- Leben mit Diabetes
Schritt für Schritt zum Wunschgewicht: Ümit Sahin hat sein Ziel fest im Blick
13 Minuten

Der Umgang mit seinem Typ-2-Diabetes und Übergewicht fällt Ümit Sahin nicht leicht. Doch er gibt nicht auf und versucht Schritt für Schritt seinen eigenen Weg zu gehen, um sein Wunschgewicht zu erreichen. Über seine Strategien für dieses Ziel, die Akzeptanz mit seinem Diabetes und sein Engagement in der Selbsthilfe berichtet er hier im Interview.
Im Interview: Ümit Sahin

Seit seiner Diagnose hat Ümit Sahin zahlreiche Strategien ausprobiert, um seinen Lebensstil nachhaltig zu ändern. Zwar gelingt es ihm zunächst, sein Gewicht deutlich zu reduzieren, doch nach und nach schleichen sich alte Gewohnheiten wieder ein. Seine Arbeit als Selbstständiger erschwert es zusätzlich, eine feste Routine zu entwickeln. Hinzu kommt, dass ihm der Typ-2-Diabetes unangenehm ist. „Ich habe lieber mir selbst geschadet, als etwas nach außen zu zeigen“, sagt er.
Aktiv in der Selbsthilfe
Bald darauf schließt sich Ümit Sahin dem Selbsthilfeverband „Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH-M)“ an. Anfangs hat er das Gefühl, mit seinem Typ-2-Diabetes nicht richtig zur Community dazuzugehören und dass andere besser mit dem Diabetes umgehen können. Mit der Zeit erkennt er jedoch, dass ihm der Austausch guttut, aber auch, dass er seinen eigenen Weg gehen muss.
Rückschritte akzeptieren und Verantwortung tragen
Ümit Sahin lernt, seine Erkrankung zu akzeptieren und sein Leben Schritt für Schritt zu ändern. Seit er Insulin benötigt, nutzt er ein System zum kontinuierlichen Glukose-Messen (CGM), das ihm mehr Kontrolle und Sicherheit gibt. „Das ist das Beste, was mir passieren konnte“, freut er sich. Er weiß, dass er selbst die Verantwortung für seine Gesundheit trägt. „Realistisch betrachtet wird es Höhen und Tiefen geben, aber ich wünsche mir, dass ich damit umgehen kann und nicht aufgebe.“
Diabetes-Anker (DA): Hallo Ümit, Du lebst mit Typ-2-Diabetes. Seit wann ist das so und wie kam es zu dieser Diagnose?
Ümit Sahin: Ich lebe mit Typ-2-Diabetes seit März 2017, also fast acht Jahre. Die Diagnose kam damals plötzlich. Im Nachhinein betrachtet hatte ich lange hohe Blutzuckerwerte. Beim Ausbruch hatte ich die üblichen Symptome: viel Wasser lassen, viel trinken, trockene Augen, starke Gewichtsabnahme. Ich bin dann zum Arzt gegangen und dort bekam ich die Diagnose – im Grunde für mich unvorbereitet, aber nicht ohne Vorwarnung.
DA: Wenn Du zurückblickst, welche Warnzeichen gab es, bevor die klassischen Symptome auftraten?
Ümit Sahin: Zum einen hatte ich schon immer starkes Übergewicht und die Warnung des Arztes, dass ich im Hinblick auf meinen familiären Hintergrund eine Veranlagung hätte, wenn ich nicht aufpasse. Meine Eltern haben zwar keinen Diabetes, aber Tante, Onkel und Großeltern. In den Monaten vor der Diagnose waren es körperliche Anzeichen wie Müdigkeit, Energielosigkeit und Antriebslosigkeit. Das waren echte Warnzeichen, aber ich konnte sie nicht deuten und habe auch die Warnung des Arztes nicht ernst genommen. Diabetes versteht man glaube ich erst, wenn man es hat.
DA: War dir nach der Diagnose klar, dass etwas passieren muss bzw. hast du die Situation ernster genommen?
