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Konsequent zu erziehen, meint heute: verlässlich zu handeln, damit ein Kind angstfrei lernen und sich entwickeln kann. Prof. Karin Lange erläutert die Grundlagen des Lernens und die Fertigkeiten, über die ein Kind mit Diabetes verfügen sollte.
Mit dem Wort Konsequenz verbinden manche Eltern zunächst nur den Gedanken, ihrem Kind etwas streng zu verbieten oder seine Freiheit einzuschränken – also nichts, was wirklich Freu(n)de macht. Vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse zur Hirnentwicklung und zur Kinderpsychologie wird das Gegenteil deutlich: Kinder benötigen eine konsequente, d. h. liebevolle, verlässliche Betreuung und Anleitung, die klaren, verständlichen Regeln folgt.
Diese vermittelt Kindern ein Gefühl der Sicherheit, das ihnen ermöglicht, ohne Angst zu lernen und sich zu einer stabilen Persönlichkeit zu entwickeln, die mit anderen Menschen gut zurechtkommen kann, soziale Kompetenz zeigt und Stress und Frustrationen gewachsen ist.
In keiner Phase des Lebens sind wir Menschen interessierter und offener für neue Erfahrungen als in der frühen Kindheit. Bereits Neugeborene versuchen, die Eindrücke, die ihnen ihre Umwelt vermittelt, einzuordnen und Signale der Mutter zu erkennen. Sie reagieren auf Geräusche und bereits nach wenigen Wochen kann man feststellen, wie sehr sich ein Kind freut, wenn es etwas herausgefunden hat, z. B. einer Rassel ein Geräusch zu entlocken. Man geht heute davon aus, dass der Wunsch, die Welt zu erkunden und zu lernen, in unserem Erbgut als Programm verankert ist.
Die Abbildung 1 zur Hirnentwicklung zeigt, dass erste wichtige Entwicklungsschritte bereits vor der Geburt stattfinden, insgesamt ist das Gehirn Neugeborener aber noch relativ unfertig. Zwar funktioniert schon die Atmung, der Herzschlag wird gesteuert, aber die allermeisten Fertigkeiten, die für das weitere Leben erforderlich sind, muss ein Kind erst Schritt für Schritt erlernen. Wir Erwachsenen haben die Aufgabe, ihm dabei zu helfen, Orientierung zu geben und es vor Gefahren zu schützen. Konsequentes Verhalten, d. h. vorhersehbare Reaktionen, wenn ein Kind Kontakt mit seinen Eltern aufnimmt, etwas möchte oder erprobt, hilft ihm, sich in der noch fremden Welt zu orientieren, Wissen aufzubauen und sich zunehmend sicher zu fühlen.
Dieses neu erworbene Wissen über die Welt wird bei uns Menschen in der Großhirnrinde in Form von komplexen Beziehungen zwischen unzähligen Nervenzellen gespeichert. Innerhalb des ersten Lebensjahres verdreifacht sich das Volumen dieses Hirnareals, und auch danach kommt es bis ins frühe Erwachsenenalter zu Erweiterungen und Veränderungen. Es werden immer wieder neue Nervenzellen gebildet, vor allem aber unübersehbar viele, immer dichtere Verbindungen zwischen den Zellen aufgebaut. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen, die im Alltag immer wieder genutzt werden, gewinnen an Stärke und stabilisieren sich. Dieser Effekt zeigt sich z. B. nach wiederholtem Üben von Bewegungsabläufen oder Sprache.
Dagegen werden Verbindungen, die nicht genutzt werden, mit der Zeit wieder abgebaut. Fertigkeiten, die ein Kind einmal in den ersten Lebensjahren erworben hat, z. B. eine zweite Sprache, verschwinden wieder, wenn sie nicht bis ins Erwachsenenalter beibehalten und geübt werden. Der US-amerikanische Hirnforscher Jay Giedd formulierte dazu: “Use it, or lose it” (Gebrauche deine Fähigkeiten oder du verlierst sie wieder.).
Die Sprachentwicklung ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie schnell und effektiv Kleinkinder jede beliebige Sprache als “Muttersprache” innerhalb von wenigen Jahren erlernen können. Später, jenseits der Pubertät, wird dies trotz größter Mühe kaum noch möglich sein. Eltern haben in dieser Phase der hohen Plastizität des Gehirns ihres Kindes die Aufgabe, richtige Inhalte und Fertigkeiten auszuwählen, die es ihrem Kind lebenslang ermöglichen, in unserer Welt gut zurechtzukommen. Dazu zählen die Förderung der Sprache, der körperlichen Beweglichkeit ebenso wie der Freude am Entdecken und dem freundlichen Umgang mit anderen Menschen.
