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Lara (24) [Name geändert] ist sehr stolz, dass sie 17 kg abgenommen hat. Ihrem Diabetes Typ 1 hat der Gewichtsverlust ebenfalls sehr gutgetan. 7,2% war der letzte HbA1c-Wert. Sie hat jedoch keine Diät gemacht und kann auch von keinem Wundermittel berichten. Die Studentin leidet an der Binge-Eating-Störung und hat vor einem Jahr eine Therapie begonnen, um sich den Problemen zu stellen. Bei dieser Essstörung hat man unkontrollierbare Essanfälle, die sie nun langsam in den Griff bekommt. Solche Erkrankungen sind in Kombination mit Diabetes jedoch äußerst gefährlich und können die Betroffenen schnell in lebensbedrohliche Situationen bringen. Magersucht, Bulimie und auch Diabulimie haben eine mediale Präsenz. Die Binge-Eating-Störung wird meist jedoch als „einfach zu viel essen“ oder mit mangelnder Disziplin assoziiert. Lara fasste ihren ganzen Mut zusammen und redete mit mir über den Diabetes und die Essstörung.
Ich war 12 Jahre alt, als es plötzlich hieß, dass ich Diabetes habe. Ich kannte das bereits von meinen Großeltern. Was ich dann aber nicht verstanden habe: Ich sollte plötzlich Insulin spritzen. Mein Opa musste das nicht. Es dauerte etwas, bis bei mir ankam, dass das doch etwas anders ist bei mir. Die ersten 14 Tage war ich in einer Kinderklinik, die auch auf Diabetes spezialisiert war. Im Nachhinein muss ich aber sagen, dass die Schulung echt schlecht war. Ich bekam die Pens in die Hand gedrückt, einen Schulungsordner und man zeigte uns Bilder von Lebensmitteln und die Kohlenhydratangaben dazu. Zwei-, dreimal gab es auch einen Besuch in der Cafeteria, bei dem wir dann unser Essen selber schätzen sollten. Gereicht hat mir das aber nicht, um damit klarzukommen oder gar geübt zu sein.
Das klingt jetzt seltsam, aber ich habe mich da schon wieder normal gefühlt. Genau das war wohl das Problem, weil ich den Diabetes begonnen habe zu ignorieren. In unserer Familie war er aber ein großes Thema. Meine Mutter erzählte überall, wie schlimm sie dran sei, weil sie nun ein krankes Kind hatte. Je mehr sie sich mit dem Diabetes profilierte, umso weniger wollte ich davon wissen. Meine Mutter ist psychisch krank und es war nie sonderlich einfach mit ihr. Zwei Jahre später ließ sie sich dann zum dritten Mal scheiden. Da wurde es dann erst richtig schwierig für mich.
Ja. Wobei ich mittlerweile weiß, dass mir schon vorher das Muster antrainiert wurde, dass ich Essen bekam, um ruhiggestellt zu werden. Also als Kleinkind. Die Zeit war sehr schlimm für mich. Die Scheidungen meiner Mutter bedeuteten auch immer, dass sich mein Leben radikal von einem Tag auf den anderen änderte. Sagte ich, dass es mir nicht gut ginge mit der Situation, bekam ich von ihr als Antwort, dass ich egoistisch sei und nie an sie denken würde. Mir blieb praktisch nichts anderes, als heimlich mit meinem Schmerz umzugehen. Essen war mein Tröster.
Binge-Eating steht für eine Erkrankung, bei der man unfassbare Fressanfälle hat. Ich sage mich Absicht „fressen“. Binge ist auch das englische Wort für „schlingen“. Es ist nicht damit getan, aus Frust mal eine Tafel Schokolade auf einmal zu essen. Man isst eher 2 bis 3 Tafeln, Pizza, Pommes und, und, und… Alles in kürzester Zeit. Bei diesen Fressanfällen, die man immer heimlich macht, nimmt man schnell mal 6.000 Kalorien oder mehr zu sich. Im Grunde versucht man, mit Essen die eigene innere Leere zu füllen. Die ist aber verdammt groß und da passt eine Menge Essen hinein.
Ich habe den Diabetes zwar meist ignoriert, aber dennoch ein Mindestmaß an Insulin gespritzt. Auch heimlich. Niemand sollte das sehen. Bei solchen Fressanfällen weiß man am Ende auch gar nicht, was man alles gegessen hat, wie viel es genau war und was das nun an BEs war. Ich habe mir dann meist einfach 20 Einheiten gespritzt, um dagegen anzugehen. Der Blutzucker war dann über Stunden nicht unter Kontrolle zu kriegen. Meist wusste ich gar nicht, wovon mir schlecht war: von dem ganzen Essen oder dem hohen Blutzucker. Manchmal musste ich mich auch übergeben. Das habe ich nicht selbst ausgelöst, das ist ein entscheidender Unterschied zur Bulimie. Sondern mir war so übel vom Essen und von den hohen Werten, dass mein Köper einfach anfing, gegen die Massen anzukämpfen.
