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Das Echt essen-Gasthaus im Juli: Mit seinem legendären Gemüsemenü zeigt Zwei-Sterne-Koch Nils Henkel in Bergisch Gladbach, dass kulinarische Hochgenüsse auch ohne Fisch und Fleisch gelingen.
Gemüse ist gesund: Es strotzt vor lebenswichtigen Vitaminen und Mineralien; es enthält die gerade für Diabetiker so wichtigen Ballaststoffe; es birgt die geheimnisvollen Sekundären Pflanzenstoffe, deren primäre Wirkung eine Stimulierung des Immunsystems ist, bis hin zur Krebs-Prävention; auch sind Gemüse basisch, dämpfen so die Übersäuerung, die zu Entzündungen führen kann – und die sind wiederum eine wichtige Diabetes-Ursache.
Das alles ist bekannt. Trotzdem spielt Gemüse in den meisten Gasthäusern immer noch weitgehend eine „Beilagenrolle“. Doch es gibt rühmenswerte Ausnahmen, vor allem in der Spitzengastronomie. So verfasste der berühmte Heinz Winkler schon vor zehn Jahren ein Wildkräuterkochbuch.
Bereits 1998 brachte der einzigartige Drei-Sterne-Koch Dieter Müller zusammen mit dem TV-Moderator Jean Pütz ein Buch über traditionelle Gemüse und Kräuter heraus, wo etwa mit den Gemüsen Guter Heinrich, Erdbeerspinat und den Kräutern Löffelkraut und Pimpinelle gekocht wurde.
Nils Henkel ist der Nachfolger von Dieter Müller im Restaurant Lerbach in Bergisch-Gladbach – und er ist einer der besten Gemüseköche in Europa. Bereits im Februar des vergangenen Jahres habe ich sein Gemüsemenü vorgestellt.
Gerne bin ich dieses Jahr wieder ins Bergische Land gefahren, um erfreut zu sehen, dass der Zwei-Sterne-Koch noch besser mit Gemüse kocht. Das ist erfreulich, denn die vitalstoffschonende Gemüseküche ist für mich der Nukleus der künftigen Diabetes-Küche.
Wunderschön liegt Nils Henkels Restaurant im Schlosshotel Lerbach in den sanften Hügeln des Bergischen Lands, östlich von Köln. Gerade im Sommer, wenn die Türen zum großzügigen Schlosspark geöffnet sind, stellt sich ein fast schon mediterranes Lebensgefühl ein.
Gesteigert wird das Vergnügen noch durch den herzlichen Service unter der Leitung der versierten Gastronomentochter Desirée Steinheuer und dem sympathischen Sommelier Peter H. Müller. Wer seine Schwellenangst vor der Spitzengastronomie vertreiben will, ist in Lerbach bestens aufgehoben.
Ein siebengängiges Menü habe ich diesmal bestellt, das von dem FAZ-Kritiker Jürgen Dollase zusammen mit Nils Henkel entwickelt wurde. Nicht immer bin ich von diesen „Gourmet Visionen“ begeistert, weil sie manchmal eine zu kompakte Anhäufung von kulinarischen Highlights der jeweiligen Küche sind.
Hier ist aber eine kluge Komposition entstanden, welche die ganze Bandbreite der Henkel´schen Gemüseküche zeigt – und damit zeigt, wo die Gemüseküche insgesamt heute steht.
Ein echter Service: Drei der sieben Gerichte hat für mich Nils Henkel in der Küche noch einmal Schritt für Schritt nachgekocht. So wird sichtbar, welcher Aufwand und welche Raffinesse hinter den Gerichten steht.
Variationen vom Meerrettich gibt es zum Auftakt, wovon mir besonders eine traumhafte Kartoffel-Meerrettich-Schnitte und ein süchtig intensiver Meerrettich-Schaum in Erinnerung geblieben sind. Die „unvergorene Begleitung“ habe ich zum Menü gewählt, gerade mittags eine höchst löbliche Idee.
Zum Meerrettich schenkt Peter Müller den Prisecco Cuvée Nr. 11 ein – eine alkoholfreie Kombination aus unreif geernteten Boskoop-Äpfeln, der traditionellen Nägelesbirne, Eichenlaub sowie Jasmin- und Hibiskusblüten:
Ein wunderbar herbes Meisterwerk der Manufaktur Jörg Geiger in Schlat bei Göppingen ist das, wo aus alten Apfel- und Birnensorten herrliche Schaumweine und nichtalkoholische Delikatessen entstehen – und wodurch auch noch die einzigartigen Streuobstbäume der schwäbischen Alb erhalten werden. Trinkend die Natur retten – ein kluger Schachzug!
