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Es ist inzwischen schon vier Jahre her, dass mein Mann Christoph und ich beim „Dinner in the Dark“ in der Hamburger Speicherstadt im Stockdunkeln ein 3-Gänge-Menü essen wollten. Wir hatten von ein paar Freunden zu unserer Hochzeit einen Gutschein für dieses Event geschenkt bekommen und freuten uns darauf, in absoluter Dunkelheit von blinden Kellnern ein Überraschungsmenü serviert zu bekommen.
Ich war neugierig, ob ich im Dunkeln Messer und Gabel finden würde, ohne dabei mein Glas umzustoßen. Und ich fragte mich, ob ich die verschiedenen Bestandteile des Essens identifizieren könnte, ganz ohne sie zu sehen. Genau diese Idee steckt auch hinter dem „Dinner in the Dark“ – ebenso wie hinter „Dialog im Dunkeln“. Der Gast soll ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, ganz ohne visuelle Sinneseindrücke zu leben bzw. zu essen.
Unsere Plätze waren längst reserviert, als mir ein paar Tage vor dem Termin der Gedanke kam, dass ich im Dunkeln und bei einem unbekannten Essen ja gar nicht abschätzen kann, wie viele Kohlenhydrate in dem Überraschungsmenü enthalten sind. Das machte mich nach damals gerade einmal zwei Jahren Diabeteskarriere ziemlich nervös.
Also versuchte ich, telefonisch herauszubekommen, wie viele Kohlenhydrate das Menü enthält, das uns serviert würde. Denn dann hätte ich vorher, so lange wir uns noch im Hellen aufhalten, schon mal mein Insulin spritzen können. Ich wollte mich – ebenso wie alle anderen Gäste – unbedingt überraschen lassen, eben weil ich gern wissen wollte, ob man Speisen tatsächlich erkennt, wenn man nicht weiß, was da vor einem liegt, weil man nicht sehen kann. Der Mitarbeiter der Telefonzentrale verband mich weiter zu einem netten Menschen, der mir zwar keine Antwort auf meine Frage geben konnte, aber versprach, mit dem Koch zu sprechen.
Als er mich eine Weile später zurückrief, sagte er: „Der Caterer wusste es nicht so genau, hat nur eine Zahl gesagt, nämlich 1100. Er wusste aber nicht, ob das Kilokalorien oder Broteinheiten oder so sind. Hilft Ihnen das weiter?“ Ähh, nein, das half mir natürlich überhaupt nicht weiter. Der Mitarbeiter der Telefonzentrale bot mir an, dass er mir auch das Menü verraten könne, damit ich im Vorfeld selbst schätzen könnte. Doch genau das ist ja nicht Sinn der ganzen Aktion. Also vereinbarten wir, dass er weiter recherchieren und mir bis zum Tag unseres Essens – zwei Tage später – eine neue Antwort geben würde.
Nachdem die Leute bei „Dinner in the Dark“ dann zwei Tage lang Zeit hatten, herauszufinden, wie viele Kohlenhydrate in dem Menü stecken, bekam ich einen Rückruf, in dem man mir wieder nur mitteilte: „Das Menü hat 1100 ähh… vermutlich Kalorien.“ Gefolgt von einer E-Mail, in der es hieß: „Da mir außer der Mengenangaben von 1100 Kilokalorien je Menü kein weiterer Wert zur Verfügung steht, gehe ich von max. 268,29 g Kohlenhydraten aus (1 g Kohlenhydrate liefert 4,1 kcal oder 17,1 kJ). Ich hoffe, die Information hilft Ihnen weiter.“
Nach diesem Armutszeugnis – lernen Köche denn in ihrer Ausbildung nicht, woraus Nahrung besteht, und können bei Bedarf auch mal Nährwerte ausrechnen? – war ich dann wirklich sauer.
Ich mailte zurück: „Vielen Dank für Ihre Antwort, mit der ich leider überhaupt nichts anfangen kann. In keiner Speise auf diesem Erdball stammen sämtliche Kalorien ausschließlich aus Kohlenhydraten (Zucker und stärkehaltige Nahrungsmittel wie Kartoffeln, Nudeln, Reis, Getreide). Auch Fett und Eiweiß (Fleisch, Milchprodukte, Hülsenfrüchte etc.) sind wichtige Energielieferanten. Dass in einer Mahlzeit sämtliche Kalorien aus Kohlenhydraten stammen, ist völlig ausgeschlossen. Wenn ich mir die für 268 g Kohlenhydrate erforderliche Insulinmenge vor dem Essen spritzen würde, wie insulinpflichtige Diabetiker es nun einmal tun müssen, dann könnten Sie gleich einen Notarztwagen bestellen, der mich im Verlauf des Abends wegen lebensgefährlicher Unterzuckerung in die nächste Klinik fährt.