Ümit Sahin: Ja, nach der Diagnose war ich erstmal total geschockt und habe mich gefragt, was ich jetzt machen soll. Mir kam tatsächlich der Gedanke, dass ich radikal etwas ändern muss. Das hat auch der Arzt gesagt: Ernährung ändern, Sport einbauen und natürlich regelmäßig Blutzucker messen und vierteljährlich zum Arzt gehen. Die ersten sechs Monate waren auch supergut. Aber es gestaltete sich dann doch schwieriger.
Der Gedanke, dass sich das Leben geändert hat durch die Erkrankung, hat sich irgendwann wieder in den Hintergrund geschoben durch alte Gewohnheiten. Viele Veränderungen habe ich wieder rückgängig gemacht – ich habe weniger Sport gemacht und die Ernährung nicht beachtet. Der Blutzucker ging wieder nach oben, aber das war eben so.
DA: Das heißt, es war am Anfang eine kurzfristige, aber sehr radikale Umstellung und dann bist du wieder in alte Gewohnheiten zurückgefallen?
Ümit Sahin: Genau, ich habe viel verzichtet. Ich habe quasi eine 180-Grad-Drehung gemacht. Später hatte ich einen inneren Konflikt, weil mir klargeworden ist, dass mein Diabetes mir nicht direkt weh tut, auch wenn ich eine Zeit lang über die Stränge schlage.
DA: Welche Unterstützung hast du von deinem Arzt am Anfang bekommen bzw. wie hast du dich über den Diabetes informiert?
Ümit Sahin: Ich war bei meinem Hausarzt und er hat mir Tipps gegeben, aber nur grob: Stell die Ernährung um, bewege dich mehr. Aber wie und was, in welchem Umfang und was passt zu mir, das sind Dinge, die ich mir selbst erarbeiten musste. Ich habe keine Schulung bei ihm bekommen. Die habe ich erst zwei Jahre später gekriegt als ich zum Diabetologen gegangen bin. Alles andere war Recherche im Internet.
„Ich habe es am Anfang nicht akzeptiert, dass ich etwas ändern muss. Ich habe mich nur unter Druck gesetzt, obwohl ich nicht bereit war.“
DA: Bist Du durch die Recherche auch auf die Community aufmerksam geworden oder hast Du nur nach Informationen gesucht?
Ümit Sahin: Beides, ich habe erst einmal für mich zum Verständnis geguckt, was Typ-2-Diabetes ist, und habe dann schnell nach der Selbsthilfe gesucht: Was gibt es im Internet für Communities, Diskussionsgruppen, Facebook-Gruppen? Ich bin kein Online-Typ, deswegen bin ich einfach zum Weltdiabetestag gegangen. Ich habe mich an einen Stand gestellt und gesagt, ich will mitmachen und ich will wissen, ob ich mich engagieren kann und wie ich andere kennenlernen kann, die mit Diabetes leben.
DA: Du bist aktiv in der Selbsthilfe?
Ümit Sahin: Ja, ich bin aktiv im Verband Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH-M). Momentan stehe ich zum Beispiel bei Kongressen am Stand oder bin bei Veranstaltungen, bei denen Informationsmaterial verteilt werden muss.
DA: Welche Therapie hast Du zu Beginn bekommen?
Ümit Sahin: Ich habe zu Anfang Tabletten bekommen und dazu die Auflage, den Lebensstil zu ändern. So lief es erstmal einige Zeit. Mein Hausarzt hat mir von Anfang an gesagt, dass wir kein Insulin nutzen, um zu sehen, ob noch eine restliche Insulinsensitivität da ist.
DA: Hast Du die Lebensstiländerungen mittlerweile besser in den Griff bekommen?
Ümit Sahin: Ich habe es am Anfang nicht akzeptiert, dass ich etwas ändern muss. Ich habe mich nur unter Druck gesetzt, obwohl ich nicht bereit war. Klingt vielleicht komisch, aber ich habe es irgendwann lockerer genommen. Jeder Rückschlag hat mich fertig gemacht, hat sich angefühlt wie ein Versagen. Das ging über Jahre hinweg, es war immer ein Hin und Her, ein innerer Kampf.
