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In der Kunst drückt sich die Persönlichkeit des Künstlers aus, zeigen sich sein Leben, seine Ängste und Hoffnungen. Was passiert, wenn ein Künstler Diabetes bekommt? Beeinflusst das seine Kunst? Hilft es, sich künstlerisch ausdrücken zu können? Shahid Alam aus Aachen und Regine Fürst aus Wiesbaden erzählen.
Sie ist sehr gleichmäßig und regelmäßig angelegt, diese Stadt: 81 quadratische Stadtviertel, angeordnet in einem großen Quadrat. Jedes Viertel gleich gestaltet, mit weißen und transparenten Türmen und vier Straßen, die auf einen schmalen, hohen Turm im Zentrum zulaufen. Es ist eine Stadt im Grünen, zwischen den Stadtvierteln laufen breite Straßen, in der Mitte schlägt leuchtend und rot das Herz der Stadt.
Filigran und faszinierend: Shahid Alam sammelt seine Diabetesutensilien und gestaltet daraus dreidimensionale Kunstwerke, die die Regelmäßigkeit in der Behandlung spielerisch aufgreifen.
Die Stadt ist klein, nur einen mal einen Meter groß. Wer näher herangeht, sieht, dass die Türme Penkanülen sind und die Straßen Teststreifen. Kunstvoll wurden daraus die „Stadtviertel“ komponiert und auf einer Platte angeordnet, fein schimmert unter dem Grün die Maserung des Holzes. Alle Nadeln, alle Teststreifen sind benutzt, an manchen ist noch das Blut von Shahid Alam zu sehen. Er ist der Architekt dieser künstlichen Stadt und hat damit seinen Diabetes zu einem Thema seiner Kunst gemacht.
Als er vor einigen Jahren Typ-2-Diabetes bekam, fing er an, die benutzten Kanülen und Teststreifen zu sammeln: „Als ich mir die erste Spritze gab, dachte ich, so eine wichtige Flüssigkeit. Was für eine großartige Erfindung der Menschheit. Und dann auch diese feine Kanüle, mit der man sich schmerzlos eine Spritze geben kann, und das hält den Mensch am Leben. Da kann man diese Kanüle doch nicht einfach so in den Korb schmeißen. Das tue ich auch niemals mit einer Schreibfeder, das tue ich nie mit einem Stück Papier, worauf meine Schrift kommt. Meine Frau wunderte sich: ,Was willst Du damit machen?‘ Aber ich weiß, dass ich aus allem etwas machen kann. Ich gestalte die Materie: Holz, Metall, Farbe, alles.“
Dass die Objekte aus Holz, Farbe und Diabetesmaterialien an eine streng geometrisch angelegte Stadt erinnern, ist kein Zufall: Shahid Alam hat sich mit den ersten menschlichen Siedlungen beschäftigt und entdeckt, dass das Quadrat dabei eine entscheidende Rolle spielt.
Was Stadtplanung und ein Leben mit Diabetes verbindet: Bei beiden geht es darum, dem Leben eine Ordnung zu geben, sich an Regeln zu halten. Shahid Alam: „Da wiederholt sich etwas, was im Leben eines Diabetikers von großer Bedeutung ist: Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit, Geduld. All diese Dinge sind da, damit ich mit meinem Diabetes lebe. Es ist ein sich wiederholender Prozess: sich immer wieder eine Spritze geben, Blut testen und so weiter und so weiter.“ Und: „Es gibt eine ganz klare Erkenntnis, dass ich nur mit der richtigen, konsequenten Behandlung so effizient arbeiten kann.“
Was empfinden andere Menschen mit Diabetes, wenn sie Shahid Alams Assemblagen aus Diabetesmaterialien sehen? Ein Aha-Erlebnis sei das für viele, erzählt der Künstler – weil es eben Werke sind, die eine unmittelbare Beziehung zum Diabetes haben. Auch sein Diabetologe hat eine Arbeit für seine Praxis bestellt.