Ich bin ziemlich verwundert, dass Sie auch nach zwei Tagen Recherche keine verwertbare Antwort auf eine sehr simple Frage liefern können. Jeder Koch muss in der Lage sein, die Frage nach einem zumindest ungefähren Kohlenhydratanteil in den von ihm zubereiteten Mahlzeiten zu beantworten, denn er entscheidet ja vermutlich nicht erst heute Nachmittag, welche Nahrungsmittel er für das Dinner heute Abend einsetzen wird. Zumal in einer Einrichtung wie ,Dialog im Dunkeln‛, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Öffentlichkeit über die Lebenswirklichkeit von Blinden zu informieren. Es ist ja kein Geheimnis, dass ein Großteil der Erblindungen auf Diabetes zurückzuführen ist. Es wird auch sicher häufiger mal vorkommen, dass ein blinder Diabetiker mit Freunden oder Verwandten zum „Dinner in the Dark“ kommt, um sie für einen Abend mit seiner Lebenswirklichkeit als Blinder vertraut zu machen.
Bitte geben Sie mir im Lauf des Nachmittags noch eine verlässliche Antwort, denn ich habe kein Interesse daran, für ein Dinner meine Gesundheit zu riskieren. Sollte es Ihnen nicht möglich sein, diese einfache Frage zu beantworten, gehe ich davon aus, dass wir unsere Buchung auf einen Zeitpunkt verschieben können, an dem Sie die Kohlenhydratmengen in Erfahrung gebracht haben. Danke für kurze Rückmeldung.“
Daraufhin rief mich der Mitarbeiter der Zentrale erneut an. Er habe beim Caterer alle Leute aufgescheucht, aber niemand habe ihm sagen können, wie viele Kohlenhydrate das Essen hat. Und dass er es natürlich verstehen könne, wenn ich das jetzt nicht riskieren möchte. Aber mein Mann könnte ja auch mit jemand anderem hingehen statt mit mir.
Ich erklärte ihm, dass wir den Gutschein zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten und daher auch gern zusammen hingehen würden. Er antwortete mir, er werde das so an seine Clearing-Stelle weiterleiten, damit die darüber entscheiden, ob unser Gutschein auch zu einem späteren Zeitpunkt noch gültig ist. Es war das erste Mal, dass ich mich wegen meines Diabetes diskriminiert fühlte.
Später irgendwann nahm noch einmal jemand von „Dialog im Dunkeln“ Kontakt mit mir auf, vielleicht gehörte er ja zu dieser ominösen Clearing-Stelle. Er erklärte mir, er habe auch Typ-1-Diabetes und sei genau deshalb erblindet. Er war schockiert, wie man mit meiner Anfrage umgegangen war. Denn letztlich hatte man mir das Gefühl vermittelt, mit meiner persönlichen Einschränkung namens Diabetes dort nicht erwünscht zu sein. „Barrierefrei“ sollte schließlich heißen, dass es für jede Sorte Einschränkung keine Hindernisse gibt, die Betroffene von einer Teilnahme ausschließen. Und wo sollte man das erwarten dürfen, wenn nicht in einem Vorzeige-Inklusionsprojekt wie „Dialog im Dunkeln“ bzw. seinem Ableger „Dinner in the Dark“?
Wir unterhielten uns eine ganze Weile über das Leben mit Diabetes und er erzählte mir einiges darüber, wie es sich mit Diabetes lebt, wenn man zu allem Überfluss auch nicht mehr sehen kann. Er zeigte Verständnis, dass mir erst einmal die Lust auf einen Besuch im „Dinner in the Dark“ vergangen war. Doch mein Gutschein sei weiterhin gültig, und er versprach, dass ich ihn jederzeit anrufen könne, wenn ich meine Meinung ändern würde. Dann würde er höchstpersönlich herausfinden, wie viele Kohlenhydrate in dem Menü enthalten sind. Das klang alles wirklich nett, und diesem Co-Diabetiker hätte ich auch zugetraut, dass er meine Anfrage korrekt beantworten kann. Doch irgendwie hatten mein Mann und ich das Interesse verloren. Unseren Gutschein haben wir bis heute nicht eingelöst. Eigentlich schade.
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