Pause vom Diabetes: Geht das?

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Pause vom Diabetes: Geht das?

Einmal nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – nichts berechnen und spüren müssen in Sachen Diabetes: Wäre das nicht schön? Es wäre! Wie kann man sich mentale Freiräume schaffen, wenn es schon nicht möglich ist, den Diabetes einfach mal für einen Tag, für ein Wochenende, für einen Urlaub abzulegen?

Es gibt einen Wunsch, den viele Menschen mit Diabetes wohl schon hatten: endlich einmal Urlaub haben vom Diabetes. Endlich einmal nicht nachdenken über Blutzuckerwerte, Kohlenhydrate, Insulinmengen, Medikamente, Infusionssets, Sensorkalibrierungen, Bewegungseinheiten, Arztbesuche, Füße, Augen, Nieren … Endlich einmal: einfach nur leben. Den Diabetes in eine Kiste packen und ihn erst morgen wieder „mitdenken“ – oder nächsten Monat.

Wer wirklich eine Zeitlang so tut, als könne dieser Wunsch Wahrheit werden, wird schnell von der Realität eingeholt: Eine chronische Erkrankung lässt sich nicht ablegen. Im Gegenteil: Sie bringt eine teils sehr aufwendige Behandlung mit sich, unabhängig davon, ob diese aus einer Insulintherapie, Medikamenteneinnahme oder einer Änderung des Lebensstils besteht.

In alltäglichen Situationen wie dem Weg zur Arbeit (der vielleicht mit dem Fahrrad zurückgelegt wird?), aber auch in besonderen Lebensphasen (Schwangerschaft) ist teils eine große psychische Anpassungsleistung notwendig, um zu akzeptieren, dass der Diabetes auch hier „an Bord“ ist, dass er berücksichtigt werden will. Wird der Diabetes ignoriert, kommt er häufig zu dem Betroffenen wie ein Boomerang zurück und schlägt zum Beispiel mit entgleisten Blutzuckerwerten oder Folgeerkrankungen ein.

Wer Diabetes hat, fühlt sich belastet – immer wieder mal

Viele Studien konnten zeigen, dass Menschen mit Diabetes sich im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung belastet fühlen. So sind es beim Typ-2-Diabetes etwa 36 Prozent der Betroffenen und beim Typ-1-Diabetes je nach Studie zwischen 20 und 42 Prozent der Personen, die eine Belastung durch den Diabetes angeben. Bei bis zu 15 Prozent der Menschen mit Typ-1-Diabetes handelt es sich in diesem Zusammenhang sogar um eine depressive Symptomatik.

Fallbeispiel Kathrin B. (31): „Ich will keine hohen Blutzuckerwerte mehr sehen müssen.“


„Zum Zeitpunkt der Diagnose meines Typ 1-Diabetes war ich 21 Jahre alt. Ich war eine ehrgeizige Studentin, und genau so habe ich auch meinen Diabetes behandelt. Das hat einige Jahre ziemlich gut funktioniert, bis mit Mitte Zwanzig eine Phase begann, in der ich – wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem länger andauernden Infekt – fast durchgehend höhere Blutzuckerwerte hatte. Gleichzeitig beendete ich gerade mein Studium, musste mich beruflich orientieren und hatte ziemliche Geldsorgen. Alles kam zusammen, und ich wusste überhaupt nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.

Mit meinem Diabetes kam ich nach einer Weile auf keinen grünen Zweig mehr. Wenn meine Werte schlecht waren, konnte ich keine Freude mehr an irgendetwas empfinden, was dazu führte, dass ich immer weniger unternahm. Ich hielt mich für unfähig und dachte, das kriegst du sowieso nie wieder hin. Je frustrierter ich wurde, desto weniger wollte ich mich mit dem Diabetes auseinandersetzen. Das hatte zur Folge, dass die Werte schlechter wurden.

Irgendwann gab es nur noch einen Gedanken: ‚Ich will keine hohen Blutzuckerwerte mehr sehen müssen‘, sodass ich aufhörte zu messen. Anfangs habe ich immerhin noch mein Basalinsulin gespritzt, später immer seltener. Mir war klar, dass das ein Spiel mit dem Feuer war, aber vor allem fühlte ich mich so erleichtert, nicht mehr ständig mit meiner eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert zu sein.

Was dann kam, war unausweichlich: Keto­azidose, diabetisches Koma, Intensivstation. Als ich aus dem Koma aufwachte, musste ich meinem damaligen Freund – meinem jetzigen Mann – versprechen, mich von nun an wieder um meinen Diabetes zu kümmern, wenn nicht mir selbst, dann wenigstens ihm und unserer Zukunft zuliebe. Aber es dauerte dann nochmal ein paar Jahre, bis ich mich zu einer Psychotherapie entscheiden konnte.“

Dabei führt eine hohe diabetesbezogene Belastung häufig – wie im Fall von Kathrin B. (siehe Kasten oben) – zu einem Unterlassen von Therapieschritten (ein Verhalten, das von Mitgliedern des Diabetesteams oft als „mangelnde Adhärenz“ bezeichnet wird), um eine Pause vom Diabetes zu bekommen. Kurzfristig wird in der Folge auch genau das erreicht: Statt Frustration, Hilflosigkeit, Selbstzweifeln oder Angst stellt sich ein Gefühl der Erleichterung ein. Langfristig drohen im schlimmsten Fall jedoch schwere körperliche Komplikationen sowie auf der psychischen Ebene Versagensgefühle und Zukunftsängste.

