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CGM-Systeme, die den Zucker kontinuierlich messen, sind seit 2016 Kassenleistung. Jedoch ist es noch immer nicht einfach, die Systeme auf Kassenrezept zu bekommen. Ein Urteil, das Autor Oliver Ebert nach langem Rechtsstreit für einen Patienten erkämpfen konnte, bringt zusätzliche Möglichkeiten.
Seit einigen Jahren gibt es Systeme, die kontinuierlich den Zuckergehalt in der Gewebsflüssigkeit messen und die blutige Selbstmessung im Finger weitgehend ersetzen können (“CGM”, englisch: continuous glucose monitoring, kontinuierliche Glukoseüberwachung). Hierzu wird ein Sensor unter die Haut geführt, der in regelmäßigen Abständen den Glukosegehalt misst.
Die Messungen werden drahtlos an ein Empfangsgerät übermittelt und dort angezeigt. Trendpfeile zeigen, in welche Richtung sich der Glukosespiegel gerade entwickelt, so dass man herannahende Unterzuckerungen bzw. drohende Überzuckerungen leichter erkennen kann. Pro Tag werden viele Messwerte gewonnen; diese können vom Arzt und vom Patienten elektronisch ausgewertet werden und eröffnen dank der Datenmenge deutlich verbesserte Therapiemöglichkeiten.
Zwei unterschiedliche Produktvarianten sind zugelassen bzw. erhältlich:
Bei rtCGM-Systemen werden die Messwerte automatisch an ein Empfangsgerät bzw. Smartphone gesendet und dort angezeigt. Zusätzlich können die Systeme akustisch bzw. durch Vibration alarmieren, falls der Wert zu niedrig bzw. zu hoch ist. Die Grenzwerte können dabei individuell festgelegt bzw. eingestellt werden. Aufgrund der Alarmfunktion ist rtCGM vor allem für Patienten geeignet, die Unterzuckerungen (Hypoglykämien) nicht bzw. nicht mehr rechtzeitig wahrnehmen können bzw. unter nächtlichen Hypoglykämien leiden.
Daneben gibt es CGM-Systeme, die keine direkte Funkverbindung zu einem Empfangsgerät haben:
… diese werden oft mit dem Marketingbegriff “FGM” (“Flash Glucose Monitoring”) oder als iscCGM (“intermittent scan glucose monitoring”) bezeichnet. Der Patient muss hier die Messwerte selbst abrufen, indem er das Lesegerät bzw. ein geeignetes Smartphone kontaktlos über den Sensor hält (“scannt”). Es werden dann alle Messwerte seit dem letzten Scan übertragen und die jeweils aktuellste Messung angezeigt. Im Gegensatz zu rtCGM kann bei diesen Systemen also keine automatische Alarmierung erfolgen, dafür sind die Gesamtkosten im Vergleich erheblich günstiger.
Blutzuckermessgeräte sowie die benötigten Teststreifen sind bei insulinpflichtigen Patienten verordnungsfähig zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen – in medizinisch notwendigem Umfang und ohne Mengenobergrenze. Bei CGM war es bislang aber schwieriger: Denn nach einem Urteil des Bundessozialgerichts unterscheiden sich CGM “im Hinblick auf die diagnostische Wirkungsweise sowie mögliche Risiken und Aspekte der Wirtschaftlichkeit erheblich von der herkömmlichen Blutzuckermessung” und stellten daher “eine ‚neue‘, bisher nicht anerkannte Untersuchungsmethode” dar.
Solange der hierfür zuständige Gemeinsame Bundesausschuss hierzu keine positive Empfehlung abgegeben hatte, bestand “daher kein Anspruch auf Versorgung mit den Hilfsmitteln, die für die kontinuierliche Blutzuckerbestimmung erforderlich sind” (Bundessozialgericht, AZ: B 3 KR 5/14 R, Urteil vom 08.07.2015).
Zwischenzeitlich hat der G-BA bestätigt, dass mit Hilfe von rtCGM-Systemen die Blutglukoseselbstmessungen verringert und die Stoffwechsellage langfristig verbessert werden können, ohne dass dabei das Risiko schwerer Unterzuckerungen in Kauf genommen werden muss. Dies gelte insbesondere dann, wenn die festgelegten individuellen Therapieziele zur Stoffwechseleinstellung ohne die Nutzung der rtCGM nicht erreicht werden können. Solche Systeme dürfen daher seit Ende 2016 offiziell von den Krankenkassen übernommen werden.
Eine Verordnung auf Kassenrezept kommt laut Vorgaben des G-BA aber nur in Betracht, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
Es sollen also nur solche Patienten ein rtCGM bekommen können, bei denen die Therapieziele nicht mit herkömmlichen Möglichkeiten erreicht werden. Auch muss der Patient gut geschult sein und mit dem CGM sicher umgehen können. Der Komfortgewinn allein bzw. die Vermeidung des “Piksens” reichen daher nicht aus, um die Notwendigkeit für ein CGM zu begründen. Nicht in Frage kommen soll ein CGM auch für Patienten, die kein Insulin spritzen.
Die vom G-BA aufgestellten Voraussetzungen sind recht eng, lassen aber Interpretationsspielraum. Dies führt dazu, dass es ausgerechnet in den Fällen oft Schwierigkeiten gibt, bei denen ein CGM besonders dringend notwendig ist: nämlich wenn der Patient keine Unterzuckerungen mehr wahrnimmt und eine Alarmierungsfunktion benötigt. Leider stellen sich die Kassen hier oft auf den Standpunkt, dass ein solcher Einsatzzweck nicht von den Vorgaben des G-BA umfasst sei, denn hierdurch würde ja kein Therapieziel erreicht.
