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Viele Menschen mit Diabetes haben in ihrem Leben schon Momente erlebt, in denen sie sich aufgrund ihrer Erkrankung von Familienangehörigen, Freunden, Ärzten, Fremden, den Medien oder manchmal auch von Institutionen wie Behörden oder Versicherungen benachteiligt fühlten. Manchmal sind es eher harmlose Vorkommnisse, die man schnell vergisst und die keine Spuren hinterlassen. Manchmal aber prägen sie sich tief ein und führen dazu, dass man sich schlecht fühlt. Es ist ein Thema, über das man nicht gern spricht. Auch hier im Diabetes-Journal haben wir noch nicht oft darüber geschrieben – Zeit also, das zu ändern.
Fangen wir damit an, wie Diabetes in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Glücklicherweise gibt es dazu eine ganze Reihe von Studien, die alle zu einem relativ eindeutigen Ergebnis kommen: Diabetes hat kein gutes Image, denn das Bild der Krankheit in der Öffentlichkeit ist mit vielen eher negativen Stereotypen verbunden.
Häufig werden Menschen mit Typ-2-Diabetes selbst für ihre Erkrankung verantwortlich gemacht, da diese vermeintlich nur die Folge eines ungesunden Lebensstils und von Übergewicht sei. Aufgrund des vermuteten Mangels an Bewegung wird Typ-2-Diabetes daher mit negativen Attributen wie "träge" oder "faul" assoziiert, wegen des Übergewichts mit "willens- und entscheidungsschwach" und eher "inkonsequent". Dies hat auch viel mit dem Wissensstand der Bevölkerung zu tun: Viele Menschen wissen nicht, dass eine Kombination verschiedener Faktoren für Typ-2-Diabetes verantwortlich ist. In einer Umfrage des Robert Koch-Instituts glaubte fast jeder dritte Bundesbürger, dass Typ-2-Diabetes nur die Folge eines ungesunden Lebensstils sei.
Dass dem nicht so ist, weiß auch der KI-Chatbot ChatGPT-4, der mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) sofort die richtige Antwort gibt:
Leider beziehen sich diese Vorurteile nicht nur auf die Ursachen des Typ-2-Diabetes, sondern werden nach dem Motto "selbst schuld, das ist die Quittung für einen ungesunden Lebensstil und ein unzureichendes Umsetzen der Therapie" auch auf die Entwicklung von Folgeerkrankungen übertragen. Menschen mit Diabetes machen so die Erfahrung, dass sie von Teilen der Bevölkerung für ihre Erkrankung und deren Folgen verantwortlich gemacht werden.
“Während Menschen mit Typ-1-Diabetes in den sozialen Medien gut vernetzt sind und mit Bloggerinnen und Bloggern sowie Influencerinnen und Influencern eine große Sichtbarkeit haben, ist es um die Menschen mit Typ-2-Diabetes in den sozialen Medien eher ruhig. Zu groß ist bei vielen die Scham vor Schuldzuweisung und Stigmatisierung. Das Vorurteil, man sei selbst schuld an der Erkrankung, hält sich hartnäckig.
Viele fühlen sich daher von der Politik mit ihren Bedarfen und Bedürfnissen im Stich gelassen, schreibt die Initiative auf ihrer Website www.diabetes-stimme.de.
Als derzeitiger Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) habe ich, Prof. Fritsche, mir in meiner zweijährigen Amtszeit zum Ziel gesetzt, die Diskriminierung von Menschen wegen Diabetes abzubauen. In einem Vortrag beim letzten Kongress der DDG hatte ich ein Bild gezeigt, das ich mit ChatGPT und dem Bildgenerator Midjourney mit dem Auftrag "Erstelle ein Bild eines typischen Menschen mit Typ-2-Diabetes" erstellt habe. Die künstliche Intelligenz, die übrigens laut einer aktuellen Umfrage jeder dritte Erwachsene in Deutschland schon einmal genutzt hat, greift auf alle ihr verfügbaren Quellen zurück und zeichnet so ein recht realistisches Bild der Einstellung der Bevölkerung zum Typ-2-Diabetes.
