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Wie kein Zweiter kennt Steffen Fleischhauer die wilden Pflanzen – und er weiß um ihr kulinarisches Potential.
Faszinierend ist eine Wildkräuterführung mit Steffen Fleischhauer – und das selbst gegen Ende eines extrem heißen und trockenen Sommers. Wir starten am Bahnhof von Freising, der liebenswerten Bischofsstadt nördlich von München und laufen keine hundert Meter zu den Isarauen – und schon wird der renommierte Autor mehrerer Standardwerke über Wildpflanzen fündig. Zu fast jeder Pflanze kann er eine Geschichte erzählen, und wenn etwas verblüht ist, weiß er mit den Samen etwas anzufangen.
Weiß alles über Wildkräuter: Steffen Fleischhauer.
Keine zwei Stunden sind wir unterwegs, haben einen Radius von nicht einmal 50 Metern abgeschritten – und Steffen rund 20 Pflanzen erläutert. Mir schwirrt noch jetzt der Kopf, schließlich hatte es weit über 30 Grad. Aber ich bin erstaunt und beglückt, schließlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass noch so viel Wildes wächst und zu verkosten ist. Zwar habe ich alles fotografiert, aber ich will in dieser kleinen Geschichte das vorstellen, was mich besonders beeindruckt hat. Natürlich konnte ich mir nicht alle Erläuterungen merken. Aber die lassen sich bequem nachlesen in dem Meisterwerk „Enzyklopädie Essbare Wildpflanzen“, das ich am Schluss vorstelle.
Hellt die Stimmung auf: Storchschnabel.
Die enthaltenen Gerb- und Bitterstoffe wurden volksmedizinisch gegen leichte Magenentzündungen und zur Stimmungsaufhellung eingesetzt. In der Küche veredeln Blüten und Knospen sowohl Salate wie Suppen.
Erinnert an Kinderkaugummi: Mädesüß.
Eine magische Pflanze, die den Kelten heilig war. Auch für die heutige Medizin ist das Rosengewächs interessant, enthalt es doch Salicylsäureverbindungen, die ähnliche Wirkungen wie Aspirin haben. So erklären sich die fiebersenkenden Wirkungen und die Anwendung bei Erkältungen.
Der einzigartige Geschmack erinnert Steffen Fleischauer an den Bazooka-Kaugummi seiner Kindertage. Auf jeden Fall verleihen Blütenstände und Knospen etwa Rahmsaucen einen leicht nussigen Duft.
Macht die Stimmbänder geschmeidig: Odermenning.
Ein Liebling der Sänger ist das schon von Hildegard von Bingen geschätzte Rosengewächs, das traditionell zur Pflege der Stimmbänder genutzt wird. Sehr zu empfehlen ist ein Tee aus getrockneten Blättern.
Extrakte aus dem gewöhnlichen und großen Odermenning erzielen erstaunliche Erfolge bei der Bekämpfung von Infektionen, etwa mit den gefürchteten Staphylokokken.
Schmeckt mild-würzig: Hohlzahn.
Was für ein banaler Name für so ein facettenreiches Kraut! Da hört sich Galeopsis für den Lippenblütler doch schon besser an – und zusammen mit der Taubnessel (schon wieder ein abwertender Name für eine wichtige Pflanze) lässt sich ein feiner, mild-würziger Spinat zubereiten.
Leider in Vergessenheit geraten ist die Verwendung als Ölpflanze. Dazu wurden früher die im Oktober gesammelten Samen ausgepresst, was ein zartbitteres Öl ergab, das mit Gerb- und Schleimstoffen wohl adstringierend wirkte. Interessanter Gedanke: Könnte ein Öl sein, das bei leichtem Husten helfend ist. Nahrung als Medizin, dieses Leitmotiv von Hippokrates, kommt mir da in den Sinn.
Brombeere, leicht angeschärft: Kratzbeere.
Nie habe ich mich getraut, diese Beeren zu essen. Nun weiß ich den süß-säuerlichen Geschmack zu schätzen – und hier gefällt mir auch der Name. Denn es handelt sich um die leicht im Hals kratzende Version der Brombeere.
Zählt zu den Rosengewächsen: Traubenkirsche.