Seit ungefähr zwei Jahren nehme ich es lockerer. Wenn ich mal nicht das esse, was ich essen sollte, oder mich mal auf die faule Haut lege, sehe ich das nicht so streng und sage, ich mache einfach am nächsten Tag weiter, das ist kein Rückschritt. Wichtig war für mich tatsächlich das zu akzeptieren.
DA: Was hat dir bei dieser Akzeptanz geholfen?
Ümit Sahin: Aus dem familiären Umfeld kam keine große Hilfe. Meine Eltern waren auch erstmal überfordert, sind sie eigentlich immer noch. Ich muss immer noch sagen, dass ich nicht so viel Obst essen kann und das kontrollieren muss. Geholfen hat tatsächlich Selbstvertrauen. Ich habe früher versucht, bei anderen abzugucken, zu schauen was die machen und ob ich das nachmachen kann. Das ist immer schief gegangen, weil ich es nicht in meinen Alltag integrieren konnte.
Ich bin selbstständig. Ich habe zwar eine geregelte Arbeitszeit, aber die geht über den ganzen Tag. Entsprechend konnte ich nicht umsetzen, was mein Arzt mir empfohlen hat, wie regelmäßige Mahlzeiten zu mir zu nehmen. Ich hab’s versucht, aber es hat nicht funktioniert. Auch das Vorbereiten von Mahlzeiten funktioniert nicht. Ich finde das faszinierend, wenn man für eine Woche vorkochen kann. Nach zwei Tagen habe ich aber keine Lust mehr darauf.
Das zu akzeptieren hat mir unheimlich geholfen auf dem Weg mit meinem Diabetes umzugehen. Zu erkennen, das System funktioniert bei mir nicht, ich finde meinen eigenen Weg. Das beinhaltet auch viel eigene Erfahrung.
DA: Setzt Du Dir trotzdem bestimmte Ziele und wie versuchst Du sie zu erreichen?
Ümit Sahin: Ich setze mir das Ziel, dass ich nicht nur 5 Kilo abnehmen will, sondern habe für mich entschieden, dass ich 30 Kilo abnehmen muss, damit ich mich wohlfühle. Aber die Schritte dorthin sind klein. Ich habe immer dieses große Ziel vor Augen, aber ohne Zeitdruck. Ich will es einfach Schritt für Schritt erreichen. Wenn mal ein Rückschritt dabei ist, akzeptiere ich das und gehe trotzdem weiter.
Ich habe in den letzten zwei Jahren mehr die psychische Komponente ins Zentrum gerückt. Ich habe für mich erkannt, dass meine Gewohnheiten immer Überhand nehmen, am Ende haben sie immer gewonnen, weil ich 25 Jahre lang alles falsch gemacht habe. Das hat sich natürlich im Kopf verankert. Ich habe mir vorgenommen, dass jede Veränderung, die ich einführe, so sein muss, dass meine Gewohnheiten nicht gleich auf Alarm gehen.
Zum Beispiel Sport machen. Wann war das Teil meines Alltags? Höchstens in der Schule. Sport habe ich nie gemacht. Wenn ich jetzt anfange, Sport zu machen, dann kommen natürlich die alten Gewohnheiten, diese üblichen Ausreden: Mach doch heute weniger oder gehe morgen hin. Deshalb versuche ich es möglichst einfach zu halten und mich in meinem Alltag daran zu gewöhnen, Sport zu machen. Es zählt erstmal nicht, welchen Sport, wie lange und wie viel ich mache – nur, dass ich hingehe. So mache ich das jetzt ungefähr seit einem halben Jahr.
