzt in seinem Bemühen, dem ihm anvertrauten Individuum zu helfen, vor allem darauf achten, ihm nicht zu schaden.
von Prof. Dr. Thomas Danne
Kinderdiabetologe, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin „Auf der Bult“, Hannover, Vorstandsvorsitzender diabetesDE
Kontakt:
Kirchheim-Verlag, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz, Tel.: (06131) 9 60 70 0,
Fax: (06131) 9 60 70 90, E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2014; 7 (4) Seite 6-7
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