Das Sozialgericht Nürnberg hat nun in einem aktuellen Urteil und unmissverständlich klargestellt, dass ein CGM auch und gerade wegen der Alarmfunktion erforderlich sein kann:
“Der Einwand der Beklagten, dass nach dem jüngsten Beschluss des G-BA die ärztliche Therapieentscheidung bzw. deren Therapieziele und ein diesbezüglicher Nutzen des rtCGM Grundlage für eine Kostenübernahme durch die GKV seien und der alleinige Wunsch nach Befriedigung des Bedürfnisses nach einem Sicherheitsgefühl mittels Alarmfunktion eines Gerätes dagegen nicht ausreichten, verkennt grundlegend die gesundheitliche Situation, in der sich der Kläger befindet, und die Gefahren, die aufgrund eines Bewusstseinsverlustes zu schweren gesundheitlichen Folgeschäden (Niereninsuffizienz, Blindheit und potentiell lebensgefährlichen Stoffwechsellagen) führen können.”
Geklagt hatte ein Typ-1-Diabetiker, der Unterzuckerungen unzureichend wahrnimmt und bereits eine Folgeerkankung hat (Retinopathie, sprich Netzhauterkrankung). In der Vergangenheit kam es daher zu mehreren schweren Unterzuckerungen und Notarzteinsätzen, was durch häufige Blutzuckerselbstkontrollen nicht verhindert werden konnte; auch Schulungen und Unterzuckerungswahrnehmungstraining brachten keinen Erfolg.
Die beklagte Krankenkasse vertrat die Auffassung, dass man zuerst weitere Schulungen oder Hypoglykämiewahrnehmungstrainings versuchen solle, meist könnten solche Unterzuckerungen auch durch eine Therapieumstellung verhindert werden.
Damit nicht genug: “… eine strikte Vermeidung von Hypoglykämien, u. a. durch eine vorübergehende Erhöhung des Blutzuckerzielwertes, ist die beste Maßnahme zur Behandlung einer gestörten Hypoglykämiegegenregulation und -wahrnehmung. Hierfür müssen vorübergehend erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf genommen werden …”.
Im Klartext: Der Patient soll doch einfach höhere Blutzuckerwerte und damit auch mögliche Folgeschäden akzeptieren, denn dann käme es ja nicht mehr zu Hypoglykämien und die Wahrnehmungsfähigkeit würde auch wieder besser. Auch hier hat das Sozialgericht erfreulicherweise eine klare Antwort gefunden:
Dieser Vorschlag widerspreche “in eklatanter Weise der Verpflichtung der Beklagten gemäß §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, eine Krankheit bzw. deren Verschlimmerung zu verhüten. […] Sowohl aus sozialmedizinischer als auch aus allgemeinärztlicher Sicht ist es nicht nachvollziehbar, erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf zu nehmen mit der Konsequenz der früher einsetzenden Blindheit des Klägers, bei jetzt schon diabetisch vorgeschädigten Augen.”
Das beantragte CGM sei allein deswegen schon erforderlich, um die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB V zu erfüllen, nämlich “… um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern”. Erfreulicherweise ging das Gericht aber noch weiter und setzte sich intensiv mit meiner ausführlichen Klagebegründung auseinander.
Ich hatte nämlich u. a. vorgetragen, dass das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung zu CGM deren häufigen Einsatzzweck als reines Alarmsystem gar nicht berücksichtigt hat. Auch in dem vom G-BA durchgeführten Methodenbewertungsverfahren hatte die Alarmfunktion kaum eine Rolle gespielt. Das Gericht schloss sich meinen Argumenten an und stellte ausdrücklich fest:
“Darüber hinaus ist die Versorgung mit dem streitgegenständlichen CGMS medizinisch erforderlich, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. SGB V) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alt.). […] Solche Behinderungen sind hier die Hypoglykämiewahrnehmungsstörung des Klägers und der Bewusstseinsverlust, zu dem Hypoglykämien führen. Dieser Bewusstseinsverlust ist […] mit der Behinderung durch Epilepsie vergleichbar. Auch hier kommt es zu Bewusstseinsverlusten, die zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf der Straße auftreten können und entsprechende soziale Folgen nach sich ziehen.
Die mit dem CGMS verbundene Alarmfunktion warnt den Kläger akustisch vor bestehenden Unterzuckerungs- und Überzuckerungssituationen und beugt somit einer drohenden Behinderung, nämlich dem durch eine schwere Unterzuckerung eintretenden Bewusstseinsverlust und den damit verbundenen direkten und unmittelbaren Folgen, die für den Kläger lebensbedrohlich sein können, vor. Darüber hinaus gleicht es die Behinderung “Hypoglykämiewahrnehmungsstörung” aus.
Das streitgegenständliche CGMS ist auch insoweit medizinisch erforderlich, weil es […] keine geeignete und gleichermaßen wirksame Alternative gibt. Zutreffend führt Prof. Dr. […] aus, dass es andere Möglichkeiten zur Alarmierung/Früherkennung/ Verhinderung von (schweren) Hypoglykämien als das CGM nicht gibt. Selbst durch eine noch so hohe Messfrequenz mit konventioneller Blutzuckermessung kann eine Absicherung während der Nacht nicht erfolgen. Auch beeinträchtigen die genannten Behinderungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.”
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; es bleibt abzuwarten, ob die Krankenkasse in Berufung geht und dann das Landessozialgericht erneut entscheiden muss. In jedem Fall dürfte die deutliche Urteilsbegründung auch anderen Patienten helfen, die sich aktuell bei der Kostenübernahme eines CGM noch schwertun.
von Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart oder
Friedrichstraße 49, 72336 Balingen
E-Mail: Sekretariat@rek.de
Internet: www.diabetes-und-recht.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (5) Seite 52-55
5 Minuten
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