Lange Zeit war das Essen meine einzige Möglichkeit, um überhaupt mit irgendwelchen schwierigen Situationen umzugehen. Es wurde zu einem Ritual. Passierte etwas in der Schule oder zu Hause, ging ich gezielt einkaufen. Auf dem Weg dahin mussten dann schon die ersten Sachen vertilgt werden. Ich kaufte dann ein. Aber so, dass das nach Familieneinkauf aussah. Ich erzählte auch ungefragt der Kassiererin, dass ich heute die ganze Familie bekochen würde. Denn ich glaubte, dass mich alle verurteilen würden. Ich dachte, allen sei klar, dass ich das alles alleine essen wollte. Ich schämte mich so sehr, konnte aber auch nicht anders. Zu Hause angekommen, habe ich alles versteckt und versucht, so gut es geht den Alltag zu Hause hinter mich zu bringen. Bis ich dann endlich verschwinden und essen konnte. Ich stopfte alles in mich hinein. Da war es auch egal, dass ich auch Tiefkühlprodukte gekauft habe. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mal ein fertiges Chili halb aufgetaut aus der Plastikfolie gegessen habe. Das war aber zu einem späteren Zeitpunkt, als es sehr schlimm war. Anfangs wählt man eher Lebensmittel, die man mag. Man möchte sich ja etwas gönnen und sich etwas Gutes tun. Bei mir war das dann vor allem Süßes.
Das ist nur ein Teil. Süßes war aber eben immer mein Ding. Besonders Schokolade. Klar wurde sehr darauf geachtet, was ich esse. Meine Mutter musste da ja auch immer wieder eine Show draus machen. Die arme Frau, die den Diabetikerkuchen kaufen musste. Generell wurde aber schon immer sehr auf mein Essverhalten geachtet. Auch vor dem Diabetes. Für meine Mutter war es wohl das Schlimmste, ein dickes Kind zu haben. Als ich noch normalgewichtig war, bot sie mir schon Abnehmkuren an. Später sogar Schönheitsoperationen. Für meine Mutter ist es der Alptraum, dass mein Höchstgewicht mal bei 126 kg lag.
Ich habe mir einfach das Fressen abgewöhnt! Nein, hinter mir liegt ein sehr langer Weg. Ich bin vor vier Jahren für das Studium in eine andere Stadt gezogen. Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Ich konnte Abstand gewinnen, für mich sein und beginnen zu reflektieren. Ich merkte, dass etwas ganz gewaltig nicht stimmte. Zwar war mir das schon vorher klar, aber wenn man beginnt, sich damit auseinanderzusetzen, dann ist es schon was anderes. Im ersten Semester lernte ich auch meine beste Freundin kennen. Die hat gehörig einiges geradegerückt bei mir. Sie hat mich auch ermutigt, mal mit einem Fachmann zu sprechen, und so habe ich mir einen Therapieplatz gesucht. Das war vor einem Jahr.
Seltsamerweise ging es gar nicht so sehr um die Essstörung. Nach dem Erstgespräch mit meinem Arzt legten wir eine Prioritätenliste fest, um was wir uns zuerst kümmern. An erster Stelle stand der Diabetes. Ich suchte mir also auch einen neuen Diabetologen. Ich musste erst einmal erkennen, dass ich auch eine Akzeptanzstörung hatte. Das war die größte Hürde. Da geht man zum Arzt, weil man ein Problem hat, und der sagt: „Joar, aber da ist noch ein anderes, viel größeres und gefährlicheres.“ Die Auseinandersetzung mit dem Diabetes hat mir aber sehr geholfen, auch bei der Essstörung Fortschritte zu machen. Bei Diabetes dreht sich automatisch auch alles ums Essen, genauso wie beim Binge-Eating. Man kann nicht davon Abstand nehmen. Essen ist generell lebenswichtig und Teil unseres sozialen Lebens. Ein Alkoholiker kann den Alkohol weglassen, beim Essen geht das aber nicht. Der Diabetes gab mir aber plötzlich eine Struktur und half mir ungemein dabei zu verstehen, was ich da bei den Fressanfällen machte.
Überwinden kann man so etwas nie. Man bleibt immer eine Süchtige. Aber ja, es klingt verrückt, aber der Diabetes hat mich dabei unterstützt, eine andere Erkrankung in den Griff zu bekommen. Erst als ich mich richtig um den Diabetes kümmerte, bekam ich ein Gefühl für Essen und auch für Mengen. Ich habe seither 17 kg ohne Diät abgenommen. Einfach, weil sich mein Essverhalten langsam normalisiert. Ich habe immer noch Fressanfälle, aber ich lerne in der Therapie, andere Dinge zu machen, um emotionale Probleme zu überwinden. Eine Strategie ist Shopping mit meiner besten Freundin. Mein Arzt behauptet weiterhin, dass es keine Handtaschen auf Rezept gibt. Aber eigentlich geht es auch eher darum, Zeit mit Menschen zu verbringen, die einem guttun und die einem auch zuhören. Ich musste auch erst lernen, über meine Probleme zu reden.
Die Pumpe. Das ist mein nächster Schritt. Ich habe meinen HbA1c-Wert im letzten Jahr von 11,2% auf 7,6% senken können. Aber jetzt hat mich der Ehrgeiz gepackt und ich möchte noch besser werden. Zudem fühle ich mich so gut und stark wie noch nie in meinem Leben. Ich würde gerne eine Kampfsportart anfangen. Mit einer Pumpe wäre auch das leichter und sie würde mir das Spritzen in der Öffentlichkeit ersparen. Damit habe ich immer noch Probleme. Und ich hoffe natürlich, den Kurs zu halten. Ich muss noch viel aus meiner Kindheit aufarbeiten, um das Binge-Eating besser in den Griff zu bekommen und stabil zu werden. Über mein Gewicht mache ich mir im Moment keine Gedanken mehr. Ich habe nicht mal mehr eine Waage. So sind die Erfolge größer, wenn ich mich dann mal wiege und es konstant runtergeht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich optimistisch.
Das Thema “Binge-Eating” hat Caro auch schon einmal thematisiert:
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