„Ich habe mich auch nie getraut bei meinen Kunden eine Kontrollmessung zu machen, z.B. wenn ich eine anstrengende Arbeit verrichtet habe. Ich habe immer gewartet, bis ich entweder im Auto war oder es dort dann vergessen und erst abends im Laden gemessen – eigentlich viel zu spät.“
Es ist ein sehr langweiliger Weg. Ein Ergebnis ist noch nicht zu sehen. Aber ich habe viele dieser Anfängerprogramme ausprobiert, Spazierengehen, Treppensteigen, Fahrradfahren. Das hat nicht funktioniert, das bin ich nicht. Das waren immer Signale an mein Innerstes, dass da eine Veränderung ist, die ich nicht will und die ich nach und nach sabotiert habe.
Ich muss mich erst mal daran gewöhnen, den Sport als Termin in den Alltag zu integrieren, z.B. dass ich an einem bestimmten Tag zum Sport gehe – nicht mit der Erwartungshaltung, dass ich beim Sport bin und jetzt eine Stunde trainieren muss. Manchmal ist es tatsächlich so, dass ich hingehe, einfach nur dusche und wieder gehe. Es ist eine Krücke, aber das hilft mir momentan tatsächlich, den Lebensstil nachhaltig zu ändern und das umzusetzen, durchzuhalten.
DA: Du hast gesagt, Du bist selbstständig. Was genau arbeitest Du und wie gestaltest Du Deinen Arbeitsalltag mit Diabetes?
Ümit Sahin: Ich habe einen kleinen Fachhandel für Haushaltsgroßgeräte, also z. B. Waschmaschinen, mit Lieferung und Service. Nebenher mache ich auch kleinere Reparaturarbeiten für Hausverwaltungen, Wohneigentümer, Anwohner. Der Beruf ist handwerklich, also entsprechend körperliche Arbeit. Meistens bin ich den ganzen Tag unterwegs.
Deshalb ist es schwierig für mich, eine Regelmäßigkeit in den Alltag zu bekommen, wenn der nächste Kunde wartet. Aber z. B. ist es auch schwierig, wenn die Kunden nett sind und nicht nur Kaffee, sondern auch Kuchen anbieten. Das kommt oft vor und darin liegt auch meistens eine Herausforderung.
Seit zwei Jahren bin ich insulinpflichtig. Ich glaube, dass ich das in gewisser Weise provoziert habe. Nach den ersten Erfolgen habe ich mein Diabetesmanagement schleifen lassen, Medikamente vernachlässigt, die Ernährung nicht beachtet und auch den Blutzucker nicht regelmäßig gemessen. Am Anfang habe ich achtmal am Tag gestochen, um meinen Blutzuckerwert zu kennen, danach wurde es weniger. Das war das Aufwendigste an der Anfangszeit, dieses regelmäßige Messen, um einen Überblick zu bekommen.
Ich habe mich auch nie getraut bei meinen Kunden eine Kontrollmessung zu machen, z. B. wenn ich eine anstrengende Arbeit verrichtet habe. Ich habe immer gewartet, bis ich entweder im Auto war oder es dort dann vergessen und erst abends im Laden gemessen – eigentlich viel zu spät. Die größte Schwierigkeit war tatsächlich, eine regelmäßige Messung durchzuführen, aber das Messen war die einzige Möglichkeit, um meinen Blutzuckerspiegel im Alltag im Blick zu behalten. Ich habe eigentlich nur gehungert, weil es mir schwer fiel, Essen vorzubereiten und ich mir z. B. gesagt habe, ich darf nicht zum Bäcker gehen. Es war nicht leicht.
DA: Ist es dir unangenehm vor anderen zu zeigen, dass Du mit Diabetes lebst?
Ümit Sahin: Ja, ich hab’s meistens versteckt, weil es mir unangenehm war. Wenn mir z. B. ein Keks angeboten wurde, oder eine Süßigkeit habe ich oft gesagt: Danke, ich habe jetzt keinen Hunger, aber ich nehme es gerne mit und esse es später. Ich habe niemals gesagt, ich darf das nicht essen, weil ich Diabetes habe. Ich wollte nicht bemitleidet werden und auch meinem Gegenüber keine unangenehme Situation bescheren.
