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Community-Beitrag
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Hallo Leute,

heute möchte ich über ein Thema sprechen, das mich seit Monaten beschäftigt. Menschen, denen ich davon berichtet habe, worüber ich als Nächstes schreibe, haben mich staunend angeschaut, dass es doch ein sehr schwieriges Thema sei. Das finde ich nicht. Und natürlich kann ich auch dieses Thema nicht ganz unabhängig von meinem Diabetes betrachten. Ich schreibe heute über das „Fremdsein“. Der Anstoß zu diesem Thema ist sehr naheliegend in der aktuellen Berichterstattung zu der Flüchtlingswelle aus Afrika zu finden.

fremd_sein_1

Diabetes oder sich zum ersten Mal „fremd“ fühlen

Ich kann mich an die Zeit erinnern, als ich und mein Diabetes in die Schule kamen. Ich war anders, wurde als Sonderling wahrgenommen. Ich durfte damals keinen Schulsport mitmachen. Dies lang vor allem an der Einstellung. Zu dieser Zeit wurde der Diabetes noch nicht mit einer intensivierten Einstellung behandelt. Am Morgen spritzte ich das gesamte Basal- und Bolusinsulin in einer Spritze, das für den ganzen Tag benötigt wurde. Diese Dosis langte dann für das Frühstück, zwei Zwischenmahlzeiten, auch liebevoll kleine Frühstücke genannt, das Mittagessen und eine Mahlzeit am Nachmittag. Bei so viel Insulin im Körper hat die kleinste sportliche Bewegung bei mir schon ausgereicht, um eine ordentliche Hypoglykämie hervorzurufen. Umgekehrt mussten die Essenszeit und die Essensmenge auch recht genau eingehalten werden, um besagte Hypo zu vermeiden. Dies hat so weit geführt, dass ich weder Schulsport noch Schulfeiern oder Ausflüge mitgemacht habe. Ich war mehrmals im diabetischen Koma auch in der Schule, so dass diese Regel unumstößlich zu sein schien. Dies hat mich von der Klasse und meinen Klassenkameraden entfremdet. Dieses Gefühl, Teil einer Klasse zu sein, aber doch nicht dazuzugehören, hatte ich sehr lange. Es ging erst in der Oberstufe, irgendwann im 11. oder 12. Schuljahr, verloren. In einer Zeit, als Kinga Howorka (1) am Horizont auftauchte. Mein Idol für eine neue intensivierte Form der Diabetes-Einstellung! An dieses Gefühl des Fremdseins kann ich mich gut erinnern. Es hat mich damals sehr belastet. Es war nicht so, dass ich Vorurteilen oder einer Ablehnung durch meine Klasse ausgesetzt gewesen wäre, es war einfach das Wissen um das Anderssein, um die Einschränkungen, nicht bei allem mitmachen zu können.

This land is your land, this land is my land (2) – Fremdsein auf Amerikanisch

Ich überwand das Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens, vor allem durch Sport. Einige Jahre und einige Marathons später war ich unbesiegbar. Mein Diabetes spielte keine Rolle mehr in meinem Bewusstsein. Ich ging in die Vereinigten Staaten zum Arbeiten. Meine fast erste Stelle. Ich landete in Santa Clara, Ca. Santa Clara ist eine von vielen Ansammlungen an Hightech-Unternehmen westlich der Hauptstadt San Jose im Silicon Valley. Im Gegensatz zu meinem sehr melodisch geprägten Schulenglisch sprechen Amerikaner nur in einer Tonlage. Betonungen werden durch Dehnen der Sprache erzeugt und nicht wie bei den Engländern, die die Tonhöhe variieren. Es fiel mir leicht, dies aufzunehmen. Ich stellte aber etwas ganz anderes, sehr Erstaunliches fest. Die Menschen dort fühlten sich nicht fremd, wenn sie anders waren. Nein, sie waren stolz darauf, so zu sein, wie sie waren. Für mich ein ganz neuer Aspekt, den ich auch nur dort wahrnahm. Mein Chef und Firmengründer war stolz, russischer Abstammung zu sein. Er sprach das Amerikanisch sehr unverständlich mit starkem russischem Akzent, so dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, er mache dies absichtlich. Ganz nebenbei sprach er perfekt deutsch.

fremd_sein_2

Ich fühlte mich nicht fremd und mein Diabetes? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er eine prägende Rolle innehatte oder überhaupt einen Mucks getan hat. Er schien k.o. in der Ecke zu liegen. Nach drei Jahren wurde das kleine Start-up-Unternehmen, in dem ich arbeitete, verkauft und wir machten alle ein wenig Geld bis auf einen, meinen Chef. Der verdiente daran ganz viel Geld.

