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Stephanie Haack hat Typ-1-Diabetes, den sie schwer akzeptieren konnte. Inzwischen ist die Krankheit ihr beruflicher Inhalt – und gibt es Neues auszuprobieren, ist sie dabei. Aber für sie gilt auch: Die Lebensqualität ist im Zweifel wichtiger als immer perfekte Werte. Wir sprachen mit ihr über diesen täglichen Balance-Akt.
Diabetes-Journal: Liebe Stephanie Haack, Sie haben als Mensch mit Typ-1-Diabetes Ihre Erkrankung zum Beruf gemacht. Können Sie unseren Lesern kurz berichten, wie es dazu kam?
Stephanie Haack: Das war so nie geplant, aber rückblickend ergibt es sehr viel Sinn, weil ich die ersten Jahre sehr einsam war mit der Diagnose. Ich war damals gerade 18 Jahre alt und stand kurz vor dem Abi. Ich kannte niemanden mit Typ 1 und auch nicht viele Leute mit Typ 2. Mich hat die Erkrankung anfangs sehr ausgebremst, und ich habe ein paar Jahre gebraucht, um den Diabetes zu akzeptieren – auch als Teil meiner Identität. Zunächst habe ich mich auch nicht wirklich darum gekümmert.
Mein damaliger Diabetologe hat mir vor fast zehn Jahren einen Flyer von #dedoc° in die Hand gedrückt, den er von der Messe diatec mitgebracht hatte. Da habe ich gemerkt, dass es eine ganze Community von Menschen gibt, die jeden Tag ganz viel Energie in ihr Diabetes-Management stecken und es trotzdem nicht immer perfekt hinbekommen! Das war für mich bahnbrechend, weil ich jahrelang gedacht habe, dass Diabetes eigentlich einfach zu managen ist und ich es nur nicht richtig hinbekomme. Ich wollte dann unbedingt ein Teil dieser Community sein. Irgendwann habe ich mit meinem Diabetes-Blog im Internet angefangen.
Zunächst war das für mich nur ein Hobby. Seit zwei Jahren kümmere ich mich nun bei #dedoc° hauptberuflich um Kommunikation und Community-Aktivitäten. Es ist total schön. Wir reden natürlich auch über schwierige Themen, aber immer auf eine Art und Weise, die positiv und fruchtbar ist. Ich habe deshalb das Gefühl, dass alles sehr gut zusammenpasst.
DJ: Das ist ein großer Schritt, wenn man bedenkt, dass es Ihnen anfangs sogar schwergefallen ist, regelmäßig den Blutzucker zu messen. Was macht für Sie den Reiz aus, nun auch beruflich in dem Bereich tätig zu sein?
Haack: Ich habe inzwischen einfach verstanden, dass ich dem Diabetes Aufmerksamkeit schenken muss, damit ich mich auf andere wichtige Dinge konzentrieren kann. Es ist weiterhin ein Balance-Akt, zu entscheiden, wie viel Energie ich ins tägliche Diabetes-Management stecke. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass man durch zu viel Energie in obsessives Verhalten abrutschen kann. Diabetes kann auch ein Nährboden für mentale Probleme sein. Ich habe mittlerweile aber eingesehen, dass ich den Diabetes als Teil von mir akzeptieren muss. Ich muss Energie ins Diabetes-Management stecken und kann mich dann auch auf mein Leben konzentrieren und andere Dinge genießen. Wenn ich versuche, den Diabetes zu ignorieren und so wenig Energie wie möglich reinzustecken, dann hilft mir das am Ende auch nicht weiter, denn dann schwebt die ganze Zeit ein Damoklesschwert über mir. So war das in den ersten Jahren nach der Diagnose.
DJ: Wie haben Sie es letztlich geschafft, den Mittelweg zwischen Perfektionismus und Lebensqualität zu finden?
Haack: Ich würde sagen, ich schwanke noch heute zwischen diesen beiden Wegen. Die Technologie hilft inzwischen aber natürlich sehr. Ich habe großen Spaß daran, neue Technologien auszuprobieren. Gleichzeitig kann dies aber auch dazu führen, dass man sich zu sehr mit dem Feintuning beschäftigt. Ich habe für mich selbst die Grundsatzentscheidung getroffen, dass mir die Lebensqualität im Zweifel wichtiger ist als immer perfekte Werte. Ich möchte nicht, dass der Diabetes in meinem Leben überhandnimmt. Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden am Strand ein Eis esse, dann bedeutet das für mich Lebensqualität, auch wenn es ein Balance-Akt bleibt.