Vier wesentliche Komponenten verarbeitet Nils Henkel: Bohnen, Schafskäse, Oliven und Gurke. Da gibt es die Bohnen als Gelee, als marinierte Schlangenbohnen, als seltene Palbohnen, eine Art Saubohnen – und besonders spannend und wohl schmeckend: Als gebundenen Bohnensaft. Bohnen werden in der traditionellen Volksmedizin auch bei Diabetes eingesetzt.
Es würde sich deshalb lohnen, ein solches Gericht einmal in einer Diabetes-Klinik einzusetzen, um zu sehen, ob tatsächlich ein Blutzucker senkender Effekt eintritt – getreu dem Motto des großen Hippokrates: „Eure Nahrung sei eure Medizin“.
Aber natürlich schmeckt das alles gar nicht medizinisch, sondern höchst köstlich. Vor allem die vielen Variationen vom Schafskäse begeistern, lassen sich mit der marinierten Gurke köstlich kombinieren. Immer wieder gibt es irisierende Momente, etwa das leicht süßliche Zitronengel (der gelbe Klecks vorne links) zur süßlich schmeckenden Gurkenblüte – während die blaue Bohnenblüte tatsächlich nach Bohne schmeckt.
Fast zehn Minuten lang habe ich dieses Gericht ergründet, eine genussvolle Art der Meditation. Passend dazu ein trockenes Tonic Water aus London mit geeister Gurke, die langsam schmilzt.
Nächste Seite: grüner Spargel: auf einen Satz wegschlabbern +++ wenn die Fichte die Körner küsst: Mariniertes Getreide +++ Nils Henkel kann auch Italiener! +++ wunderbare Blumenkohl-Variation
Analytisch tiefgründig lassen sich die Henkel´schen Kreationen verspeisen, wie ich es mit dem Bauernsalat gemacht habe. Es geht aber auch ganz anders, nämlich auf einen Satz wegschlabbern. So ging es mir mit den in Butter sautierten grünen Spargeln mit schwarzem Sojaschaum, Misocréme und Umeboshi-Salzpflaumen – und vielen heimischen Kräutern wie Vogelmiere und Schafgarbe.
Das passt alles so großartig zusammen, dass ich denke, so will ich grünen Spargel immer essen – bis ich nächstes Jahr von Nils Henkel eine neue Variante probieren darf.
Hier wächst zusammen, was ursprünglich sicher nicht zusammengehört: Nämlich Getreide mit Fichtensprossen. Aber nicht irgendein Getreide, sondern alte, gesund-starke Sorten wie Einkorn, Emmer, Ebliweizen und Grünkern.
Das Getreide wird über Nacht eingeweicht, was die biologische Verfügbarkeit der Mineralien erhöht – und anschließend wird jede Sorte einzeln zubereitet. Aus den Sprossen der Fichten in der Umgebung von Lerbach zaubert Henkel einen Sirup mit Honig, eine Vinaigrette von diesem Sirup, Fichtennadelessig – und die einzelnen Nadeln werden auch noch Teile dieser außergewöhnlichen Kreation. Als wüchse ein Getreidefeld im Fichtennadelwald, so kam es mir vor.
Schmecken Getreide und Fichte schon großartig, bringt der eingelegte weiße Pfirsich noch einmal eine völlig neue Dimension ins Spiel. Ja, Spiel trifft es ganz gut, es ist der spielerisch-souveräne Umgang mit den Materialien, der dieses Menü so besonders macht.
Gut auch die kugligen Getreidekrapfen und der erdende gebundene Kefir, der das Ganze zusammenhält. Und was sind die weißen Blöcke? Das ist Fichtennadel-Kefir-Baiser, das kaum Eigengeschmack hat, aber ein knackiges Mundgefühl erzeugt.
Das ist ein wunderbares, schlichtes Gericht, welches das Menü auflockert: Rohe und gekochte Artischocken, Tomaten, mit Parmesan-Mozarella-Creme gefüllte Pappardelle.
Fein dazu der warme Sud von den Artischockenblättern und ein Gedicht die Parmesan-Hippe. Schade, dass die meisten italienischen Gasthäuser nicht mehr so schlicht-genial aufkochen.
Richtig begeistert hat mich dieser Gang: Gehobelter und fermentierter Blumenkohl, milchsauer vergoren mit Miso und Ingwer. Dieses Vergären unter Luftabschluss wird auch angewandt um das so gesunde Sauerkraut zu gewinnen. Dazu gebratene Blumenkohlscheiben, das Püree vom Kohl, insgesamt eine hinreißende Variation dieses Gemüse.
Kulinarisch aufgeladen wird das Gericht durch verschiedene Versionen vom Rapskern, etwa als Öl. Eine fein säuerliche Abrundung bietet der Sauerklee, etwa als Emulsion. Nicht zu vergessen die Blüten des Klees, vom Raps.