Heimat und ihre Bedeutung

Doch zurück nach Deutschland. Ich ließ mich in der Gegend, aus der ich kam, auch wieder nieder. Ich stamme nicht wirklich aus dem Rhein-Main-Gebiet. In den Familien meiner Eltern sind nicht nur hessische Einflüsse, sondern auch benachbarte europäische und Flüchtlingseinflüsse des Zweiten Weltkriegs zu finden. Die Menschen hier in der Gegend sind sehr offen und nett. Ich habe mich hier nie fremd gefühlt. Ein anderes, sehr wichtiges Gefühl, das der Heimat, hatte ich lange Zeit von dem Rhein-Main-Gebiet allerdings nicht. Es kam erst vor ein paar Jahren.

Zu dem Fremdsein gehört unbedingt auch das Gefühl der Heimat. Ich finde es beachtenswert, dass so viel über Fremdsein zurzeit diskutiert wird, ohne dass der Begriff der Heimat auch nur ansatzweise fällt. Zur Heimat wurde das Rhein-Main-Gebiet erst durch den Tod von Familienangehörigen. Dadurch, dass Familienangehörige hier im Rhein-Main-Gebiet begraben sind, kann ich den in meinem ganzen bisherigen Leben von mir vermissten Begriff der Heimat für mich klären. Seitdem fühle ich mich mit der Gegend hier verbunden.

Denk ich an Europa in der Nacht (3)

Das Gefühl des Fremdseins ist zermürbend. Man kann es nicht einfach ablegen und es ist ein langer Weg, um eine neue Umgebung in einem neuen Land mit einer neuen Kultur als Heimat anzunehmen. Ich verstehe nicht, dass über Flüchtlinge diskutiert wird, ohne über die Heimat dieser Menschen zu reden. Was veranlasst Menschen, dieses unersetzbare Gefühl der Heimat hinter sich zu lassen und aufzubrechen, um unter lebensbedrohlichen Umständen eine neue Heimat zu finden? Wie kam es dort dazu? Was ist passiert und was kann getan werden, damit die Menschen ihre Heimat nicht aufgeben müssen? Warum hat Europa keine Antworten auf diese Fragen? Warum ist die Situation so eskaliert? Warum setzt sich keiner damit auseinander? Es verlieren unzählige Menschen ihr Leben und ihre Heimat und es werden lediglich Grenzsicherungsmechanismen und neue Quoten zur Aufteilung diskutiert. Ich finde dies traurig und auch beschämend, wie Europa hier agiert.

Die offene Welt

Ich möchte noch einen letzten Aspekt erwähnen. Ich habe im Ausland gearbeitet. Globalisierung war und ist für mich aufregend. Ich habe immer die Chance, auch für mich, gesehen, etwas Neues zu entdecken. Ich freue mich über Menschen aus anderen Kulturen mit erstaunlichen Biografien und empfinde sie als Bereicherung.

Es gibt immer zwei Seiten, die andere Seite

Aber ich denke, ich kann in dieser Frage nicht nur von mir ausgehen, möchte nicht andersdenkenden Menschen mit Vorurteilen begegnen, die diese Chance und Bereicherung nicht sehen können. Auch diese Menschen haben Angst um ihre Heimat. Angst um das Fremdwerden in ihrer eigenen Heimat. Ein Gefühl, das ich zwar nicht kenne, aber das Ängste erzeugt, die man wirklich ernst nehmen muss. Sonst sitzen wir alle auf einem Pulverfass.

I had a dream (4)

Ich wünsche mir so sehr einen gesellschaftlichen Konsens und die Freude, den Stolz und das Engagement aller, helfen zu können, helfen bei der Aufnahme der Flüchtlinge, und helfen zu können bei einem weltweiten Interesse, es diesen Menschen auf der Flucht zu ermöglichen, in ihrer Heimat leben zu können.

Ciao

Euer Thomas

 

(1) Kinga Howorka 

(2) Aus dem Lied This land is your land von Woody Guthrie

(3) In Anlehnung an Zeitgedichte, 1844 Heinrich Heine

(4) Worte von Martin Luther King, 28.08.1963

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 1 Tag

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

    Uploaded Image
    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 2 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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