Natürlich möchte man das Risiko von Folgeerkrankungen minimieren. Doch gleichzeitig können diese auch entstehen, wenn man sich immer perfekt um den Diabetes gekümmert hat, deshalb muss man diese Dinge stets gegeneinander abwägen. Vor allem am Anfang nach der Diagnose hört man ja sehr viele Horrorszenarien: “Irgendwann im Alter fallen Ihnen die Füße ab!” Oder auch: “Nicht in den Daumen und den Zeigefinger piken! Die brauchen Sie später noch, wenn Sie blind sind!” So etwas wirkt natürlich überhaupt nicht motivierend.
DJ: Haben Sie selbst schon Folgeschäden durch Diabetes?
Haack: Ja, an den Füßen. Noch im Anfangsstadium und zum Glück noch nicht so stark, dass es meine Lebensqualität spürbar beeinflusst. Obwohl es eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass man mit Diabetes irgendwann Folgeschäden entwickelt, kommt mir das Thema in der Öffentlichkeit noch immer zu kurz. Es wird zwar immer kommuniziert, man müsse als Mensch mit Diabetes Folgeschäden unbedingt verhindern. Wenn man sich einmal genauer damit befasst, stellt man allerdings fest, dass ganz viele Menschen mit Folgeschäden leben und es trotzdem irgendwie weitergeht. Für mich hat sich dadurch bis jetzt noch nicht allzu viel verändert, aber ich stehe eben auch noch am Anfang dieser Reise. Genau darüber wird einfach zu wenig gesprochen: Es heißt immer nur “Folgeschäden verhindern”. Uns Menschen mit Diabetes würde es so sehr helfen, mehr darüber zu erfahren, wie das Leben auch mit Folgeschäden aussehen und weitergehen kann.
DJ: Sie möchten darauf aufmerksam machen, weil es oft so dargestellt wird, als sei Diabetes heutzutage kein großes Problem mehr?
Haack: Ja, genau. Wir reden viel darüber, dass man mit Typ-1-Diabetes Berge erklimmen oder auch Profisportlerin werden kann. Das ist natürlich eine wichtige Botschaft – gerade auch für betroffene Kinder und deren Eltern. Aber es gibt auch eine andere Seite der Medaille, und mir ist es deshalb wichtig zu sagen: Der Diabetes hält mich manchmal auf. Das ist nun einmal so. Zum Beispiel, weil mein Rucksack, den ich auf eine Wanderreise mitnehme, doppelt so schwer ist. Wenn man sich entscheidet, deshalb nicht den Mount Everest, sondern vielleicht nur den Brocken im Harz zu besteigen, dann ist das in Ordnung.
DJ: Sie haben eben schon mal kurz angedeutet, dass Ihnen die Diagnose mit 18 Jahren in die Quere gekommen ist. Gab es damals Pläne, die Sie wegen Diabetes nicht umgesetzt haben?
Haack: Ja, ich wollte nach dem Abi eigentlich ein soziales Jahr in einem ländlichen Gebiet in Vietnam machen. Mein damaliger Arzt hat dann aber gemeint, ich solle lieber nach Barcelona gehen, so wie alle anderen auch – oder in irgendeine andere Großstadt, in der die medizinische Versorgung gut ist. Er hatte damit einen Punkt – ich sehe das durchaus ein. Trotzdem wäre es für mich eine bessere Motivation gewesen, wenn er mich nicht ausgebremst, sondern mit mir gemeinsam überlegt hätte, wie ich es auch mit Diabetes schaffen kann.
Reisen ist meine große Leidenschaft, und ich bin sehr froh, dass ich inzwischen die Kurve gekriegt habe. Vor ein paar Jahren war ich endlich in Vietnam. Ich habe mittlerweile auch einige abenteuerliche Sachen gemacht, aber ich weiß natürlich, dass es da draußen Leute gibt, die einfach Angst haben. Auch in diesem Fall gilt wieder: Man muss nicht die Backpacking-Tour im Dschungel machen! Es ist auch okay, mit Diabetes einfach irgendwo am Strand zu liegen.