Puh, ist das schwer! Sehen doch alle irgendwie ähnlich aus die Blätter. Leichter wird es, wenn an dem Strauch die kleinen Kirschen reif sind. Die süß-säuerlichen Früchte mit einem relativ großen Kern werden gerne in Salz und Gewürzen eingelegt. Traditionell wurde der Saft der Früchte auch vergoren und in einen hochwertigen Essig umgewandelt. Manches war früher halt doch noch besser.
Heilet Herzeleid: Weißdorn.
Wieder was gelernt: „Davon könnt ihr unbegrenzt essen“. Natürlich habe ich den Rat sofort befolgt und die mehlig-süß schmeckenden Früchten genascht. Ein wahres Feuerwerk an kulinarischen Anwendungen zündet Steffen Fleischhauer: Er verarbeitet den Crataegus zu Kompott, Marmeladen oder zu Wein. Auch schrotet und röstet er den Samen – und brüht dann eine Art Kaffee auf. Mit den jungen nuss-mandelartigen Blättern aromatisiert er Spirituosen oder schneidet sie in Salate. Ganz raffiniert: Die Blütenknospen wie Kapern einlegen.
Gerühmt wird der Weißdorn, weil er die Herzkranzgefäße besser durchblutet und hilft, den Blutdruck zu senken – wobei die Wirkungen sich erst nach einiger Zeit einstellen, ohne dass größere Nebenwirkungen bekannt sind. Gut geeignet ist der Crataegus deshalb auch zur Nachbehandlung von Herzinfarkten.
Wie wäre es also, werte Krankenkassen, einmal einen Langzeitversuch für Infarkt-Betroffene zu finanzieren? Vielleicht sogar mit Anwendungen aus dem reichhaltigen Fleischhauer-Rezeptbaukasten. Essbare Gesundheit, das wäre doch was!
Klein, aber oho: Eschensamen.
Plötzlich schaut Steffen nach oben, sieht eine Esche – bückt sich und zeigt voller Stolz auf ein unscheinbares, bräunliches Pflanzenteil. Es ist der Samen einer Esche, deren Hülle er sorgfältig schält, bis der kleine Kern (links) zum Vorschein kommt. Schmeckt zartbitter – und nach mehr!
Wieder bückt sich der 44-jährige, hebt eine Eichel auf – und erzählt wieder eine schöne Geschichte: Sie handelt von einer zweiwöchigen Wanderung bei Frankfurt an der Oder, auf der er sich nur von dem ernährt hat, was er im Wald gefunden hat. Seine tägliche Hauptmahlzeit waren mineralienreiche Brennesseln und kalorienreiche Eicheln. Geld hat er keines gebraucht, ein paar Kilo gingen auch runter – aber er berichtet von großer Zufriedenheit. Inzwischen hat er die Eichel geschält und hobelt feine Stückchen in meine Hand und sagt: „Gedünstet schmeckt es noch besser“. Wobei ich den herben Geschmack auch roh liebe.
Schreit nach Schokolade: Nelkenwurz.
Eine ganze Pflanzengattung bilden die Nelkenwurzen, die botanisch Geum heißen – und auch als Benediktenkraut auftreten. Bitter-herb auf der Zunge sind die Blätter, die im Frühjahr Bella figura in Gemüsefüllungen machen. Herb-süßlich schmecken dagegen die Wurzeln, die ein feines Gewürznelkenaroma entfalten.
Steffen kann sich gut vorstellen, dass die Wurzel mit Schokolade harmoniert. Könnte klappen, außerdem schlummern in den Wurzeln antiseptische Stoffe – und so komme ich auf den interessanten Gedanken, eine Schokolade zu genießen, die auch die Keime reduziert. Wobei das natürlich niemals gesagt werden darf, denn da sind unsere Lebensmittelwächter auf der Hut, dass niemand Genuss und Gesundheit verbindet.
Getrocknet habe ich die ausgegrabene Wurzel und fein gemörsert – und bin begeistert: Das duftet verführerisch nach Nelkenpfeffer. Piment aus dem Freisinger Auenwald – wer hätte das dort vermutet.
Wächst noch: Wilde Möhre.