DA: Hast Du negative Erfahrungen gemacht, wenn Du jemandem erzählt hast, dass Du mit Diabetes lebst?
Ümit Sahin: Eher nicht, es hat niemand zu mir gesagt, ich sei selbst schuld oder man sehe es durch das Übergewicht. Aber ich hatte immer das Gefühl, wenn ich mal was gesagt habe, hatten die Kunden so einen Gesichtsausdruck oder ein Lächeln, sodass ich sofort Kopfkino hatte und ich gedacht habe: Oh, irgendetwas denkt er sich jetzt, bestimmt dass ich selbst schuld bin wegen meines Gewichts. Direkt gesagt hat niemand etwas, ich hatte aber immer dieses Gefühl. Vielleicht war das auch eine Fehlinterpretation. Wenn ich in der Anfangszeit essen gegangen bin, habe ich z. B. nicht nur einen Salat bestellt, sondern eine Hauptspeise, um nicht auf den Diabetes reduziert zu werden. Ich habe lieber mir selbst geschadet, als etwas nach außen zu zeigen.
DA: Ist das jetzt anders?
Ümit Sahin: Jetzt sage ich zwar immer noch nicht, dass ich Diabetes habe, aber ich gehe meinen Bedürfnissen nach, z. B. wenn ich einen Cocktail bestelle, frage ich einfach: Können Sie bitte eine Cola Zero reinmachen? Mir fällt es auch leichter, auf Fruchtsäfte oder generell süße Getränke zu verzichten. Aber ich verzichte nicht auf alles. Ich kann jetzt lockerer damit umgehen. Das ist das, was ich gelernt habe.
„Durch diese Kontrolle mit dem CGM habe ich viel mehr über mein Ernährungsverhalten gelernt. Ich habe auch ein besseres Gefühl dafür bekommen, wie ich auf meinen Blutzuckerspiegel reagieren kann.“
DA: Du hast erzählt, dass du Insulin benötigst. Nutzt Du Technologie, die man sieht, wie ein CGM-System zur kontinuierlichen Glukosemessung?
Ümit Sahin: Das ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich bin zwar ein bisschen „kranker“ geworden, aber ich fühle mich besser. Das ist das Irre. Ich habe ein CGM-System am Arm. Den sieht man natürlich, aber ich wurde bisher nicht darauf angesprochen. Aber wenn, ist das eben eine Situation, in der ich über den Diabetes reden muss. Ich habe dadurch so viel Kontrolle bekommen, das ist unglaublich. Es hilft mir sehr zu wissen, wie mein Blutzuckerspiegel und der Trend aussehen, ich kann viel besser reagieren, als wenn ich erst einmal stechen müsste. Das ist jetzt deutlich leichter geworden.
Wobei es immer noch so ist, dass mir mein Diabetologe eigentlich kein Insulin geben möchte. Das ist immer noch das Ziel der Therapie. Dementsprechend musste ich für das CGM-System kämpfen. Es geht ja gar nicht darum, dass ich Kosten verursachen will. Ich will einfach gut mit meinem Diabetes umgehen. Das ist die eigentliche Frage, die ich beantwortet haben will: Wie kann ich am besten mit meinem Diabetes leben, damit ich mich wohlfühle? Technologie hilft dabei auf jeden Fall. Es ist faszinierend. Es gibt ja auch diese schönen digitalen Pens, die dann speichern, wie viel und wann man gespritzt hat. Das wäre auch schön zu haben, aber das geht in meinem Fall zu weit, glaube ich.
DA: Ist es mit Typ-2-Diabetes schwieriger, diese Technologien zu bekommen?