DJ: Haben Sie denn inzwischen auch Dinge umgesetzt, die Ihnen anfangs mit Diabetes unmöglich erschienen?
Haack: Ja, ich habe mittlerweile ganz viele Camping-Reisen gemacht, unter anderem auch eine Mountainbike-Tour in Bolivien. Andere Leute haben dafür nicht immer Verständnis. Als ich bei einer Schulung mal erzählt habe, wie schwierig das Kühlen von Insulin bei 50 Grad im Death Valley ist, hat mich ein anderer Teilnehmer gefragt, warum ich sowas mache. Das sei doch viel zu gefährlich mit Diabetes. Aber ich plane natürlich im Vorfeld sehr viel und mache mir Gedanken, wo ich zum Beispiel im Notfall Ersatzinsulin bekomme, oder auch, wo die nächste Klinik ist. Nach der entsprechenden Vorbereitung kann ich mich wieder auf die Reise freuen, ohne die ganze Zeit Angst zu haben, dass mir etwas Ungeplantes passiert.
DJ: Selbsthilfegruppen und Online-Communitys können in solchen Fällen Fluch und Segen sein. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?
Haack: Manche Tipps in den Gruppen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen. Ich habe schon mitbekommen, dass andere Betroffene glauben, per Ferndiagnose jemandem die Basalrate anpassen zu können. Ich glaube, gerade deshalb ist es wichtig, im Gespräch zwischen Patientinnen und Patienten und medizinischem Fachpersonal deutlich zu machen, wer für was zuständig ist. Gleichzeitig haben diese Gruppen auch einen großen Mehrwert. Man bekommt mentalen Beistand und manchmal auch einen hilfreichen Rat. Man muss aber trotzdem selbst erkennen, wann man professionelle Unterstützung braucht. Ich möchte die Online-Communitys nicht missen, würde mir aber manchmal wünschen, dass allen etwas klarer wäre, wofür sie gut sind und wofür nicht.
DJ: Haben Sie einen Rat für Menschen, die gerade erst die Diagnose erhalten haben? Wie finden sie andere Betroffene, mit denen sie sich konstruktiv austauschen können?
Haack: Wenn sie bereits Mitglied einer solchen Gruppe sind und vielleicht das Diabetes-Journal lesen, dann machen sie schon einmal zwei Sachen richtig. Es ist aus meiner Sicht wichtig, dass man andere Leute mit Diabetes kennenlernt, um das ganze Thema ein bisschen zu normalisieren. Für mich ist es auch heute noch ein Erlebnis, mit anderen Betroffenen in einer Pizzeria zu sitzen und zu sehen, wie alle grübeln, um die richtige Insulindosis zu finden. Selbst wenn man diesen Austausch nur virtuell erlebt, ist das schon sehr wertvoll, damit man mit dem Diabetes nicht allein ist.
Unsere virtuellen #docday°-Community-Events etwa sind ein toller Ort, um von anderen Menschen mit Diabetes zu hören. Ein weiterer Rat lautet: Man sollte sich von niemandem erzählen lassen, dass Diabetes ganz einfach zu managen ist und dass man selbst schuld ist, wenn etwas schiefgeht. Diabetes ist eine unheimlich komplexe Erkrankung, und es kann nicht unser Anspruch sein, den ganzen Tag einen flachen Verlauf mit einem Wert von 100 mg/dl (5,6 mmol/l, Anm. d. Redaktion) zu haben. Da ich nicht daran glaube, dass wir in naher Zukunft eine Heilung erleben werden, müssen die meisten von uns vermutlich noch viele Jahre mit Diabetes leben.
Dazu gehören auch Tage, an denen ein Plan nicht aufgeht. Manchmal stimmt der Bolus einfach nicht und es kommt eine Hypo- oder eine Hyperglykämie (Unter- oder Überzuckerung, Anm. d. Redaktion) dabei raus. Dann ist es wichtig, dass man damit umgehen kann, sich davon nicht kaputt machen lässt und das Leben auch mit diesen Höhen und Tiefen genießen kann.
DJ: Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Interview: Thorsten Ferdinand
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (6) Seite 44-47
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