Sind so kleine Wurzelfinger dran, denke ich, nachdem Steffen Fleischhauer die Wurzel ausgegraben hat. Aber er beruhigt, „die wird noch größer – und dann ist es tatsächlich die Urmöhre“. Von dieser sagenhaften Möhre schwärmen gerne trendige Köche, dabei handelt es sich aber meist um Züchtungen. Immerhin: Ein deutlicher Möhrengeschmack ist jetzt schon zu spüren.
Ein Doldengewächs ist die Wilde Möhre – und diese Gewächse sind mit Vorsicht zu genießen, denn dazu gehören auch ein paar ungemütliche Vertreter, etwa die Hundspetersilie oder gar der tödliche Schierling, mit dem die Griechen den Denker Sokrates umbrachten. Das Tückische: Die giftigen und harmlosen Pflanzen lassen sich verwechseln. Steffen erklärt mir geduldig die Unterschiede, aber bevor ich selbst sammle, lasse ich es mir noch einmal ausführlich erklären.
Nudeln der ganz anderen Art: Hopfentriebe.
„Ach, schaut mal, da könnt ihr Nudeln draus machen“, sagt Steffen im Vorbeilaufen. Nun kenne ich den Hopfen sehr gut, aber Nudeln aus den Trieben dieses Cannabis-Gewächses? Wird ausprobiert!
Invasion des guten Geschmacks: Springkraut.
Nach Deutschland „geflüchtet“ ist das Drüsige Springkraut – und erregt so erst mal den Argwohn vieler, die den Eindringling gerne mit Stumpf und Stiel ausrotten wollen. Fleischhauer sieht das gelassener und meint: „Langfristig reguliert die Natur das meiste“. Er konzentriert sich lieber wieder einmal auf das Kulinarische, pflückt eine Blüte und pult aus ihren länglichen Samenständen die Kerne heraus, die wunderbar nussig schmecken. Wenn schon „Waldputzete“, dann so!
Meine Idee: Einmal eine Pflanze durchdeklinieren, um ihr gesamtes Potential zu erkunden, gerne auch mit wissenschaftlicher Unterstützung – und da bietet sich die in Freising gelegene Hochschule Weihenstephan an, die zu den weltweit renommiertesten Forschungseinrichtungen für Lebensmittel zählt. Eine Hochschule, an der übrigens auch Steffen Fleischhauer studiert hat.
Als Pflanze für dieses kulinarisch-medizinische Experiment schlage ich den wohlschmeckenden und herzstärkenden Weißdorn vor.
Zweitausend essbare Wildpflanzen: Einzigartige Enzyklopädie.
Ein absolutes Meisterwerk ist die „Enzyklopädie Essbare Wildpflanzen“ aus dem renommierten Schweizer AT-Verlag. In dem Buch werden 2000! Pflanzen Mitteleuropas beschrieben und bestimmt. Es finden sich Sammeltipps, fundierte Erläuterungen zu Inhaltstoffen und Heilwirkungen – und ganz besonders wichtig: Ausführliche Hinweise zur Verwendung in der Küche.
Diplom-Ingenieur Steffen Fleischhauer ist der federführende Autor des Standardwerks. Er wird unterstützt von Diplom-Ingenieur Jürgen Guthmann, der Laborleiter einer Fachhochschule war und einer der besten Experten für Heilpilze ist, sowie von Diplom-Ingenieur Roland Spiegelberger, ein ausgewiesener Experte für heimische Wildpflanzen.
„Enzyklopädie Essbare Wildpflanzen“, AT-Verlag, 688 Seiten, 570 Farbfotos und 450 Pflanzenzeichnungen, 59,90 Euro.
TDM Traditionelle Deutsche Medizin
Ein kleiner Hinweis in eigener Sache sei mir gestattet: In meinem Buch „TDM Traditionelle Deutsche Medizin“ kommen selbstverständlich auch Steffen Fleischhauer und Jürgen Guthmann vor – schließlich sind Wildpflanzen und heimische Heilpilze ein wichtiger Teil unserer überlieferten Heilkunde.
von Hans Lauber
E-Mail: aktiv@lauber-methode.de
Website: www.lauber-methode.de
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