Typisch Typ-2-Diabetes? Ein solches Bild kommt heraus, wenn man KI bittet, ein Bild eines Menschen mit Typ-2-Diabetes zu erstellen.
Das Bild spricht Bände: Es zeigt einen relativ unattraktiven, mürrisch dreinblickenden, eher unsportlichen Mann mit deutlichem Übergewicht. Die Tapete im Hintergrund und auch seine Kleidung sind altmodisch. Dieses Foto hätte es hoffentlich nicht auf die Titelseite einer Zeitschrift oder eines Magazins – auch nicht des Diabetes-Journals – geschafft, da es keine positive Ausstrahlung hat. Die Lebensfreude, die Süße des Lebens ist diesem Menschen buchstäblich abhandengekommen. Dieses Bild muss in der Öffentlichkeit korrigiert werden.
Während der Typ-2-Diabetes häufig als "die leichte oder milde Form des Diabetes, als eine Art Alterserscheinung" bezeichnet wird – mit der Überlegung,
In einem Forum schrieb eine junge Frau dazu:
Fragt man Kinder und Jugendliche, was sie an ihrem Diabetes nervt, nennen sie immer wieder falsches Mitleid, eine Sonderrolle aufgrund des Diabetes oder ganz konkrete Ausgrenzungen, wenn sie wegen der Gefahr von Unterzuckerungen nicht zu Geburtstagsfeiern eingeladen werden oder nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen dürfen. Ältere Menschen mit Typ-1-Diabetes beklagen nicht selten, dass ihnen aufgrund ihrer vermeintlich schweren Erkrankung im Beruf oder in anderen Lebensbereichen nicht die gleiche Leistungsfähigkeit zugetraut wird wie Menschen ohne Diabetes.
Menschen mit Typ-1-Diabetessind todkrank … Das denkt zumindest KI, wenn sie ein entsprechendes Bild erstellen soll.
Das Bild der "schweren Erkrankung" spiegelt sich auch in einem anderen Bild wider, das ich ebenfalls für den Vortrag beim Diabetes Kongress von ChatGPT/Midjourney anforderte. Als ich die KI bat, "erstelle ein Bild eines typischen Menschen mit Typ-1-Diabetes im Krankenhaus", bot mir ChatGPT das Bild eines Menschen auf einer Intensivstation an, der schwer erkrankt ist und sinnbildlich um sein Leben ringt. Der Blick ist ernst und sorgenvoll, auch dieser Protagonist lässt jegliche Lebensfreude und Leichtigkeit vermissen. Das zeigt: Nein, ChatGPT sagt nicht die Wahrheit, sondern zeigt, welche Vorurteile gegenüber Menschen mit Diabetes bestehen. Im Fachjargon nennt man dies "öffentliche Stigmatisierung".
Unwissenheit und falsches Wissen sind der Nährboden für Vorurteile. Hier gibt es bei der Aufklärung über Diabetes noch viel Nachholbedarf. In einer Medien-Analyse von Zeitschriften und Online-Angeboten kam die Erfurter Wissenschaftlerin Dr. Doreen Reifegerste zu dem Ergebnis, dass in den Medien vergleichsweise selten über Diabetes berichtet wird – zum Beispiel nur halb so oft wie über Depressionen.
Wenn berichtet wird, geschieht dies oft falsch und ohne ausreichende Differenzierung zwischen den verschiedenen Diabetes-Typen. Das ärgert zum Beispiel Menschen mit Typ-1-Diabetes, die oft mit Aussagen wie
Besonders groß ist die Unkenntnis über Typ-1-Diabetes: Nur 26,9 Prozent wussten, dass Typ-1-Diabetes nicht mit der Pubertät verschwindet, und nur 17,2 Prozent, dass Typ-1-Diabetes nicht mit Tabletten behandelt werden kann. Manchmal hilft es also, sich nicht über die Unwissenheit anderer zu ärgern und böse zu sein, sondern im Gespräch über Diabetes und die Therapie aufzuklären.