Trotz der strengen Anordnung strahlen die Arbeiten auch Fröhlichkeit aus; Shahid Alam hat mit den Formen der Diabetesutensilien gespielt. Und das Herz im Zentrum durchbricht die Regelmäßigkeit. Warum ein Herz? „Das Herz ist das meistbetroffene Organ eines Diabetikers, hat aber auch eine andere, mystische Bedeutung: Wenn wir irgendwo im Körper einen Schmerz haben, wird das vom Herz mitempfunden, aber nicht umgekehrt. Das ist die Herrschaft des Herzens.“
Die Teststreifen, Hüllen und Kanülen zu Quadraten zusammenzusetzen, war eine Tüftelarbeit. Beim Aufbringen auf die Holzplatte hat sich Shahid Alam dann immer wieder an den Kanülen verletzt, deshalb hat er sich eine Spezialzange anfertigen lassen, mit der er die Materialien perfekt an die richtige Stelle setzen kann. Dabei legt er seine Hand auf einem Brett ab und setzt die Teile dann von oben an ihren Platz.
Dafür braucht man eine sehr ruhige Hand – die hat Shahid Alam, und auch einen in sich ruhenden Geist, der im gesamten Atelier zu spüren ist. Er ist ganz bei sich, wenn er von seiner Kunst und aus seinem Leben erzählt: „Ich bin ein Künstler, der aus der Ruhe heraus lebt. Und aus einer Einheit heraus lebt. Diese Ruhe und Einheit sind in jedem Werk von mir. Sie werden in meinen Arbeiten z. B. nie eine schreiende Farbe sehen. Und es ist wichtig, welche Farbe auf welche Weise aufgetragen wird: Das alles zeigt sehr viel Geduld, sehr viel Handwerk, sehr viel Arbeit. Ich bin kein Künstler, der schnell arbeitet.“
Die Diabeteskunst ist nur ein kleiner Teil von Shahid Alams künstlerischem Schaffen. Großen Raum nimmt seit einigen Jahren die Kalligraphie ein: Auf großen, fein geschliffenen und gemaserten Buchenholzplatten hat er in arabischer Schrift Suren aus dem Koran geschrieben und ausgestaltet. Mit seiner Arbeit in diesem Bereich will er eine Brücke zwischen den Religionen schlagen.
Auch Regine Fürst hat sich mit Hilfe von Kunst intensiv mit ihrem Diabetes auseinandergesetzt – und sie möchte auch andere Menschen dabei unterstützen, mit der Malerei zu lernen, die chronische Krankheit besser zu akzeptieren. In ihrem Atelier in einem Wiesbadener Hinterhof erzählt sie ihre Diabetesgeschichte: Den Typ-1-Diabetes bekam Regine Fürst kurz nach der Geburt ihres ersten Sohnes. Sie war auffallend müde und geschwächt – kein Wunder, dachte sie zuerst, schließlich hast du ein Baby zu versorgen, bekommst wenig Schlaf … Außerdem aber hatte sie abgenommen und litt ständig unter starkem Durst.
„Irgendwas stimmt mit dir nicht“, dachte sie. Eines Morgens sah sie zufällig im Fernsehen einen Arzt, der genau ihre Symptome schilderte. Sie fuhr in die Apotheke, kaufte ein Messgerät. Das konnte ihren hohen Wert schon gar nicht mehr anzeigen. Weiter ging es zur Hausärztin und noch am selben Tag zum Diabetologen.
