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Was für einen Diabetestyp Michaela Conrad hat, war lange nicht klar. Erst eine Untersuchung der Gene brachte Klarheit – und damit Erleichterung. Über den langen und widrigen Weg zur richtigen Diagnose und Behandlung und wie es ihr heute geht, berichten wir hier.
Ostern 1996 hatte sie ihren ersten Hörsturz, dem weitere folgten. Im Sommer dieses Jahres war Michaela Conrad aus Hamburg mit ihrer Tochter zur Kur, „und da habe ich plötzlich so einen Durst gehabt“. Außerdem nahm sie stark ab. Zurück aus der Kur, ging die damals 34-Jährige zum Hausarzt.
Ihr wurde Blut abgenommen. Am nächsten Tag informierte man sie, der eine Blutwert stimme nicht. „Ich habe gefragt, ob es der Blutzucker ist.“ Und er war es, was Michaela Conrad schon vermutet hatte, denn sie kannte Diabetes aus dem familiären Umfeld.
Der Arzt teilte ihr mit, sie hätte einen Typ-1-Diabetes – und verschrieb ihr ein Medikament mit dem Wirkstoff Metformin, eigentlich ein Medikament zur Behandlung eines Typ-2-Diabetes. „Damals wusste ich das ja alles nicht.“ Außerdem wurde ihr gesagt, sie dürfe nur noch grüne Äpfel und Knäckebrot essen. Dass das nicht stimmen konnte, war ihr klar, denn ihre Tante hatte Diabetes. Diesbezüglich war sie nicht ganz unerfahren.
Im Lauf der Jahre nahm ihre Schwerhörigkeit langsam zu. „Das war so ein schleichender Prozess.“ Erst im Jahr 2008 bekam sie ihre ersten Hörgeräte: „Ich stieg ins Auto und plötzlich war der Blinker so laut …“
Dass es einen Zusammenhang zwischen ihrer Schwerhörigkeit und ihrem Diabetes geben könnte, vermutete lange niemand. Allerdings äußerte im März 1998 während einer Diabetes-Schulung in Hamburg eine Schulungskraft den Verdacht, dass der Diabetes ein MODY sein könnte, ein Maturity Onset Diabetes of the Young.
Diese Diabetes-Formen gibt es in unterschiedlichen Varianten und werden über jeweils eine Veränderung (Mutation) in einem einzelnen Gen vererbt. Verfolgt wurde dieser Verdacht nicht, weil die entsprechenden Tests zu teuer waren „und die Therapie sei sowieso dieselbe“. Hier erhielt Michaela Conrad zum ersten Mal eine Therapie mit Insulin.
Es dauerte 14 Jahre, bis weitere Diagnose-Schritte erfolgten. Im Jahr 2010 ging Michaela Conrad ins Diabetesdorf Althausen zu Dr. Bernhard Teupe. „Der hat innerhalb von vier Tagen gesehen an der Kurve, dass ich niemals einen Typ 1 haben könnte. Er hat dann Blut an ein Labor in Tübingen geschickt. Die haben herausgefunden, ich hätte einen MODY 3.“ In telefonischen Kontakten holte sie sich weiter Unterstützung durch den Arzt. „Er hat gesagt, ich hätte vermutlich bis zu dem Zeitpunkt gar kein Insulin benötigt. Und ich hatte ja schon eine Insulinpumpe …“
Sie bekam Tabletten mit Glibenclamid verschrieben, das bei diesem Diabetestyp wirksam sein kann. Dieser Wirkstoff regt die Bauchspeicheldrüse an, mehr körpereigenes Insulin abzugeben. Es funktionierte nicht – und so blieb sie bei der Therapie mit der Insulinpumpe.
Als im Jahr 2019 eine ihrer Schwestern ebenfalls Symptome eines Diabetes entwickelte, ließen sich Michaela Conrad und ihre Schwester humangenetisch untersuchen. Ein mit Fachbegriffen gespicktes Telefonat mit dem Ergebnis der Untersuchung brachte ihr keine Klarheit, wie sie berichtet. Den nachfolgenden schriftlichen Bericht mit den Ergebnissen gab sie ihrem Hausarzt und ihrem Diabetologen. „Weil keiner darauf reagierte, habe ich dem auch nicht so viel Bedeutung beigemessen.“
Dabei war jetzt die Diagnose endlich klar: Michaela Conrad hat einen MIDD, einen Maternally Inherited Diabetes and Deafness. Ein Weg zur Diagnose mit einigen Umwegen – auf dem sie sich oft unverstanden fühlte.