Auch Kampagnen zur Gesundheitsförderung oder Aufklärung über Diabetes sind nicht davor gefeit, selbst zur Diskriminierung beizutragen. Sicher gut gemeint und mit einem absolut zu unterstützenden Ziel wurde die Kampagne "SCHE1SSTYP" und "Eine Welt ohne Typ-1-Diabetes" von den Initiatoren der Früherkennungs-Initiative für Typ-1-Diabetes ins Leben gerufen. Plakate in ganz Deutschland warben für mehr Anstrengungen zum Verbessern der Früherkennung und Therapie des Typ-1-Diabetes.
Die Kampagne SCHE1SSTYP sollte auf Typ-1-Diabetes aufmerksam machen, erntete aber wegen des Begriffs viel Kritik.
Ganz sicher hat niemand etwas dagegen, wenn Typ-1-Diabetes geheilt werden kann. Die Reaktion von Menschen mit Typ-1-Diabetes, die jetzt und heute mit der Krankheit leben, war jedoch eher negativ. Denn die gewählten Begriffe fördern nicht gerade das Image des Typ-1-Diabetes in der Öffentlichkeit. Betroffene wiesen zu Recht darauf hin, dass sie sich durch diese Aussagen nicht angesprochen, sondern eher diskriminiert fühlten. Löblicherweise wurde die Kampagne nach diversen Protesten schnell eingestellt.
In einer der letzten Ausgaben des Diabetes-Journals haben wir darüber berichtet, dass sich in den letzten Jahren das Verständnis verändert hat, wie die Beziehung und die Verantwortung für diagnostische und therapeutische Entscheidungen zwischen Ärztinnen und Ärzten, medizinischen Betreuerinnen und Betreuern sowie Menschen mit Diabetes aussieht. Heute wird zunehmend gefordert, dass Entscheidungen partnerschaftlich und gemeinsam getroffen werden.
In Studien berichten Menschen mit Diabetes jedoch immer wieder, dass sie sich von Ärztinnen und Ärzten für ein nicht optimales Diabetes-Management verantwortlich gemacht und verurteilt fühlen.
Viele Beschwerden gibt es auch, wenn Menschen mit Diabetes wegen einer anderen Erkrankung als Diabetes im Krankenhaus sind und sich dort bevormundet fühlen sowie kein Mitspracherecht haben, obwohl die Therapie des Krankenhaus-Personals nachweislich nicht funktioniert. Dann können Sätze fallen wie "Ihren Diabetes steuern jetzt wir, wir wissen schon, wie das geht" und "Wir haben Ihre Therapie umgestellt, Ihre alte war viel zu kompliziert".
Die Kampagne will eine Kultur des Mitgefühls schaffen und gibt konkrete Anregungen, was man gegen Stigmatisierung machen kann. Zudem kommen viele Menschen mit Diabetes zu Wort, die über ihre persönlichen Erfahrungen berichten.
Zu Familie und Verwandtschaft pflegt man in der Regel ein eher inniges Verhältnis. Dadurch werden Vorurteile und abwertende Kommentare von nahen Verwandten, von Partnerin oder Partner als besonders verletzend erlebt. In Foren finden sich zahlreiche Beispiele von Menschen, die sich durch Aussagen ihrer Eltern, anderer Angehöriger oder der Partnerin oder des Partners abgewertet und gekränkt fühlen.
Es kommt auch vor, dass Menschen mit Diabetes auf dem Arbeitsmarkt ungerechtfertigt ungleich behandelt werden. Hier wirkt das Vorurteil, dass die Erkrankung Diabetes zu einer verminderten Leistungsfähigkeit führt, was in der Regel nicht zutrifft. Auch der Schwerbehindertenausweis, der mehr Urlaub und keine Mehrarbeit zur Folge hat, kann zu Unmut bei den Kolleginnen und Kollegen führen, denn sie könnten dies als ungerechtfertigte Bevorzugung empfinden. Oft nicht greifbar sind Entscheidungen, wer befördert oder in Führungspositionen berufen wird.