Regine Fürst wurde medizinisch sofort gut versorgt, aber sie war von der Erkrankung völlig überrumpelt. Sie lernte trotzdem schnell, hatte gute Werte. „Das Verarbeiten von dieser Geschichte war natürlich ein ganz anderer Prozess, bis das sackt, bis man irgendwann sagen kann: Dieses Paket gehört zu mir. Das ist ein längerer Weg, und da gibt es keine Abkürzung. Ich glaube, da hat jeder seinen eigenen Weg zu gehen.“
Ihr ganz spezieller Weg war die Malerei. Denn Regine Fürst ist Diplom-Designerin, freie Künstlerin und kunsttherapeutische Gestaltungstrainerin. Im Ausdrucksmalen konnte sie ihre Gefühle herauslassen, musste nicht „schön“ malen oder ein Kunstwerk schaffen. Regine Fürst sagt dazu: „Alles, was man in Worte fassen kann, ist schon ein bisschen bewältigt, eben weil man es in Worte fassen kann. Die Malerei ist anders, sie ist eine ganz archaische menschliche Sprache. Und man kann mal den Teufel an die Wand malen und Dinge rauslassen, die man so nicht sagen würde.“
Gemalt wird bei der Ausdrucksmalerei in einem geschützten Raum, in dem „die Bilder kommen dürfen. Und wenn sie kommen, dann kann ich mit mir selbst in einen Dialog gehen – das ist so etwas wie ein reinigender Prozess. Ich habe dadurch meinen Frieden mit dem Diabetes gefunden.“
Auch in Regine Fürsts Atelier in Wiesbaden gibt es einen solchen geschützten Raum, in dem sie Kurse für Kinder und Erwachsene anbietet. Er wirkt wie eine Höhle, die Wände sind mit Holzplatten ausgekleidet, diese sind mit festem Papier bezogen. Auf dem Papier werden die Malblätter befestigt, in der Mitte steht ein Tisch mit 18 Farbschalen.
Bei der Ausdrucksmalerei werden die Papierblätter an den Wänden bemalt; die immer gleiche Anordnung der Farbschalen gibt Sicherheit. Dabei ist es nicht wichtig, ein „schönes“ Bild zu malen.
Regine Fürst gibt als Kursleiterin nur behutsam Impulse und Anregungen. Auch Gespräche entstehen während des Malens, aber niemand muss sein Bild erklären: „Es wäre auch absurd, wenn man erst alles aus sich herausfließen lässt und es dann auch noch in Worte kleiden muss.“ Die Ausdrucksbilder sollen auch nicht ausgestellt werden, „sie sind im geschützten Raum entstanden und für den geschützten Raum gedacht.“
Schon während ihres Studiums zur Diplom-Designerin hat sich Regine Fürst für Kunsttherapie interessiert. Später hat sie berufsbegleitend eine Ausbildung zur kunsttherapeutischen Gestaltungstrainerin gemacht und in dieser Zeit auch ihre eigenen intensiven Erfahrungen mit der Ausdrucksmalerei gemacht. Die guten Erfahrungen, „mit denen ich so meilenweit vorangekommen bin“, möchte sie gerne weitergeben und bietet deshalb Kurse für Kinder und auch für Erwachsene mit Diabetes an. Auch Geschwisterkinder haben schon teilgenommen. „Da bekomme ich dann auch mit, wie Diabetes das ganze Familiensystem beeinflusst“, sagt Regine Fürst.
Regine Fürst vor einem ihrer Gemälde. Findet sich darin auch der Diabetes wieder? Kann sein, denn: „In seinem Werk lässt sich der Künstler immer finden, mit allem, was zu ihm gehört.“
Spielt der Diabetes denn auch in ihrer Arbeit als Künstlerin eine Rolle? In ihren aktuellen Bildern ist der Diabetes kein Thema, aber: „Dass er keine Rolle mehr spielt, kann eigentlich nicht sein. Mich gibt es ja nicht mehr ohne Diabetes.“ Gern möchte sie ein Netzwerk knüpfen zwischen Künstlern, die Diabetes haben, und ein gemeinsames künstlerisches Projekt für die Öffentlichkeit gestalten: „Kunst hat auch zu Diabetes etwas zu sagen, kann Grenzen weiten und Brücken bauen.“
Zwei Menschen, die Diabetes haben. Zwei Künstler, die sich auf ihre Weise mit dem Diabetes auseinandergesetzt haben. Shahid Alam geht dabei ruhig und bedächtig vor und greift den Aspekt der Regelmäßigkeit in der Diabetesbehandlung auf. Regine Fürst ist es gelungen, die Erkrankung anzunehmen, indem sie ihren malerischen Ausdruck spontan hat fließen lassen, ohne ihn vorher zu analysieren. Beide haben so einen ganz eigenen künstlerischen Weg gefunden, den Diabetes anzunehmen.
Autorin:
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Erschienen in: Diabetes-Journal, 2012; 61 (6) Seite 50-53
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