Raus aus dem Schatten der Erwachsenendiabetologie!

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© Kirchheim/Frank Schuppelius
Raus aus dem Schatten der Erwachsenendiabetologie!

Die Kinderdiabetologie steht gesundheitspolitisch gesehen im Schatten der Erwachsenendiabetologie. Dabei handelt es sich um die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter. Grund genug, aus dem Schatten zu treten.

In Deutschland stehen den mehr als 6 Mio. Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes und den etwa 300 000 mit Typ-1-Diabetes etwa 30 000 Kinder und Jugendliche gegenüber: Etwa 1 von 600 Kindern ist von der häufigsten Stoffwechselerkrankung im Kindesalter betroffen. Somit muss sich fast jede größere Schule mit dem Thema Typ-1-Diabetes beschäftigen.

Dabei hat sich in den letzten 20 Jahren ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel vollzogen: Statt starrer Therapieregime sind nun die flexible intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) und die Insulinpumpentherapie in der Kinderdiabetologie die Behandlungsmethoden der Wahl.

Intensiv von Anfang an

Es gibt kein Schema für die Behandlung – also muss gemeinsam mit der Familie eine für die jeweilige Lebenssituation passende, individualisierte Behandlungsform gefunden werden. Selbständigkeit und Eigenverantwortung der jungen Patienten sollten altersentsprechend gefördert werden.

Selbst wenn der anfängliche Insulinbedarf des Kindes so niedrig ist, dass es mit einer oder zwei Injektionen täglich behandelt werden kann, ist es sinnvoll, Familien von Anfang an das Prinzip einer intensivierten Insulintherapie zu vermitteln – mit differenzierter Basal- und Mahlzeiteninsulingabe; es erlaubt mehr Flexibilität, Eltern können verantwortlich handeln und es entfällt die problematische Umstellung der Therapie nach der vorübergehenden Erholung der insulinproduzierenden Zellen nach Diabetesbeginn (Remissionsphase).

Von Mischinsulin über die ICT zur Insulinpumpe

Anfang der 1990er Jahre wurde die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit einfacheren Behandlungsschemata behandelt (zwei Injektionen Mischinsulin). Rasch setzte sich aber die intensivierte Therapie mit 4, 5 oder 6 Injektionen auch in der Pädiatrie durch. Prof. Reinhard Holl und Mitarbeiter vom dpv-Register in Ulm berichten im Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2014 (herausgegeben von der Deutschen Diabetes-Hilfe), dass heute immer mehr Kinder und Jugendliche mit einer Insulinpumpe behandelt werden – im Jahr 2012 waren es 45 Prozent.

Unter 5 Jahren fast 80 Prozent mit Insulinpumpe

Zunächst setzten vor allem Jugendliche eine Insulinpumpe ein – in den letzten drei Jahren hat sich die Pumpe vorrangig bei der Behandlung von Vorschulkindern durchgesetzt: 77 Prozent aller Diabetespatienten, die jünger als 5 Jahre sind, verwendeten eine Insulinpumpe. Bei den älteren Jugendlichen nach der Pubertät waren es lediglich 36 Prozent.

Insulinanaloga verbreitet

Die Einführung schnell- und langwirkender Insulinanaloga hat in den letzten Jahren die Insulintherapie verändert, auch wenn dies in Deutschland kontrovers diskutiert wurde. In 2012 verwendeten 71 Prozent der pädiatrischen Patienten mindestens einmal täglich ein schnellwirkendes Insulinanalogon. Junge Kinder ohne Pumpe setzen Insulinanaloga bisher seltener ein als Jugendliche – wobei hier zum einen Zulassungsregelungen eine Rolle spielen, andererseits unterschiedliche Anforderungen an die Flexibilität im Tagesablauf.

Schulzeit mit Diabetes als Herausforderung

Kinder mit Diabetes sollten wie alle anderen Kinder Kindergarten und Schule besuchen. Zur Information der Erzieher und Lehrer hat die Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGPD) Informationsbroschüren aufgelegt , die ein gegenseitiges Verständnis und die Abstimmung mit den Betreuern unterstützen sollen. Dem guten Willen der meisten Erzieher und Lehrer steht leider bis heute gegenüber eine unzureichende gesetzliche Regelung der notwendigen Unterstützung der chronisch kranken Kinder in öffentlichen Institutionen.

Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Seit neuestem gibt es eine Stellungnahme des Spitzenverbands der Deutschen Unfallversicherung, der den unfallversicherungsrechtlichen Schutz der Lehrer bei einer Hypoglykämie in Folge einer Fehldosierung oder einer möglichen Verletzung durch einen Insulinpen explizit zusichert.

Kinderschulungsprogramm gerade neu aufgelegt

Diese Änderungen in der Diabetestherapie kommen nun auch in der aktuellen Neuauflage des “Jan-Programms” zum Tragen. Im Alter von 7 bis 12 Jahren erreichen Kinder die Stufe des konkret operatorischen Denkens als Voraussetzung für eine strukturierte Schulung. Schulkinder müssen in ihrem Alter selbständig Entscheidungen treffen, auch bei der Behandlung ihres Diabetes.