Ümit Sahin: Ja, und ich sehe es auch als schwieriger an, noch mehr Unterstützung zu bekommen. So hilfreich das auch wäre. Ich spritze einmal ein Basalinsulin abends und zu zwei Mahlzeiten das Mahlzeiteninsulin. Es ist nicht kompliziert. Die Gefahr vom Unterzucker gibt es zwar bei mir, es passiert auch, aber nicht so extrem. Es ist nicht so, dass ich noch mehr Technologie bräuchte. Durch diese Kontrolle mit dem CGM habe ich viel mehr über mein Ernährungsverhalten gelernt. Ich habe auch ein besseres Gefühl dafür bekommen, wie ich auf meinen Blutzuckerspiegel reagieren kann. Es verunsichert und überfordert mich nicht mehr.
Ich esse unheimlich gerne, aber ich kann mich viel besser bremsen, wenn ich die Zahl vor mir sehe. Ich setze mich nicht mehr unter Druck und kann dadurch viel einfacher meinen Alltag gestalten bzw. anpassen. Mir war z. B. nicht bewusst, dass mein Blutzucker hochgeht, wenn ich körperlich anstrengende Arbeit leiste oder in einer stressigen Situation bin. Und auch, dass ich nicht gleich Insulin spritzen muss, sondern sich der Blutzuckerspiegel bei mir nach ein, zwei Stunden wieder selbst reguliert. Es ist unheimlich hilfreich, wenn man ein Diagramm vor sich hat, was kontinuierlich die Blutzuckerspiegel darstellt.
DA: Bei Deinem eher stressigen Alltag, gibt es etwas, das Dir besonders Freude macht oder Dich abschalten lässt, was Du als Ausgleich gern machst?
Ümit Sahin: Ich würde gerne mit vielen Hobbys auftreten, aber ich habe keine Zeit für Hobbies, das muss ich ehrlich sagen. Ich arbeite in Berlin, aber wohne im Umland. Meine Fahrtzeit mit dem Auto zur Arbeit ist ungefähr eine Stunde. Für mich ist dieser Weg, entweder morgens hin oder abends zurück, mein „Feng Shui”. Ich schalte während dieser Zeit ab, auch wenn Stau ist. Das ist für mich total beruhigend, darauf freue ich mich. Ich schalte außerdem ab, wenn ich ein gutes Buch lese. Ich habe einen E-Book-Reader, den habe ich immer dabei. Wenn ich mal zwischen den Terminen Zeit habe, lese ich ein Kapitel.
Es sind Kleinigkeiten. Ich habe auch Gärtnern für mich entdeckt. Ich habe einen kleinen Garten mit einer Freundin zusammen und dabei kann ich abschalten. Wenn ich in der Erde wühle, etwas aufbaue und in der Sonne bin. Diese Art körperliche Anstrengung ist mein Sport. Man sagt ja, beim Sport werden Glückshormone ausgeschüttet, das ist bei mir im Garten dann die anstrengende Arbeit. Das ist für mich ein Ausgleich.
Wenn ich mein Umfeld beobachte, wirken alle so glücklich und das ist das, was mich am Anfang so runtergezogen hat in der Community, wie erfolgreich die alle mit ihrem Diabetes umgehen können und wie glücklich sie alle sind. Deswegen meide ich z. B. Instagram. Wenn ich sehe, wie toll dort alle sind, zieht mich das runter. Früher noch mehr als jetzt.
DA: Heißt das, die Community hat dich insgesamt eher runtergezogen oder hattest du auch Momente, in denen du froh warst, dich mit anderen austauschen zu können, die in einer ähnlichen Situation sind? Wie empfindest du das jetzt?
Ümit Sahin: Gute Erfahrungen mit der Community hatte ich auch, vor allem bei realen Treffen. Es tut gut, offen mit jemandem reden zu können, auch wenn es Überwindung kostet. Das war auch ein Grund, warum ich so schnell zur Selbsthilfe gegangen bin.
Aber man muss echt unterscheiden zwischen der Typ-1-Community und der Typ-2-Community. Ich hatte häufiger mit Typ-1ern zu tun. Da kam anfangs das Gefühl auf, dass ich nicht richtig dazu gehöre, weil ich Typ-2-Diabetes habe. Ich habe eine gewisse Distanz gespürt und zum Teil konnte ich nicht mitreden, da ich eher eine Ernährungsberatung bekommen hatte als eine technische Einführung in eine Pumpe oder so. Ich bin begeistert davon, wie gut Typ-1er rechnen und Kohlenhydrate abschätzen können.