Kongenial begleitet wird das ernährungsphysiologisch wertvolle Gericht von einem weißen Tee aus Taiwan. „Ich ess keinen Kohl“, sagen viele Kinder. Würden sie diese wunderbare Blumenkohl-Variation genießen dürfen, wären sie wohl bald anderer Meinung. In Frankreich gehen Spitzenköche bewusst in Schulen. Es wäre schön, wenn das auch bei uns Sitte würde. Das könnte mehr bewirken, als all die gutmenschigen Appelle „Esst mehr Gemüse“.
Nächste Seite: übernimmt mehrere Rollen: malziger Sauerteig +++ Karotten-Kracher: großartiges Dessert aus Gemüse +++ Fazit: So könnte eine Küche von morgen aussehen
Beim Hauptgang dreht sich alles um den malzigen Sauerteig: Wie bei praktisch jedem Gemüse-Gericht bildet eine Creme die zusammenbindende Grundlage, hier vom Sauerteigbrot. Aus dem Sauerteig werden gebacken: Biskuits, einmal saftig, einmal knusprig; Brotchips und Hippen.
Herrlich dazu die im Salzteig gebackenen Gelbe Bete, die Variationen vom Liebstöckel, etwa als Vinaigrette mit Eiweißperlen. Nicht zu vergessen die Pfifferlinge – und die nach klassischer Art gefertigten Wachtelsoleier mit Malzessig. Auch das wieder ein Gericht, in das es sich lohnt, tief einzutauchen, immer wieder neue Aromakonstellationen zu entdecken.
Von der Idee her passend, aber für mich ein wenig zu intensiv ist das dazu ausgeschenkte Malzbier aus der Münsteraner Kultbrauerei Pinkus. Vielleicht gibt es irgendwann eine Brauerei, die ein spezielles Bier für diese Gemüseküche braut.
Es geht doch, nämlich ein großartiges Dessert aus Gemüse zu fertigen, das keine Süßbombe ist. Frédéric Guillon, langjähriger Patissier von Nils Henkel, ist wesentlich verantwortlich für diese Kreation.
Es ist unfassbar, welcher Aufwand hinter so einem Gericht steckt, rund 20 Komponenten habe ich auf dem „Tellerdatenblatt“ gefunden, mit dem der Service für jedes Gericht geschult wird. Darunter so spannende Dinge wie eine konfierte Babymöhre, süß-sauer eingelegte weiße Möhrenstreifen – und vor allen Dingen eine sensationelle Giersch-Eisschnitte aus Karottenbiskuit, Stachelbeergelee und Gierschsorbet.
Begeistert war ich von Getränkebegleitung, selbst hergestellte „Sauren Karotte“ aus Karottensaft, Stachelbeere und Ingwer. In Ökoläden wäre das wahrscheinlich der Renner.
Auch bei diesem Gericht ging es mir wie bei den Spargeln: Mit größtem Behagen habe ich es verschlungen – und das Datenblatt erst hinterher gelesen. Weshalb ich weiß, dass das kleine knusprige Blättchen hinten aus Giersch und Ziegenmilch gebacken wurde. Das ist das Schöne: So ein differenziertes Gericht ist gleichermaßen offen für den analytischen wie den sinnliche Genuss.
„Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“, sagen die Metzger. Das ist sicher richtig. Nur: Gemüse ist auch Lebenskraft – und auf Dauer die gesündere. Wie vitalisierend gerade die Gemüseküche von Nils Henkel ist, habe ich selbst erfahren. Denn kaum war ich zuhause, spürte ich einen unbändigen Bewegungsdrang. Bei knapp 30 Grad joggte ich eine knappe Stunde in der prallen Sonne am Rhein – und fühlte mich hinterher wie neu geboren.
Vegetarisch ist dieses Menü – und es lässt sich ganz leicht auch vegan zubereiten, indem etwa das Wachtelei, der Kefir, der Honig weggelassen werden. Vegan ist ja derzeit stark im Trend, nur kulinarisch konnte mich das meiste bislang nicht überzeugen. Nils Henkel weist Wege, wie vegan auch Genuss werden kann.
Mit seinem starken Fokus auf Gemüse und Kräuter zeigt der präzise arbeitende, sympathisch-bescheidene Nils Henkel wie eine Küche von morgen aussehen kann, die wie selbstverständlich Gesundheit und Genuss amalgiert.
165 Euro kostet das Menü einschließlich der begleitenden, unvergorenen Getränke. „So viel Geld für Gemüse“, sagen sicher viele. Absolut gesehen haben sie vielleicht recht, wer aber den Aufwand betrachtet, kommt zu einem anderen Schluss: Das Ganze ist fast ein Geschenk an den Gast.
Entdecken Sie deshalb wie drei der Gerichte entstehen, die Nils Henkel für mich noch einmal in der Küche nachgekocht hat – und Sie werden anders urteilen: zur Fotoreportage.
von Hans Lauber
E-Mail: aktiv@lauber-methode.de
, Internet: www.lauber-methode.de
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