Kinder nicht überfordern

Schulkinder sind sehr geschickt und können praktische Aufgaben schnell selbst durchführen – wie die Programmierung der Insulinpumpe, die Insulininjektion, das Setzen von Pumpenkathetern oder selbst den Blutzucker zu messen. Abstrakte Inhalte oder das Einbeziehen langer Zeitspannen gehen aber über die Fähigkeiten dieser Altersgruppe hinaus. Viele machen den Fehler, Kinder in diesem Alter mit Folgeerkrankungen zu konfrontieren – eine klare Überforderung!

Her mit neuer Technologie

Die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) ist seit vielen Jahren verfügbar und wird von vielen Kinderdiabetologen als Hilfsmittel in der Diagnostik oder Therapiesteuerung eingesetzt. Bei Kleinkindern, Vorschulkindern oder jungen Schulkindern ist ein entscheidender Vorteil der kontinuierlichen Glukosemessung das Erkennen von Hypoglykämien. Bei älteren Schulkindern und Jugendlichen könnte die CGM dazu dienen, starke Blutzuckerschwankungen sichtbar zu machen, um entsprechend darauf reagieren zu können – und eine unbefriedigende Stoffwechsellage zu verbessern.

Hoffen auf den Ausschuss

Bleibt zu hoffen, dass die Erstattungsfähigkeit für CGM-Systeme vom Gemeinsamen Bundesausschuss zumindest für bestimmte Altersgruppen oder Situationen anerkannt wird. Kurzfristig wäre damit für viele Familien eine Erleichterung geschaffen. Mittel- und langfristig ist die kontinuierliche Glukosemessung ein wichtiger Baustein für die Fortentwicklung eines geschlossenen Systems (closed loop), das in seiner Funktion einer künstlichen Bauchspeicheldrüse entspricht und Blutzuckermessung sowie Insulinabgabe eigenständig steuert.

Schritte zum “Closed Loop”

Bereits seit 2009 ist eine Kombination von Insulinpumpe und Sensor mit automatischer Abschaltung bei Unterzuckerung in Deutschland erhältlich; hierzulande hatten zum Beispiel Studien bei Kindern und Jugendlichen gezeigt, dass mit dem System Unterzuckerungszeiten deutlich reduziert werden. Die nächste Generation schaltet die Insulininfusion bei fehlender Reaktion auf Alarme nicht erst ab bei Erreichen eines bestimmten Schwellenwerts, sondern vorausschauend bei drohender Unterzuckerung (aber Werten noch im Normbereich).

Auch wird keine fixe 2-stündige Abschaltung mehr verwendet, sondern das System setzt flexibel nach 30 Minuten bis 2 Stunden die Insulininfusion fort, wenn die Glukosewerte in einem stabilen Bereich oberhalb des Schwellenwerts sind.

Die ersten Erfolge

Erste erfolgreiche Versuche mit dem “PLGM-System” bei Jugendlichen wurden präsentiert bei der Tagung der internationalen Kinderdiabetologen (ISPAD) 2012. Bezüglich der nächtlichen Glukosekontrolle hat die Entwicklung vollautomatisierter “Closed-Loop-Systeme” rasante Fortschritte gemacht. Hierbei kommt es nicht länger nur zu einer Unterbrechung der Insulinzufuhr bei drohender Hypoglykämie; das System passt konstant die Basalrate und zusätzliche automatische Bolusgaben an die aktuellen, kontinuierlich gemessenen Sensorwerte und die vorausgegangenen individuellen Sensorglukose- und Insulininfusionsdaten an – mit Vermeidung von Hypo- und Hyperglykämien.

Die ersten 15 Patienten haben in einer Studie zwischen Oktober 2012 und Januar 2013 das System unter häuslichen Bedingungen auch in Deutschland erprobt.

Diabetes-Journal (DJ): Was würden Sie sofort ändern im Interesse der Kinder und Jugendlichen mit Diabetes in Deutschland?

Prof. Danne: In Deutschland lassen sich Diabetesfortschritte und Kostendämpfung nur durch einen Nationalen Diabetes-Plan langfristig in Einklang bringen. Dafür setze ich mich als Vorstandsvorsitzender der Deutschen Diabetes Hilfe ein.

DJ: Was macht Sie zuversichtlich?

Prof. Danne: Ich mache jetzt seit über 25 Jahren Kinderdiabetologie und sehe den kontinuierlichen Fortschritt in der Behandlung, Schulung und psychosozialen Betreuung. In weiteren 25 Jahren werden die heutigen Therapieverfahren lange Vergangenheit sein.


Autor:
Prof. Dr. med. Thomas Danne, Hannover

Kontakt:
Kinder- und Jugendkrankenhaus “Auf der Bult”, Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover, E-Mail: danne@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2014; 63 (2) Seite 18-23

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