Am Anfang wollte ich unsichtbar sein. Mittlerweile ist es so, dass ich lieber auf die Menschen zugehe und sage: Hier bin ich und so bin ich. Früher hatte ich immer den Gedanken, ich muss mich anpassen, aber das muss ich gar nicht. Ich habe dieselbe Krankheit bzw. eine ähnliche.
„Meine Zukunft liegt in meiner Verantwortung und das kann mir niemand abnehmen. Es kann mir niemand sagen, was für mich funktioniert.“
DA: Hast du eine bestimmte Gruppe, mit der du dich austauschst?
Ümit Sahin: Eine Gruppe habe ich tatsächlich nicht. Es gibt einzelne Personen, die auch in der Community aktiv sind und Typ-2-Diabetes haben, mit denen ich mich austauschen kann. Die Typ-2-Community wird immer jünger, das ist einerseits erfreulich, andererseits bedenklich, weil Typ-2-Diabetes immer noch als Altersdiabetes gilt. Aber eine richtige Typ-2-Community sind wir noch nicht.
Es gibt Typ-2-Gruppen auf Facebook, aber die Themen sind noch zu verschwommen – geht es nur um Diabetes oder geht es um Adipositas? Meine eigene Erfahrung war in diesen Gruppen häufig, dass es viel um Ernährung geht, auch Bewegung, aber das sind keine diabetespezifischen Themen. Ich würde das überspitzt gesagt nicht als Typ-2-Diabetes-Community bezeichnen, sondern eher als Wie-nehme-ich-ab-Gruppe. Während ich bei der Typ-1-Community tatsächlich sehen konnte, wie das Berechnen von Kohlenhydrat-Einheiten oder BEs funktioniert und Ähnliches.
DA: Was wünschst Du Dir für die Zukunft in Bezug auf den Diabetes?
Ümit Sahin: Ich würde mir für mich im Idealfall natürlich eine Heilung wünschen. Aber zunächst wünsche ich mir, dass die Verantwortung für meine Gesundheit weiterhin bei mir liegt. Realistisch betrachtet wird es Höhen und Tiefen geben, aber ich wünsche mir, dass ich damit umgehen kann und nicht aufgebe. Außerdem will ich nicht abhängig von anderen sein. Ich habe in den letzten acht Jahren gelernt, dass ich am Ende allein dastehe. Das ist nicht negativ gemeint.
Meine Zukunft liegt in meiner Verantwortung und das kann mir niemand abnehmen. Es kann mir niemand sagen, was für mich funktioniert. Ich habe so viele Programme ausprobiert, so viele Bücher gelesen, versucht zu adaptieren. Das ist nur Unterstützung. Das Ziel zu erreichen, ist die eigene Verantwortung. Am meisten Angst habe ich davor, mein Ziel zu erreichen, aber es nicht halten zu können. Ich bekomme eine „Abnehmspritze“ und bin eher skeptisch. Realistisch gesehen ist das eine Art Starthilfe, aber es ändert meine Gewohnheiten nicht.
Deshalb möchte ich lieber mein Ziel in kleineren Schritten erreichen, auch wenn es vielleicht länger dauert, damit es nachhaltig ist. Ich wünsche mir außerdem technologische Unterstützung und dafür einen einfacheren Zugang, auch für zukünftige Technologien oder Smart-Pens.
DA: Habe ich aus deiner Sicht noch etwas Wichtiges vergessen?
Ümit Sahin: Für mich zusammengefasst ist das Leben mit Diabetes nicht einfach, aber es ist auch nicht unmöglich. Es ist wie eine Strecke, die man fährt, es gibt Kurven, es geht rauf, es geht runter, manchmal sogar zurück oder in eine Sackgasse.
DA: Vielen Dank, Ümit!
Interview: Janina Seiffert
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