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Gundula Freund hat seit über 60 Jahren Typ-1-Diabetes. Das Diabetes-Journal kennt sie aber erst seit kurzem – und war überrascht, dass es eine solche Zeitschrift gibt. In der Redaktion hat sie sich gemeldet, weil sie anderen mit ihrer Geschichte Mut machen möchte. Ihre Botschaft ist klar: Es braucht Kraft und Zeit, mit dem Diabetes zurechtzukommen, aber es ist machbar – trotz aller Warnungen, die man ihr in der ersten Zeit mit auf den Weg gegeben hatte.
Seit einigen Monaten beziehe ich das Diabetes-Journal. Beim Lesen der Artikel dachte ich mir: Vielleicht macht es Mitstreitern Mut, wenn sie meine Geschichte lesen? Denn ich habe schon seit 62 Jahren Typ-1-Diabetes! Der Diabetes ist mein treuester Begleiter, und er hat mich nie mehr verlassen – aber man muss und kann sich mit ihm arrangieren.
Mit 13 Jahren nahm ich stark an Gewicht ab, war ständig müde, schlief in der Schule ein und konnte große Mengen an Süßigkeiten essen. Unser damaliger Hausarzt bat meine Mutter um eine Urinprobe von mir und probierte diese – das war damals, in den 50er Jahren, eine absolut gängige Methode. Und siehe da: Der Urin war “süß”.
Nun begann eine sehr schwierige Zeit für meine Eltern. Ich kam in ein Krankenhaus, in dem man jedoch von juvenilem Diabetes – also Typ-1-Diabetes – keine Ahnung hatte. Ich musste den ganzen Tag Sport treiben, bekam nur Fleisch, Quark und Gemüse zu essen, aber kein Obst und keine Kohlenhydrate. Es ging mir immer schlechter, bis irgendjemand herausfand, dass es in Karlsburg bei Greifswald ein Diabetes-Krankenhaus gibt, in das ich eingewiesen wurde. Dort wurde ich nun mit Insulin (es hieß PZ) eingestellt.
Wir waren dort neun Kinder im Alter von 9 bis 16 Jahren. Das Schlimmste waren die Pflichtvorträge und die Hafertage. Hafertage wurden verordnet, wenn Azeton ausgeschieden wurde; es gab den ganzen Tag nur Haferschleim. Die Vorträge waren sehr oft unfair, z. B. wurde gesagt: “Diabetiker sind Lügner!” Oder: “Kinder zu bekommen ist nicht ratsam.” Oder: “Junge Männer sind oft impotent.” Und so weiter.
Als ich entlassen wurde, ging es mir besser, und ich führte ein relativ normales Schulleben. Meine Mutter brachte mir die abgewogenen Mahlzeiten in die Schule. Abends wurde meine Urinprobe im Reagenzglas gekocht – war sie grün, war der Zuckerwert gut, war sie gelb, war er schlecht. Einmal im Monat wurde in der Diabeteszentrale Sammelurin abgegeben und der Blutzucker nüchtern gemessen. Von nun ab musste ich in den Sommerferien nach Karlsburg fahren, zum Einstellen, und ich musste eine strenge Diät, nach BE ausgerechnet, einhalten.
Inzwischen gab es auch in Halle eine Diabetiker-Fürsorge mit Belegbetten, geführt von Herrn Dr. Hempel und Schwester Hertha. Von da an erfuhr ich nicht nur medizinisch, sondern auch menschlich eine herzliche und aufmerksame Betreuung. Als ich älter wurde, durfte ich in den Ferien in das Diabetiker-Sanatorium nach Rheinsberg bei Berlin fahren. Dies war unter der Leitung von Frau Dr. Kirsch immer eine sehr schöne Zeit.
Nach der Wende wurde das Zentralinstitut zunächst zum Fachkrankenhaus für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten “Gerhard Katsch”, 1994 entstand daraus das Klinikum Karlsburg, ein Fachkrankenhaus für Herz- und Stoffwechselkrankheiten, das auch das offizielle Herz- und Diabeteszentrum Mecklenburg-Vorpommerns ist.
Später wurde Gundula Freund von Professor Dr. Rüdiger Petzoldt betreut, der lange Jahre Chefarzt an der Diabetesklinik Bad Oeynhausen (heute: Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen) war und über 35 Jahre lang im Diabetes-Journal die Fragen von tausenden ratsuchenden Lesern beantwortet hat.
Ich bin Krankengymnastin geworden, habe geheiratet, eine gesunde Tochter bekommen, die Ärztin geworden ist, und inzwischen habe ich zwei hübsche, gescheite und gesunde Enkelkinder.
1971 gelang uns zu dritt die Flucht im Kofferraum aus der DDR nach Westdeutschland. Von diesem Zeitpunkt an bin ich sehr oft in der Diabetesklinik in Bad Oeynhausen gewesen. Dort bin ich viele Jahre von Herrn Professor Petzoldt, Frau Hanke und Schwester Helga ernst genommen und aufmerksam und verständnisvoll behandelt worden.
Es geht mir heute mit meinem ständigen Begleiter Diabetes gut. Ich habe sehr viel Glück gehabt, aber es ist auch sehr oft schwierig, weil er macht, was er will und man ihm hilflos ausgeliefert ist, weil man ihn eben nicht versteht. Es gehört viel Mut, Konzentration, Kraft, Zeit und auch Tapferkeit dazu, mit dem Diabetes zurechtzukommen, aber es ist zu schaffen. Mit den heutigen Möglichkeiten wird es auch immer leichter, mit diesem Begleiter zu lachen und zu leben.
Petra und Ralf Schäfer sind zwei unserer Diabetes-Helden. Gemeinsam haben die beiden über 80 Jahre Erfahrung mit Typ-1-Diabetes. Den Film über die beiden und ein Interview gibt es hier: www.diabetes-online.de/helden
Im Buch “Anpacken statt einpacken” erzählen 30 Menschen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes aus ihrem Leben. Einige von ihnen kommen schon seit Jahrzehnten mit dem ständigen Begleiter Diabetes zurecht. Erschienen ist das Buch im Kirchheim-Verlag, beziehen können Sie es über den Buchhandel oder direkt über www.kirchheim-shop.de
von Gundula Freund
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2016; 65 (4) Seite 34-35
2 Minuten
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