Fotos: Michaela Conrad
Die Anlage für den MIDD wird, wie der Name sagt, über die Mutter vererbt. Zugrunde liegt eine Mutation im Bereich der Mitochondrien, also der „Kraftquellen“ der Zellen, die eine eigene DNA besitzen. Das Alter des Auftretens liegt etwa zwischen 11 und 68 Jahren. Begleitend können unter anderem hinzukommen Muskelschmerzen, Taubheit, Kleinwuchs und Veränderungen des Augenhintergrunds.
Eine Insulintherapie kann nach Jahren erforderlich sein. Bisher ist die Häufigkeit der Diagnose unter den Menschen mit Diabetes sehr gering.
Als Michaela Conrad die Diagnose nun kannte, stürzte sie sich mit Heißhunger selbst auf weitere Informationen. Über soziale Medien kam sie in Kontakt mit zwei weiteren Frauen mit MIDD. Eine der beiden konnte ihr viele Tipps geben, zum Beispiel zu einem Handbuch über mitochondriale Erkrankungen, das sie sich bestellte. Auf einem Flyer fand sie das Netzwerk mitoNET, das Deutsche Netzwerk für mitochondriale Erkrankungen.
Und nun zeigte sich auch, dass die vielen Frauen mit Diabetes in ihrer Familie nicht erstaunlich waren bzw. sind: ihre Großmutter mütterlicherseits, deren Schwester, zwei Schwestern ihrer Mutter, eine Schwester. Bei ihrer Mutter, die bereits mit 59 Jahren starb, war kein Diabetes bekannt.
Mit einem Schmunzeln berichtet Michaela Conrad: „Mein jetziger Hausarzt ist sehr interessiert und findet das alles spannend. Insofern fühle ich mich da gut aufgehoben. Er hat neulich zu mir gesagt: ‚Sie werden in meiner ganzen Arzt-Laufbahn die Einzige mit dieser Erkrankung sein.‘“ Sie hofft, dass das nicht so sein wird, da sie schätzt, dass es eine erhebliche Dunkelziffer der Menschen mit MIDD gibt.
Frustriert blickt sie allerdings auf eine Erfahrung mit einer Diabetologin, als diese von der MIDD-Diagnose erfuhr: „Sie sagte: ‚Endlich kenne ich mal jemand mit dieser Erkrankung.‘ In ihrer Diabetologen-Weiterbildung hätte sie von der Erkrankung schon mal gehört und sie hätte damals, als ich bei ihr war, das auch schon vermutet, in Verbindung mit der Schwerhörigkeit. Aber sie hätte mir das nicht gesagt, weil sie nicht wusste, wo sie mich hinschicken soll.“
Dabei ist es wichtig, die Diagnose zu kennen, wie Michaela Conrad jetzt weiß. Denn nicht alle Medikamente vertragen sich mit diesem Krankheitsbild. Statine zum Senken der Cholesterinwerte sowie bestimmte Antibiotika und Narkosemittel gehören zum Beispiel dazu.
Trotz der Einschränkungen, die der MIDD mit sich bringt, führt Michaela Conrad ein aktives Leben. Sie war lange als Journalistin tätig, ist ausgebildet als Betreuungsassistentin sowie Musiktherapeutin, Burnout-Therapeutin und Anleiterin für Autogenes Training und Progressive Muskelentspannung.
Obendrein war sie als „Kümmerin“ in der sozialen Stadtteilarbeit tätig. Sie geht gern in Konzerte, zu Fußball- und Handballspielen, früher auch zum Eishockey. Lesen und Handarbeiten gehören zu ihren Hobbys. Außerdem liest sie in Hamburg Kindern vor. Auch in der Diabetes-Selbsthilfe ist sie aktiv und leitet eine Gruppe in Hamburg.
Fragt man sie nach einem Wunsch für die Zukunft, kommt ganz spontan: „Es geht mir darum, dass diese selten diagnostizierten Diabetesformen aufgedeckt werden. Ich habe inzwischen ein ziemliches Netzwerk mit Menschen mit Diabetes.
Und ab und zu laufen mir welche über den Weg, bei denen ich denke: Huch! Ich darf ja keine Diagnosen stellen oder die irgendwo hinschicken. Aber manchmal erzähle ich denen dann von mir und dann klingelt bei denen irgendwas.“
von Dr. Katrin Kraatz | Chefredaktion Diabetes-Anker
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2024; 72 (11) Seite 54-56
13 Minuten
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