Die Lust am Entdecken begründete der bekannte Erkenntnistheoretiker Jean Piaget bereits Mitte des letzten Jahrhunderts mit dem Prinzip der sogenannten Äquilibration, d. h. dem angeborenen Streben nach einem Gleichgewicht zwischen dem gespeicherten Wissen über die Welt und den Erfahrungen, die gerade mit der Umwelt gemacht werden. Um sich gut in der Welt orientieren und sicher fühlen zu können, sollten die Verschaltungsmuster der unzähligen Nervenzellen im Gehirn so sein, dass aktuelle Erlebnisse immer besser und schneller verstanden werden können.
Wenn ein Kind in einer neuen, unbekannten Situation nach Erklärungen oder Lösungen sucht, greift es zunächst auf seine Vorkenntnisse zurück, d. h. die vorhandenen Verschaltungen der Nervenzellen in seinem Gehirn. Reichen diese nicht aus, sucht es nach Alternativen. Sind diese erfolgreich, lernt sie das Kind sehr schnell und erweitert damit die Verschaltung seiner Nervenzellen. Während der Lösungssuche ist das Gehirn in einem Zustand der Unruhe und Spannung. Dieser löst sich auf, wenn eine passende Antwort oder Aktivität gefunden wird.
Die Erfahrung von Erfolg und damit auch die “Entspannung” im Gehirn wirkt über die Freisetzung von Botenstoffen in anderen Hirn-arealen als intensive positive Belohnung. Das glückliche Strahlen eines Kleinkindes, das es nach vielen Mühen endlich geschafft hat, sich selbst aufzurichten, zeigt die Intensität, mit der das menschliche Belohnungssystem uns alle zu neuen Erfahrungen antreibt.
Unter den heutigen modernen Dia-
betestherapien kommt es trotz aller technischen Fortschritte immer noch darauf an, dass Betroffene ihre Therapie bewusst überwachen und steuern, Risiken einschätzen und mit Frustrationen durch schwankende Werte gelassen umgehen können. Die dafür erforderlichen geistigen Fähigkeiten – man nennt sie auch strategische und Problemlösekompetenzen, kognitive Flexibilität, Impulskontrolle und Frustrationstoleranz – sind in unserer heutigen komplizierten und sich schnell ändernden Gesellschaft für alle Menschen unverzichtbar. Kinder mit Diabetes sind aber besonders darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie unterstützen, diese Fertigkeiten und damit die entsprechenden Hirnareale als Grundlage für ein erfolgreiches Leben mit der Stoffwechselstörung zu entwickeln.
Diese als exekutive Hirnfunktionen beschriebenen Fertigkeiten werden einem Areal der Großhirnrinde zugeordnet, das im vorderen Stirnbereich liegt, dem so genannten präfrontalen Kortex. Hier werden einmal erworbene und gespeicherte Kenntnisse zusammengetragen, verarbeitet, Risiken abgewogen und damit letztlich das Verhalten gesteuert, z. B. ob ein Insulinbolus abgegeben oder vergessen wird, Süßigkeiten unbedacht genascht oder Blutzuckerkontrollen sorgfältig durchgeführt werden. Im Vorschulalter übernehmen die Eltern noch diese Aufgaben für ihre Kinder mit Diabetes. Sobald diese aber das Elternhaus auch nur für wenige Stunden verlassen, sind die exekutiven Funktionen bereits unverzichtbar.
Die aktuelle Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren zeigt, dass sich die Region des präfrontalen Kortex am langsamsten entwickelt und besonders stark durch Erfahrungen, d. h. durch Lernen, geprägt wird. Damit kommt der Erziehung und den Einflüssen der Umwelt beim Aufbau dieses Hirn-areals und damit der Persönlichkeit eines Kindes eine besondere Bedeutung zu.
Kinder brauchen Konsequenz – also eine liebevolle, verlässliche Anleitung, die klaren, verständlichen Regeln folgt. So können sie ohne Angst lernen; Babys und Kleinkinder können ihrer angeborenen Entdeckungslust folgen. Vor allem in den ersten Lebensjahren entwickelt sich das Gehirn schnell; Eltern sollten ihrem Kind in dieser Zeit Orientierung geben. Kinder mit Diabetes sind besonders darauf angewiesen, dass ihre Eltern es bei der Entwicklung von Problemlösekompetenzen, kognitiver Flexibilität, Impulskontrolle und Frustrationstoleranz unterstützen.
Mehr über konsequente Erziehung erfahren Sie in Ausgabe 4/2015 des Diabetes-Eltern-Journals, die im Dezember erscheint.
Prof. Dr. Karin Lange (Dipl.-Psych.)
Leiterin Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de
Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2015; 8 (3) Seite 12-14
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