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Es soll tatsächlich Zeitgenossen geben, die behaupten, dass Menschen mit Diabetes ihre chronische Erkrankung nutzen bzw. vorschieben, um sich Vorteile zu verschaffen oder Ausreden zu finden. Zu dieser steilen These hat Tine ein paar Worte zu sagen…
In letzter Zeit höre ich oft von anderen mit Diabetes, dass uns vorgeworfen wird, dass wir den Diabetes als Ausrede dafür nutzen, im Bett zu bleiben, oder dafür, uns generell Vorteile im Alltag zu verschaffen. Ganz ehrlich? Solche Worte treffen mich tief. Ich möchte Menschen, die uns das vorwerfen, fragen: Mir vorzuwerfen, meine Krankheit nur vorzuschieben, weil ich nicht immer zu 100 Prozent leistungsfähig sein kann und Pausen brauche – wie fühlt sich das an?
Wie fühlt es sich an, mir nach einer schlimmen Nacht ein schlechtes Gewissen einzureden? Würdest du tauschen wollen? Würdest du täglich Bauchspeicheldrüse spielen wollen, permanent die Werte im Blick, die körperlichen Symptome, die Aufgaben, die es mit sich bringt? Würdest du den Druck der Gesellschaft aushalten wollen, immer leistungsfähig sein zu müssen, obwohl du eine – eben unsichtbare – chronische Erkrankung hast, die jeden Tag deine Aufmerksamkeit braucht?
Das Leben mit Diabetes kann echt anstrengend sein. Wenn ich zum Beispiel eine Nacht mit ausschließlich hohen oder sehr tiefen Werten hatte, geht es mir am Folgetag schlecht. Eine stoffwechselgesunde Person hat diese Variablen schlichtweg nicht. An manchen Tagen kann ich das alles psychisch und physisch besser wegstecken, habe mehr Energie. An anderen brauche ich nach so etwas eine Auszeit und kann einfach nicht.
Ich möchte außerdem fragen: Wie genau, denkst du, verschaffe ich mir durch den Diabetes Vorteile? Ich finde es nicht toll, dass ich immer Traubenzucker mit mir herumschleppen muss. Ich finde es auch nicht lustig, wenn mein ganzer Körper zittert und schwitzt und ich mein Leben kurz komplett pausieren muss, um diesen Traubenzucker zu essen und dieses Gefühl loszuwerden. Ich finde es nicht spaßig, gesundheitlich abhängig von Insulin und Industrie zu sein.
Und wenn ich ein Trinkpäckchen mit auf ein Konzert nehme, einen Tag zur Regeneration brauche oder 20 Minuten mehr Zeit für meine Uniprüfung bekomme, dann sind das keine Vorteile, die ich mir durch den Diabetes verschaffe, sondern Maßnahmen, die ich benötige, um sicher und irgendwie okay durch dieses Leben gehen zu können.
Ein Nachteilsausgleich gleicht Nachteile aus und hat nichts mit Vorteilen zu tun. Wann kommen wir endlich weg vom Glauben, dass wir nur Wert haben, wenn wir Leistung bringen? Wann können wir als Gesellschaft Neid hinter uns lassen und Empathie füreinander haben? Ich und alle anderen mit Diabetes sind nicht Schuld daran, wie ungesund unsere Gesellschaft und Politik momentan zu Leistung, Arbeit und Gesundheit stehen.
Eure Tine
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (12) Seite 51
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