Wichtig: Überforderung und Belastung anerkennen!

In diesem Fall ist ein erster Schritt in die richtige Richtung schon getan, wenn emotionale Zustände wie Überforderung oder Belastung zunächst überhaupt wahrgenommen und anerkannt werden. Das Management eines Diabetes ist immer ein Zusatzaufwand, der abhängig von den aktuellen Lebensumständen mehr oder weniger körperliche und psychische Ressourcen benötigt.

Fallbeispiel Matthias L. (39): „Freizeit gestalten mit Diabetes ist aufwendig, und ich mache es trotzdem.“


„Ich habe einen Typ-1-Diabetes seit meiner Kindheit. Meine Eltern haben mich schon früh immer wieder ermutigt, Dinge auszuprobieren und meinen Diabetes dabei selbstständig zu managen. Zum Beispiel durfte ich mit 12 nach viel Hin und Her ins Zeltlager mitfahren, das war damals alles andere als selbstverständlich. Ich bin ihnen noch heute dankbar dafür, denn das hat mir einige Erfolgserlebnisse beschert und mir Selbstvertrauen gegeben.

In meiner Jugend hat sich für mich dann immer mehr herauskristallisiert, dass Sport mir wirklich wichtig im Leben ist. Bis heute mache ich mehrtägige Mountainbike-Touren mit meinen Freunden, spiele Fußball im Verein oder gehe Kanufahren mit der ganzen Familie. Der Diabetes ist natürlich eine Sache, die ich dabei immer bedenken muss, aber er ist schon lange kein Hinderungsgrund mehr. Wenn die Werte vor dem Sport nicht passen, dann überlege ich, wie ich sie in den Zielbereich bekomme. Meistens klappt das dank CGM und Pumpe ja einigermaßen.

Sicher, es läuft nicht immer reibungslos. Einmal musste die gesamte Mountainbike-Truppe eine Dreiviertelstunde lang mit mir wegen einer ‚Hypo‘ im Wald sitzen. Da fragt man sich dann schon, ob man zu viel gewollt hat. Und im nächsten Moment denkt man: Sowas bringt der Diabetes halt mit sich. Wäre doch irgendwie naiv zu glauben, dass man nie was von ihm bemerkt. Freizeit gestalten mit Diabetes ist aufwendig, und ich mache es trotzdem. Bei der nächsten Tour läuft’s wieder besser.“

Daran können sich verschiedene Überlegungen anschließen: Welche Möglichkeiten gibt es gerade, um den Diabetes wieder gut in das eigene Leben integrieren zu können? Wenn der Diabetes sich schon nicht ablegen lässt – gibt es dann vielleicht andere Bereiche oder Verpflichtungen, von denen ich zumindest über eine gewisse Zeit hinweg Energie abziehen könnte? Welche Werte und Ziele im Leben machen es lohnenswert, den Diabetes immer im Blick zu haben – wie im Beispiel von Matthias L. (siehe Kasten oben), dem ein sportlich aktives Leben so wichtig ist, dass er Blutzuckerwerte anstrebt, die ihm dies ermöglichen?

Wenn der Diabetes immer mehr Macht über das Leben bekommt …

Kathrin B. konnte in ihrer Psychotherapie herausarbeiten, dass ihre Probleme mit dem Dia­betes begonnen hatten, als gesundheitlicher, beruflicher und finanzieller Stress gleichzeitig auftraten und sie keine Kapazitäten mehr hatte, um ihr Diabetesmanagement daran anzupassen:

„Rückblickend ist mir klar geworden, dass ich in dieser Phase angefangen habe, gegen meinen Diabetes zu kämpfen, wodurch er aber immer mehr Macht über mein Leben bekam und mich meine Ziele aus den Augen verlieren ließ. In der Therapie habe ich gelernt, mir den Diabetes eher wie einen ständigen Begleiter vorzustellen. Er lässt sich nicht abschütteln, aber ist auch zufrieden, wenn ich ihm mal nicht die volle Aufmerksamkeit schenke. Hauptsache, wir laufen immer in dieselbe Richtung.“

Schwerpunkt „Diabetes – immer dabei“

Autorin:

Dipl.-Psych. Susanne Baulig
Psychologische Psychotherapeutin,
Leitung Schwerpunkt Psychodiabetologie,
Poliklinischen Institutsambulanz für
Psychotherapie,
Universität Mainz,
E-Mail: subaulig@uni-mainz.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (9) Seite 20-22

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