Auch hier finden sich in den Foren genügend Beispiele, dass einzelne Beschäftigte mit Diabetes als weniger belastbar eingeschätzt werden und im Hinblick auf mögliche krankheitsbedingte Fehlzeiten nicht den Vorzug vor anderen Bewerbern erhalten:
Die Erfahrungen, die Menschen mit Diabetes und einer Insulintherapie machen, wenn sie in der Öffentlichkeit spritzen, ihren Blutzucker messen, das CGM-System Alarm schlägt oder die Insulinpumpe piept, sind sehr unterschiedlich. Das Spektrum möglicher negativer Reaktionen reicht von dem Verdacht, Drogen zu spritzen, über Gefühle von Ekel, Abscheu oder Verärgerung bis hin zu dem Hinweis, dass man dies doch bitte diskret und nicht in der Öffentlichkeit tun solle.
Besonders häufig berichten Menschen mit Diabetes in Foren von solchen negativen Reaktionen anderer. Auch die Alternative, auf oft unhygienischen Toiletten zu spritzen oder den Alarm des Sensors auf lautlos zu stellen, empfinden viele Betroffene als Zumutung und diskriminierend.
Sowohl Menschen mit Typ-1- als auch mit Typ-2-Diabetes ärgern sich oft auch über das Halbwissen anderer, die mit den modernen Ernährungs-Empfehlungen nicht so vertraut zu sein scheinen. Wegen des Begriffs "Zuckerkrankheit", den auch heute noch viele Menschen verwenden, glauben sie, dass Menschen mit Diabetes keinen Zucker und keine Süßigkeiten essen dürfen, auf Alkohol verzichten oder möglichst viele Diätprodukte mit dem Zusatz "für Diabetiker geeignet" essen sollten.
Julia (Typ-1-Diabetes) bringt es auf den Punkt:
Beim Thema Versicherungen schwillt so manchem Menschen mit Diabetes der Kamm, denn oft ist es gar nicht so einfach, eine passende Versicherung abzuschließen, und wenn, dann oft nur mit saftigen Risiko-Zuschlägen. Vor allem eine Berufsunfähigkeits-Versicherung oder eine Lebensversicherung ist schwer oder nur zu unattraktiven Konditionen zu bekommen. Dies wird oft auch als ungerecht empfunden, da beides Versicherungen sind, die sehr empfehlenswert sind, um eine Familie für den Fall der Fälle abzusichern.
Da es keine gesetzliche Verpflichtung für die Versicherungs-Unternehmen gibt, einen Vertrag anzubieten oder abzuschließen, kann es durchaus vorkommen, dass dasselbe Unternehmen zu ganz unterschiedlichen Konditionen Verträge abschließt oder ablehnt. Wenn aufgrund der Beitragshöhe oder des Gesundheitszustands kein Versicherungsschutz besteht, kann dies für eine Familie eine Belastung darstellen.
Vielen Menschen ist allein der Gedanke an eine mögliche Unterzuckerung in der Öffentlichkeit unangenehm und sie halten daher aus Angst davor ihren Glukosewert absichtlich höher. Wenn die Angst vor negativen Reaktionen anderer dazu führt, dass wichtige Behandlungs-Maßnahmen unterlassen werden, führt dies zu einem selbstschädigenden Verhalten. Wie gelassen eine Person mit dem Risiko einer Unterzuckerung umgeht, hängt auch davon ab, wie andere Menschen auf Unterzuckerungen reagiert haben.
Zum Beispiel:
Stigmatisierung kann sich im Umgang mit anderen Menschen äußern, zum Beispiel durch Ausgrenzung, Ablehnung oder subtile Zurückweisung, durch abfällige Äußerungen oder ungerechte Behandlung in bestimmten Situationen. Nicht selten übernehmen Betroffene die Vorstellungen und Vorurteile anderer und entwickeln Schuldgefühle:
Oder sie verleugnen sich selbst, um anerkannt zu werden. Möglicherweise vernachlässigen sie ihre Therapie, damit andere nicht merken, dass sie Diabetes haben:
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